Gantry 5

Mein Weg zu Afrika als Weltreligion

Vortrag im Ref. Kirchgemeindehaus Zollikerberg
am Mittwoch, 26. Febr. 2014

1. Szene

Ich berührte zum ersten Mal afrikanischen Boden 1954, als ich Albert Schweitzer in Lambarene besuchte. Da ich bereits in früher Jugend von meiner Mutter erfahren hatte, dass Schweitzer auf das Jahr, die Stunde, die Minute genau 60 Jahre älter als ich sei, wurde Schweitzer mein Jugendidol. Ich las alles, was mir in den damaligen Missionsblättchen unter die Augen kam. Ich bewunderte ihn wegen seiner 3 Studienabschlüsse masslos - und wollte auch so werden wie er.

 

Nach der Matura musste ich ihn in Lambarene besuchen; unbedingt, wenn es auch unmöglich schien, denn unsere Familie war sehr arm. Vater hätte niemals zugestimmt. Mutter ermöglichte es, in dem sie sagte, ich müsse unbedingt ins Französische, um später ein guter Missionar zu werden. So kam ich nach Lambarene und Schweitzer begrüsste mich schon damit, dass ich mir keine Illusionen über die Neger machen sollte, denn diese seien noch nicht vollwertige Menschen, höchstens Kinder und dazu noch wild. Als er noch weitere ähnliche Belehrungen abgab, immer vom Zivilisieren und Zähmen sprach und erst noch Südafrika lobte, dass die Apartheid vorderhand der einzig richtige Weg sei, da dämmerte es mir.

 

Eigentlich kam ich vom gleichen Hintergrund, denn wir spielten für die armen Negerli, sammelten Geld, um Neger zu bekehren, indem wir kleine Münzen ins Nicknegerli tropfen liessen. Wir hatten mit Afrikas Menschen Erbarmen und wollten sie aus Unwissenheit und Aberglauben herausholen.

 

Als ich nun jedoch in Lambarene von Schweitzer dasselbe hörte, ging es mir im Tiefsten auf wie bei einem Blitz aus heiterem Himmel, dass wir alle falsch liegen müssten. Zur Matura kam also etwas andere Reifung hinzu. Ich floh aus Lambarene und schrie wie einen Fluch zurück: "So will ich nicht werden!" Das Jugendidol war wie ein Götteridol zerbrochen. Dennoch war ich Schweitzer nie böse.

 

 

2. Szene

Als ich zu Beginn der 1960er Jahre in die USA kam und eine Niederlassung in Harlem, an der 125. Strasse, im Pfarrhaus von St. Joseph erhielt, war ich natürlich im Herzen der amerikanischen Neger (so nannte man sie noch), aber auch inmitten der Bürgerrechtsbewegung von M.L. King. Für die stolzen, aber auch etwas eingebildeten Weissen waren die Nigger letztlich genau das, was Schweitzer von ihnen auch angenommen hatte. Für mich durfte das nicht sein und so schloss ich mich den Schwarzen an - eigentlich unmöglich für einen Weissen. Ich kam mit King in Kontakt und war erstaunt, wie wenig er von seinen Brüdern und Schwestern in Afrika wusste. Mental war er ein Amerikaner und einer genauso wie sie mit Ängsten vor den Kommunisten besessen. Er wollte mit seinen Verbündeten nur das Stimmrecht und glaubte naiv, dass, wenn die Schwarzen dieses erhielten, es mit ihnen steil nach oben gehen würde.

 

Dass er mit den afrikanischen Befreiungsbewegungen, die in jener Zeit überall auf dem Kontinent entstanden, keine Verbindung wollte, weil er annahm, diese seien kommunistisch, und jegliche Verbindung zu ihnen würden die Schwarzen bei den Weissen der USA verdächtig machen. Man hatte die Civil Rights Bewegung als Beobachter an den Rivonia-Prozess von Nelson Mandela 1962 eingeladen, doch King schickte mich, um als Schwarzer nicht verdächtig zu werden.

 

Ich habe tief und manchmal traurig erlebt, dass wir alle Kinder eines Zeitgeistes sind, der uns blind macht, aber auch, dass Distanz plötzlich etwas von der anderen Seite verstehen lässt. Heraustreten, in die Fremde gehen, um verstehen zu lernen. Ich habe in meinen USA Jahren schwarze Kultur kennen gelernt, denn es gab da den Jazz und Soul, echte Psalmen. Ich habe die Macht der Rhetorik erfahren. Ich habe mich jedoch auch gefragt, warum es denn diese Trennung in weisse und schwarze Kirchen geben soll und diese Spaltung - wenn es denn eine ist - anhält. Ist da vielleicht ein afrikanisches Element mit dabei? Befanden sich etwa gar, so wie im haitianischen Voodoo, hinter dem christlichen Deckmantel versteckte Urelemente des Afrikanischen? Ich begab mich auf die Suche nach "dem Afrikanischen" und traf Schritt für Schritt Mischkulturen an.

