Gantry 5
  1. Der Kampf war nicht leicht; das lange Wegsein in Wäldern  und Sümpfen erzeugte viel Frust. Zudem hatte die Führung die Kämpfer nicht auf das Nachher vorbereitet. So ist es begreiflich, dass die Kämpfer nun Früchte sehen wollten. Sie hatten einen schönen Teil ihres Lebens hingegeben, jetzt wollten sie etwas dafür zurück.
     
  2. Sie kehrten zur Belohnung und nicht in die Wirklichkeit zurück.
     
  3. Sie kehrten zu einer „Grossfamilie“ zurück und vergassen den Staat.


     
  4. Sie kehrten in ihrem dressierten Habitus des Misstrauens und der Distanziertheit zurück; sie kamen gar nicht mehr ans Volk heran. Sie hatten sich viel zu weit auseinandergelebt. Eine Heimkehr geschah nicht; Wurzeln hatten sie längst anderswo geschlagen. Die meisten angenommenen Wurzeln waren Luftwurzeln; sie wurden zu hors-sol Produkten.


     
  5. Sie kehrten zum kollektiven Mitleid zurück; dies war es, was jede Post-Befreiungspartei zusammenhielt.


     
  6. Ohne dass sie es realisiert hatten, hatten sie nicht um Freiheit, sondern um einen Anteil gekämpft. Sie waren Shareholders geworden und wollten nun wie bei einer Aktie ihren Gewinn ausbezahlt erhalten.


     
  7. Führer und Kämpfer waren inzwischen längst eine Sonder-Bruderschaft oder ein neuer Clan geworden: sodass die Führer mehr ihre Kumpels oder Mitstreiter als das Volk sahen und diesen sukzessive immer mehr zuschacherten.


     
  8. Die Ex-Guerillakämpfer wollten im befreiten Alltag das fortführen, was sie im Busch zu tun pflegten: 100% Gehorsam, totale Unterwerfung, keine Zweifel und keine Mitbestimmung; Befehle des Führers sollen ohne Widerrede oder Hinterfragen angenommen und ausgeführt werden.
     
  9. Mit den Guerillakämpfern von einst macht man keine Demokratie von heute.


     
  10. Sie schafften es, dass die ehemalige Befreiungsfront nun zur Einheitspartei wurde; sie führten also den einstigen Kampf im Kopf weiter. Die Idee der Befreiung ist längst untergegangen; das Virus der Macht hat sie vergiftet und korrumpiert. Aus Befreiern wurden Wucherer, Erpresser und absolutistische Autokraten.
     
  11. Regierungen, die aus Freiheitsbewegungen hervorgingen, tendieren auf eine hundert- prozentige oder absolute Mehrheit hin, daher meinen sie, wie einst im Wald und Busch, alle müssten sich nun der „befreiten Front“ ohne Fragen auf unterwürfigste Weise anschliessen. Sie haben bis heute nie einen Umgang mit Kritik erlernt und praktizieren gelernt. So glauben sie, dass sie selbst niemals im Unrecht sein könnten.
     
  12. Man muss sich bewusst sein, dass Freiheitskämpfer primär nicht an Demokratie oder Menschenrechte dachten. Sie kannten – wie im Militär üblich - den Dialog nicht.
     
  13. Deshalb haben sie kein Verständnis für Opposition. Wobei das Gegenteil genauso wahr ist: es gibt aber auch keine echten Oppositionellen, nur Personen als Gegenspieler, ebenfalls ohne politisches Konzept; es sind meist Neider, die mit ihrem Schutzclan auch etwas vom Kuchen haben möchten.


     
  14. In all diesen befreiten Ländern gibt es noch weniger ein Verständnis für Minderheiten. Gleichmacherei wird mit Polizei erprügelt. Alles, was nicht in den Kram passt, wird wie Ungeziefer verscheucht oder gar ausgerottet (z.B. Khoisan sind in Südafrikas Verfassung nicht einmal erwähnt).
     
  15. Presse und vor allem TV werden kontrolliert und zensuriert. Für manches, wie das Betreten bestimmter Gelände oder Fotografieren, muss mehrfach Erlaubnis eingeholt werden.
     
  16. Man fährt zu Konferenzen, schwafelt ein wenig, trinkt, tafelt und kehrt mit vieldeutigen oder nichtssagenden Communiques heim. Man verspricht, aber führt niemals etwas aus. Kein Führer wird im Kreis kritisiert, denn man sitzt im gleichen Scheinpalast.
     
  17. Alles in allem: alle Befreiungsbewegungen sind nicht demokratisch, denken und handeln autoritär und fundamentalistisch, gebaren sich militaristisch und materialistisch im höchsten Ausmass. Waffen statt Entwicklung: Man traut bloss noch Waffen und Geld für den eigenen Prunk. Das Volk bleibt eine Hypostase; es ist ein Volk, das eine „verdammte Masse“ ist. Da zählt der Einzelne nicht, daher kann bei einer Wahl gleich zu Beginn die 97 Prozent-Fiktion angesetzt werden. Alle Andersdenkenden, Oppositionellen oder Minderheiten werden verdrängt oder ausgeschlossen. Ihr Volksbegriff steht jeglicher Demokratisierung im Weg. Man ist - wie der westafrikanische Philosoph Kä Mana herausgearbeitet hat – in einer mythologischen Welt oder in Mythen statt Fakten stehen geblieben oder darauf zurückgeworfen worden.





