Gespräch mit Christa Baumberger, Leiterin Stiftung Litar und Co-Kuratorin, zur Ausstellung «Litafrika Poesien eines Kontinents» im Strauhof.
Al Imfeld, ein Wegbereiter afrikanischer Literatur
Christa Baumberger, zunächst möchte ich im Namen des Vereins Al Imfelds Tafelrunde einen grossen Dank an Dich und den Strauhof aussprechen: Wir sind sehr glücklich, dass Al fünf Jahre nach seinem Tod eine solche grossartige Würdigung für sein Lebenswerk erhält!
SH: Wo liegt der Stellenwert der Ausstellung «Litafrika – Poesien eines Kontinents» im Strauhof?
CB: Als Litar 2020 die Artikelsammlung Al Imfeld übernahm, entstand sofort die Idee, daraus ein Projekt für die Öffentlichkeit zu entwickeln. Ich hatte schon früher einmal eine Ausstellung im Literaturmuseum Strauhof kuratiert, und als der Leiter Rémi Jaccard hörte, dass wir neu einen Schwerpunkt zu Afrika haben, kam er auf Litar zu und gemeinsam entwarfen wir das Konzept der Ausstellungstrilogie «litafrika». Für den Strauhof war das Thema sehr willkommen, da sie noch nie eine Ausstellung zu Literaturen aus Afrika gezeigt haben. Somit ist es ein Thema, das für das Zürcher Publikum weitgehend neu ist. Es gibt viele Entdeckungen zu machen, denn auch die Dichterinnen und Dichter, die wir präsentieren, sind bis heute im deutschsprachigen Raum nur wenig bekannt. Als Ausgangspunkt wählten wir «Afrika im Gedicht», Al Imfelds monumentale Anthologie. Vorausschicken muss ich, dass weder ich noch Rémi Jaccard Al Imfeld persönlich gekannt haben. Das schafft natürlich auch eine gewisse gesunde Distanz. Für die Kuration der Ausstellung war es ein Vorteil, weil ich so völlig neutral waren und erst in den vielen Gesprächen, die ich mit all den Leuten, die Al Imfeld gekannt haben, ein Bild von ihm und seiner Arbeit entwickelte.
Wie gelangte Litar in den Besitz von Al Imfelds Zeitungsarchiv?
Das war ein glücklicher Umstand: Das Zeitungsarchiv Al Imfeld gelangte vor zwei Jahren via Artlink (1) an Litar (2), als Artlink-Co-Geschäftsführerin Chudi Bürgi pensioniert wurde. Kein öffentliches Archiv wollte die Dutzenden Schachteln mit den Literaturartikeln übernehmen. Dank der Initiative von Chudi Bürgi konnten die Mappen und Schachteln bei der Wohnungsräumung von Al’s zweiter Wohnung (im gleichen Haus, in dem er selber wohnte) 2012 überhaupt gesichert werden. Es war aber schon damals klar, dass die Kulturorganisation Artlink das Archiv nicht definitiv übernehmen kann. (3)
Wie waren die Zeitungsartikel geordnet?
Al Imfeld hat während rund 60 Jahren Zeitungsartikel zu den Literaturen des afrikanischen Kontinents gesammelt. Das war sein Arbeitsarchiv für die eigene journalistische Arbeit und auch für die Anthologie «Afrika im Gedicht». Die Zeitungsartikel waren darin in unzähligen farbigen Plastikmäppli abgelegt, geordnet nach Schlagworten, Ländern, Themen. Nummeriert und beschriftet nach Autoren. Interessant ist, wie Imfeld den Kontinent für sich sortiert hat, mit diesen Schlagwörtern, die er Cluster nannte, die er übrigens dauernd verändert hat, bis zuletzt, als das Buch in Druck ging.
Von wie vielen Bananenkisten reden wir da?
Als ich die Schachteln in Bern bei Artlink abholte, füllte sich das Auto bis unters Dach! Insgesamt sind es nun über 80 Archivschachteln. Der grösste Teil sind Zeitungsartikel, aber Al hat auch alle seine Mails ausgedruckt und aufbewahrt…
Wie hat Litar die Schachteln durchforstet?
Meine Mitarbeiterin Nicole Schmid hat in einem ersten Schritt die Sammlung inventarisiert. Anschliessend haben wir viele Stunden lang in den 84 Archivschachteln recherchiert, mehrere Tausend Artikel gesichtet und dabei einige Perlen gefunden, v.a. Briefe. Einige zeigen wir in der Ausstellung. Im Hauptnachlass von Al Imfeld im Archiv der Missionsgesellschaft Betlehem im Staatsarchiv Luzern befindet sich ein Grossteil seiner Korrespondenz. Dort konnten wir diverse Briefe mit afrikanischen Autorinnen und Autoren herausfiltern. Weitere literarisch relevante Dokumente fanden wir in der Imfeld-Sammlung der Basler Afrika-Bibliographien. Seine Africana-Sammlung, eine stattliche Bibliothek, ging an die Universitätsbibliothek Basel. Auch daher stammt eine Leihgabe.