 

 

3. Szene

Mit dieser Neugierde kam ich denn 1967 wieder nach Afrika. Ich geriet in ein Afrika, das kontinental am schmerzlichen Auflösen des Kolonialismus war. In Rhodesien, was heute Zimbabwe ist, hatten die Weissen eine einseitige Unabhängigkeit ausgerufen; die 2 Unabhängigkeitsbewegungen auf schwarzer Seite, ZANU und ZAPU, kämpften von den Büschen und Bergen an der Grenze von Moçambique oder vom Norden von Zambia aus. Die meisten Missionare waren verwirrt, denn auch sie trugen das verhetzte Kommunistenbild jener Zeit mit sich. Viele meinten gar, sie müssten das christliche Abendland hier verteidigen. Es gab nur ganz wenige, die nach dem Afrikanischen der Schwarzen zu suchen und forschen begannen.

Ich war vorbereitet. Ich war inzwischen überzeugt, dass alle Menschen Religion hatten und niemand weiterhin behaupten konnte, dass Afrika keine Geschichte, keine Religion, keine Landwirtschaft, keine Kultur hatte.

In Rhodesien gab es die imposanten und stolzen mysteriösen konischen Ruinen und Bauten von Great Zimbabwe. Als ich ankam, nahm man noch allgemein an, dass so etwas nur die Portugiesen oder andere Seefahrer früherer Zeiten erbaut haben konnten.

Dazu kamen rund um Bulawayo die Matopos-Höhlen mit Malereien. Damals nahm selbst die Wissenschaft noch an, diese Felsmalereien seien höchstens 3000 Jahre alt und stammten entweder von ausserirdischen Wesen oder von Menschen aus dem Mittleren Osten oder gar Israel (König Salomon). Nichts traute man den Schwarzen zu. Nichts, gar nichts!

 

In diese Lage hinein kam ich. Ich lernte die Shona - Sprache und kam über die Sprachstruktur (mit 23 Präfixen oder der Wichtigkeit der zweitletzten Silbe) in Bantu-Denkweisen hinein.

 

Ebenfalls nahm ich mich der Felsmalereien an, stellte ziemlich rasch Übermalungen fest, schätzte zusammen mit einem Archäologen den Ursprung auf 30'000 Jahre und ahnte einen Zusammenhang mit den Höhlenmalereien Südfrankreichs..

 

Hier also geschah der Durchbruch zu einer anderen Denk- und Verhaltensweise afrikanischen Kulturen gegenüber.  Zudem begann ich Afrikas Geschichte rückwärts zu lesen: vom etwas mehr als hundertjährigen Kolonialismus, voraus die arabischen Sklavenjagden im Inneren des Kontinents, wobei ein Teil von der Suaheli-Küste aus als Pagen für Königs- und Fürstenhäuser, an Sultane kastriert nach Osten und ein anderer Teil von der Atlantikküste aus, von der Insel Gorée oder dem Hafen von Luanda, vom heutigen  Porto Novo in Benin bis nach Sekondi-Takoradi in Nordghana  nach Süd- und Nordamerika und der Karibik verschifft und verkauft wurden. Afrikas Kulturen und Menschen mussten traumatisiert sein. Sie hatten Geschichte, doch diese wurde ihnen gestohlen oder sie selbst verdrängten sie.

 

 

4. Szene

Ich wurde aus Rhodesien ausgewiesen, begann an der neuen Universität Lilongwe in Malawi und später für kurze Zeit in Nairobi, Kenya, Afrikaner auf den geistigen Reichtum ihrer Vergangenheit hinzuweisen und musste bald konstatieren, dass wir arroganten Europäer Afrikas Menschen bereits soweit verbildet hatten, dass sie nichts mehr von der Vergangenheit wissen wollten; sie selbst glaubten, sie seien primitiv gewesen und würden sich nun entwickeln.