 

Schluss

  1. Auch JP Sartre hat sich getäuscht, wenn man heute sein revolutionäres Vorwort zu Fanon liest. Aus dem Befreiungskampf wurde kein „Ringen um eine neue Menschlichkeit“. Er war auch nicht ein „Striptease unseres Humanismus“. Nachdenklich wird man über Sartre’s Verherrlichung der Gewalt, denn Gewalt tilgt keine Schuld; Gewalt befreit nicht; wer Gewalt ausübt, kommt nie mehr darüber hinweg, er selbst kommt darin um. Wir können heute Erfahrungen aus dem Palästina -, aber auch aus dem Vietnam- und Irak-Krieg unter die Lupe nehmen. Menschen, die in und während eines Befreiungskrieges keine Rücksicht auf Frauen und Kinder nehmen, werden später im Alltag nie mehr normale Menschen sein. Gewalt frisst sich – wie die Griechen sagten – im Zwerchfell ein und bleibt ein Krebsgeschwür.
     
  2. Man muss heute sogar provokativ sagen, dass gerade der Kampf die Kämpfer kaputt gemacht hat und dass daraus gar keine Befreiung erstehen konnte. Deshalb hat die Dekolonisation bis heute keine „neuen Menschen“ geschaffen. Gewalt hat auch nicht geholfen, „Wunden vernarben zu lassen“. Jede Gewalt ist Selbstbetrug.
     
  3. So wurde also der Befreiungskampf nicht nur zum „Striptease unseres Humanismus“, sondern auch zum Striptease des selbstzerstörerischen Freiheitskampfes. Freiheit muss anders erreicht werden, eben mit langwierigen und langweiligen, mühsamen und nervenden Mitteln der Demokratie. Und das heisst eben Gespräch und Verhandlung, Streik und Zeichensetzungen – wie Gandhi mit seinem Salzmarsch. Die meisten Menschen glauben es einfach nicht – auch wir nicht: Waffen schaffen keine Gerechtigkeit und niemals Frieden.


     
  4. Vielleicht besitzt die Geschichte doch zwei grandiose, vorbildliche Gestalten aus dieser Zeit der Entkolonisation in Afrika; ich meine Julius Nyerere und Nelson Mandela. Beide hatten den Mut, beide konnten verzeihen, grosszügig werden, konnten zurück- und abtreten. Bei Nyerere war es high time: wie er später bekannte, hatte doch die Einheitspartei längst begonnen, ihn einzunebeln und total zu vereinnahmen.
     
  5. Zwei wichtige Werte für die Zeit nach der Unabhängigkeit hatten sie sich nie überlegt, nämlich Verhältnis zwischen Schwarz und Weiss, also denen, die am Kampf direkt nicht teilgenommen hatten. Zweitens wie man nun weitergeht? Mit Verzeihen und/oder Vergessen? Beide Haltungen galten als unakzeptabel. Was aber bedeutete denn eine Aufarbeitung? Unter Bischof Tutu fand in Südafrika eine Versöhnungskonferenz statt, die westliche Menschen nicht befriedigen konnte. Hätte man etwa nichts tun sollen, weil es keine Modelle gab? Die anderen Länder (besonders Zimbabwe) wichen aus, wollen keine Geschichte im Rücken haben, bloss Mythen; man täuscht sich etwas vor, und glaubt insgeheim noch immer, alles von vorne beginnen zu können.
     
  6. Hellhörig sollte uns machen, dass Musiker und Sänger, Dichter und Schriftsteller seit 1956 mehr zur Befreiung als die Buschkämpfer beigetragen haben. Doch genau das wollten diese Befreiungshaudegen auf keinen Fall wahr haben, weil sie an Krieg und Gewalt glaubten. Überrascht ist man immer wieder, wie wenig Kirchen beigetragen haben. Oder übersehen wir etwas? Warum fand genau zu dieser Zeit die Zersplitterung des afrikanischen Protestantismus statt? Wir Westlichen übersehen die 10'000 IAC, die unabhängigen afrikanischen Kirchen. Waren etwa sie das gewaltlose Element afrikanischer  Prägung? Sind sie das konfuse Element, um etwas herum, das man gar nicht klar sehen oder so haben will?
     
  7. JP Sartre schrieb auch das Vorwort zur afrikanischen Gedichtanthologie Schwarzer Orpheus. In diesen Gedichten hätte er eine andere Seite des menschlichen und auch afrikanischen Menschen  als die Macht der Gewalt erkennen können. Vielleicht sah er aber beide als die zwei Pole afrikanischer Humanität. Vielleicht. Hätte er die Gestalt Leopold S. Senghors mit seinen Gedichten näher betrachtet, hat er sich doch fragen müssen, ob der Weg des Gedichts nicht kraftvoller und gar wirksamer als die Karre der Gewalt einiger zorniger Afrikaner gewesen  wäre. Im Nachhinein frage ich, ob  die Fortsetzung der Négritude nicht mehr als alle afrikanischen Befreiungskämpfer erreicht hätte. Dennoch haben sie und wir in Europa über Senghor gelächelt. Und selbst der Nobelpreisträger Wole Soyinka setzte der Négritude etwas zynisch die Tigritude entgegen. Hat er geahnt, dass zwischen Schwarzer Orpheus und Tiger noch andere Welten existieren. Der afrikanische Befreiungskampf verlief viel zu einseitig. Er eröffnete keine Spuren in eine andere Welt. Die Entkolonisierung hat weltweit noch kaum begonnen. Die Afrikaner sind Teil dieser Welt und eine Ausnahme können und wollen sie nicht sein. Das Schwerste im Leben und der Geschichte sind die Übergänge. Man sollte etwas hinter sich lassen und kann es nicht; man will etwas anpeilen und kennt es noch nicht.