 

Ich versuchte, Afrikanern ihre Denkweisen zu erörtern und ich stiess auf starken Widerstand bei den Intellektuellen an der Universität, jedoch weniger bei Schriftstellern und Dichtern. Diese versuchten, etwas von der Tradition in unsere Zeit herüber zu nehmen. Sie nannten das ihre Wurzeln, the roots. Ich kam also auf den Weg der neuen afrikanischen Literatur. Mich beeindruckten und beeinflussten Okot p'Bitek mit Lawinos Lied, Chinua Achebe mit Things Fall Apart oder  die philosophischen Essays von Alexis Kagame, Rwanda, und die Epigramme von Taban lo Liyong.

 

Ich habe zudem systematisch seit 1966 afrikanische Agrargeschichte erforscht, war weltweit verbunden mit über 30 Universitätsfakultäten. Ich habe alles Mögliche aus Paläontologie, Archäologie, Archäobotanik , Geologie, Sedimentforschung oder Sprachwissenschaft usw. zusammengetragen. Dabei stiess ich dauernd auch auf Religion, denn Agrarkultur ist seit Beginn der Menschheit engstens mit Religion und Spiritualität verbunden.

 

 

5. Szene

Bei einer landwirtschaftlichen Forschung auf Jamaika, in der Karibik, war ich einen Steinwurf weit von Bob Marleys Haus untergebracht. Immer wieder hörte ich seine Lieder, die mir wie alttestamentliche Psalmen aus der Exilzeit vorkamen. Abends hörte ich dauernd aus Distanz Reggae-Musik, es klag wie aus Babylon in der Ferne. Das waren Träume der Freiheit; das war Blues im besten Sinn. Gesprochen, gesungen, um Feuer zu fangen für eine Umkehr oder Heimkehr. Get up! Stand up! Stir it up!

Und auch immer wieder hörte ich vom grossen Propheten Haile Selassie in Abessinien, auf dem Berg, dem neuen Zion.

 

Eines Abends ging mir im Inneren ein Tor auf. Hat das Afrikanische nicht denselben Weg durchschritten wie das Christliche? Das Christentum hatte zwar seinen Ursprung in Jerusalem, aber bald verliessen die Anhänger Jerusalem, kamen über Damaskus und Kleinasien nach Rom und vor hier ging es weiter bis nach Irland. Paulus ist der grosse Mittelsmann zur Verwandlung einer jüdischen Sekte in eine Religion der Römer-Welt. Über die Sklaverei, denn die meisten Urchristen waren arm, Sklaven und Angestellte und immer mehr auch Soldaten oder Legionäre.

 

Ist nicht fast dasselbe mit dem Afrikanischen geschehen? Erst in der Sklaverei, in der Distanz, schälte sich das Afrikanische heraus, entwickelte sich weiter, nahm auf oder verdeckte Eigenes. Es konnte nicht das Erbe von einzelnen Stämmen und Ethnien sein, denn alle wurden schon vor Abfahrt nach Übersee systematisch voneinandergerissen, und so gab es in der neuen Sklavenwelt keine Yoruba- oder Ashanti- oder Akan - Sklavenkolonien, denn man war zu stark durchmischt. Erst in der Sklaverei wurden sie daher zu Afrikanern.

 

So entstand eine afrikanische Religion eigener Art. Jeder Sklave nahm etwas von zuhause mit; jeder und jede ging dann durch ein oberflächliches christliches Bad, denn allen wurden im Keller christliche Geschichten erzählt. Ja, und so können wir heute festhalten: Afrikas Religion ist eine Weltreligion mit vielen Facetten, wie das Christliche oder der Islam.

 

So ist Voodoo nicht ursprünglich aus Benin, wie oftmals behauptet wird, nein, auf dieses neu geformte Afrikanische überstülpte man christliche Elemente, und so entstand vor allem im haitischen Kontext dieses Voodoo, aus der Ohnmacht der Sklaven geborene Macht des mit Nadelstichen Zurückzahlenden.

 

Genauso die brasilianischen Pfingstlerkirchen: Sie sind und agieren mehr afrikanisch als christlich; sie sind daher Teil der afrikanischen Religion. Und sie wurden das erst durch das Exil. Afrika ist ein Oberbegriff; darunter variieren viele Varianten. Genauso kam es zu den Black Churches in der USA, zuerst in den Südstaaten und später in den Städten der Nordstaaten.

 

Man kann sich schon fragen, warum heute diese Reggaemusik aus allen afrikanischen Radiosendern erklingt? Diese Musik weckt etwas im Tiefsten der verschiedenen afrikanischen Seelen und bringt etwas, das man verloren glaubte, zum Klingen. Catch a Fire.

 

 

Was nun macht den Kern dieser afrikanischen Religion aus?

 

Ich spreche hier von den etwa 2000 Ethnien oder Sprachen schwarzer Menschen südlich der Sahara; und nicht von den Völkern am Horn oder vom Maghreb.

Ich schliesse die vielen schwarzen Sklaven und Nachkommen der letzten 1000 Jahre in der Diaspora ein, denn die allermeisten entstammten Bantu-Gesellschaften.

Ich abstrahiere sehr stark, denn längst ist Afrikas Religion eine Mischreligion - wie übrigens alle anderen Religionen auch. Islam und Christentum haben seit langem Afrika mitgeprägt.

Ich gehe davon aus, dass es keine Bekehrungen, sondern eher neue Gewichtungen, Akzentverschiebungen oder Orientierungen gibt, da kein Mensch jemals die Vergangenheit auslöschen kann. Afrikas Menschen leben heute mit mehr als einer Religion.

Ich versuche hier also äusserst riskant, etwas vom Eigentlichen (wann aber begann es? In Kongos Urwäldern vor etwa 2000 Jahren?) herauszuschälen.

 

1. Bantu-Sprachen kennen kein Futurum. Unterdrücker haben afrikanische Menschen kaum in die Zukunft blicken lassen; sie mussten einen Tag nach dem anderen bewältigen. Afrika kennt kein Szenarium eines kommenden Weltuntergangs. Wie keine andere Weltreligion hat die afrikanische mit dem Überleben zu tun. Also geniessen sie das Heute. Und falls etwas Überfluss bleibt, wird er sofort verzehrt: es handelt sich also um eine afrikanische Variante des Potlatch-Systems der Indianer.

 

2. Zentral im afrikanischen Glauben sind die Ahnen, die Vorfahren, der Grossfamilienstammbaum. Man bleibt unter sich. Man mischt sich nicht in die Ahnenreihe der Nachbarn und anderen ein. Diese Familienahnen leben weiter und zwar spiegelverkehrt zu uns unter dem Boden. Im afrikanischen Denken stirbt ein Mensch erst dann, wenn niemand mehr an ihn denkt.

 

3. Folglich sind Memorials sehr wichtig. Man opfert den Ahnen etwas von der Speise oder bei einer Libation etwas Bier. Etwas Festes und Flüssiges muss auf den Boden kommen.

 

4. Der Boden der Grossfamilie ist sacred, heilig, Der Kolonialismus hat diesen Boden entwürdigt. Für viele Afrikaner sind die Folgen davon Dürren und Hungersnöte. Meist, wenn Afrikaner sagen, sie wollen Boden zurück oder Landverteilung, fordern sie das nicht, weil sie Bauern werden wollen.

 

5. Den Clanboden hielt ein Häuptling in Händen und er schützte ihn auch; er teilte Land zu, konnte es auch wieder zurücknehmen. Deshalb gingen die Kolonialmächte immer zuerst auf diese Chiefs los - und verdarben sie. Heute nun glauben Politiker und vor allem die Präsidenten, sie seien die Nachfolger der einstigen Chiefs.

 

6. Jede Beerdigung ist eine Landbestätigung und daher so wichtig. Um auch selbst die Stammeseinheit zu erneuern oder zu festigen, um Frieden zu haben, gehen und fahren viele Afrikaner Hunderte von Kilometern ab, um bei einer Beerdigung dabei zu sein. Das Grab von Verwandten muss ein Familienglied auch ab und zu besuchen. Das ganze Ritual geht bis heute soweit, dass Regierungen korrigierend eingreifen müssen. In Ghana etwa darf nur noch an Samstagen beerdigt werden.

 

7. Neben dem Häuptling steht der N’anga, der Kenner der Grossfamilientradition und des Stammbaums, Deuter der Zeichen der Ahnen und Medizinmann. Der Weisse hat diesen zentralen Mann als witchdoctor verächtlich hingestellt. Der N’anga ist kein Priester, sondern ein Deuter der Zeichen. Das kann er auf viele Weise tun, mit Wurfhölzern oder Pflanzenwurzeln.

 

8. Da primär eine Krankheit ein Zeichen von Ahnen ist, muss er hineinschauen, um den Ursprung zu erkennen. Die Ahnen wollen auf keinen Fall vergessen werden, also machen sie sich immer wieder in heiklen Lagen bemerkbar und der N’anga hat zu deuten, von wem Missgeschick und Krankheit stammen und wie man wieder Frieden stiften kann. Also dauernde Versöhnungszeremonien.

 

9. Daneben kennen Afrikaner ein ganzes Universum von Geistern.  Die Welt und der Kosmos sind belebt. Dieser Glaube kann soweit gehen, dass einige gar annehmen, dass diese Geister Menschen als ihre Ahnen betrachten. Solche Gedanken kommen leicht bei menschlichen Besonderheiten auf, etwa bei Albinos, Homosexuellen, geistig Behinderten, Krüppeln, usw. Diese Abweichungen können je nach Ethnie positiv oder negativ gedeutet werden. Auf jeden Fall erschüttern sie bis ins Tiefste.

 

10. Ein Fluch afrikanischer Religiosität ist der Hexenglauben. Keiner sollte mehr als ein anderer in der Grossfamilie bekommen, erwerben oder besitzen; setzt jemand sich ab, dann wird er leicht der Hexerei verdächtigt. Man nimmt dann an, er habe sich mit antisozialen Geistern aus den Sphären des Kosmos verbündet.

 

11. Die afrikanische Religion kennt kein Hl. Buch. Musik, Tanz und Songs sind Offenbarungsquellen. Das Wort ist wichtiger als das Geschriebene. Hier liegt bis heute der grosse Gegensatz zwischen Afrikanern und Europäern. Prophetie findet immer wieder statt. Dabei wird getanzt bis zum Umfallen in der Hoffnung, von den Ahnen irgendeine hilfreiche Botschaft zu erhalten. Man setzt auf Glossolalie.

 

12. Der afrikanische Glaube lässt Gott offen; dieser ist einfach am Ende der langen-langen Ahnenreihe. Er mischt sich zwar ein, doch das würde über Ahnen den Menschen mitgeteilt. Es ist beinahe ein Parallelismus: der Bantu hat kein Futurum, aber auch keinen klaren Gott am Ursprung. Es gibt diesen in Mythen, doch das ist eine andere Welt.

 

13. Dieses Offenlassen steht im Zusammenhang mit der Idee der Vermittlung. Höher Gestellte konnte der afrikanische Mensch nicht direkt angehen. Gesellschaftlich oder sozial nach oben brauchte man einen Vermittler, einen, der den Kontakt arrangierte. Und so geht es auch im Jenseits weiter: dafür sind die Ahnen da. Du als kleiner Mensch auf dieser Erde hast gar kein Recht in jene Hierarchien einzudringen. Man kannte höchstens eine Art von Fürbitte-Gebet.

 

14. Die afrikanische Mehrdeutigkeit überrascht. Ogun, ein westafrikanischer Aspekt des Göttlichen, trägt alles in sich von der Zerstörung bis zur Schöpfung. Ogun liebt die Dramaturgie der verrücktesten Strassenunfälle einerseits, andererseits steht er den Dichtern nahe. Der Literaturnobelpreisträger Wole Soyinka liebt diese Ogun-Gestalt so sehr, dass er bis zu 30 Aspekte beschrieben hat. Ironisch meint er: "Ogun ist Afrika." Ogun enthält sowohl das Kreative als auch das Zerstörerische, Blut und Farbe.

 

15. Diese Vieldeutigkeit ergibt sich aus einem Denken in Symbolen und Bildern heraus. Auch in diesem Bereich arbeitet der Afrikaner stark mit der Indirektheit, dem Abbild, dem Maskenhaften und Symbol. All diese Abbilder ersetzen eine Idee, die in einem Wort nicht fassbar, sondern nur umkreisbar ist. Das war wohl die Ursache, den Afrikaner einen Fetischisten zu nennen: doch für diese Menschen standen gewisse Dinge in ihrer Kultur für etwas. Wir sind also zurück bei der Indirektheit und dem Zeichenhaften.

 

 

Zum Schluss

 

Ich hoffe, wir können mit diesen skizzenhaften Anmerkungen begreifen,

 

dass 1. Afrikas Menschen genau so einen komplexen und widersprüchlichen Glauben wie wir im Christentum haben;

 

dass 2. es in keiner Religion nur Positives gibt, denn das Negative muss mit enthalten sein. Sehr oft entscheidet die Wahrnehmung - sei sie von innen oder von aussen - über die Deutung.

 

dass 3. Afrika seit dem 15. Jh. zu einer Weltreligion geworden ist;

 

dass 4. diese Religion weder Fetischismus noch Animismus, weder nur Magie noch einfach Vitalismus ist; sie mag zwar solche Elemente enthalten, doch zu deuten sind sie in einem ganzheitlichen Kontext;

 

dass 5. Afrikas Religion eher oder höchstens etwas Schamanisches mit-enthält.

 

dass 6. eine eigene komplexe und sogar grossartige Spiritualität besteht.

 

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