Wie wollte man die Ausstellung gestalten?
Von Anfang an war klar, dass dieser riesige Kontinent Afrika mit seinen vielen Sprachen und Literaturen nicht in einer einzigen Ausstellung beleuchtet werden kann, sondern dass es mehrere braucht. So entstand der dreiteilige Ausstellungszyklus, der sich bis 2024 erstreckt. Al’s Lebenswerk «Afrika im Gedicht» steht im Zentrum der ersten Ausstellung. In einem Raum präsentieren wir ausgewählte Gedichte, im anderen Raum geht es um Al Imfelds Arbeit und um das Entstehen dieses Buchs. Die zweite Ausstellung wird von der Südafrikanerin Zukiswa Wanner gestaltet, sie legt den Fokus auf die aktuellen Literaturszenen. Sie wird kürzlich erschienene Romane präsentieren und Musiker, bildende Künstlerinnen und Performerinnen darauf reagieren lassen. Der dritte Teil ist momentan noch bewusst offen. Wir schauen, wie sich das Projekt entwickelt und reagieren dann darauf.
Für die erste Ausstellung lag ja ein spannender Fundus vor?
In der Tat. Wir hatten viel Begleitmaterialien von Al, seiner 60jährigen Korrespondenz mit Dichterinnen und Dichtern in Afrika, seiner Literaturartikel-Sammlung welche die ganze Diskussion der Dekolonisierung seit 1960 abbildet – das war ein toller Ausgangspunkt für die erste Ausstellung. Und dann natürlich die Anthologie selber, mit dem riesigen Fundus von Gedichten, aus dem wir schöpfen können.
Was war die besondere Herausforderung?
Wie übersetzt man ein 800 Seiten dickes Buch mit 550 Gedichten in einen Raum, in die Dreidimensionalität! Klar kann man Gedichte an der Wand abbilden, was wir auch gemacht haben, als ein vergrössertes Buch. Aber was Poesie ausmacht, ist das Phänomen der Stimme, des Vortrags, der Performance.
Wie habt Ihr das gelöst?
Wir haben zehn Zoom- Lesungen mit Dichterinnen und Dichtern aus der Anthologie aufgenommen, die noch leben. Sie lesen ihr Gedicht und reden darüber. So haben sie selbst das Wort, sie bekommen ein Gesicht und sind mit ihrer eigenen Stimme hörbar. Aktuell passiert in Afrika aber auch sehr viel im Bereich Spoken Word, Slam und Rap. An den Schnittstellen zur Musik und zum Tanz ist die künstlerische Kreativität besonders gross. Da sprüht und blüht es im Moment ganz extrem in Afrika. Deshalb zeigen wir auf einem raumfüllenden Bildschirm exemplarisch zehn Videos: vom Musikclip bis zum Animationsfilm. Da kann man junge Stimmen hören, die nicht in der Anthologie vorkommen.
Hat sich der Fokus seit 2014, wo Al’s Anthologie aufhört, verändert?
Spannende Frage! Darüber habe ich viel mit Zukiswa Wanner aus Südafrika diskutiert. Sie hat beim Gang durch die Ausstellung angemerkt, dass es eine historische Sammlung ist, mit tendenziell eher älteren Autorinnen und Autoren, mit klassisch-postkolonialen Themen wie Dekolonisierung, politischen Missständen, Korruption, Raubbau an der Natur, Verschmutzung oder Krieg. Ausserdem hat Imfeld hauptsächlich Gedichte in den Sprachen der ehemaligen Kolonialmächte berücksichtigt, v.a. dem Englischen, deutlich weniger in Französisch und Portugiesisch. Einige in Arabisch, und nur ein paar Sprichwörter in Swahili und ein paar Gedichte in Afrikaans.
Was ist in Afrika in den letzten 10 Jahren literarisch passiert?
Das Spektrum an Themen hat sich erheblich vergrössert. Genau das möchte Zukiswa Wanner in der nächsten «litafrika»-Ausstellung 2023 zeigen: Häufig sind Beziehungen das Thema, Familiengeschichten, Innensichten aus der Gesellschaft, in der Privates und Öffentliches sich überlagern. Die Themen sind gar nicht so anders als im Westen.
Welches Verhältnis hat man heute in Afrika zu den ehemaligen Kolonialsprachen Englisch, Französisch und Portugiesisch?
Im Rahmenprogramm von «litafrika» haben wir am 16. Juni im Literaturhaus Zürich ein Podium veranstaltet mit den drei Autorinnen, Verlegerinnen und Übersetzerinnen Edwige-Renée Dro aus Côte d’Ivoire, Lola Shoneyin aus Nigeria und Zukiswa Wanner aus Kenia. Auf die Frage, ob es für sie ein Problem sei, dass Englisch eine ehemalige Kolonialsprache sei, wurde herzlich gelacht. Englisch und auch Französisch haben für die heutige Generation längst den kolonialen Charakter abgelegt. Man hat sich die Sprache längstens angeeignet mit einem eigenen Vokabular und Redeweisen, mit eigenen Klängen, Akzenten. Englisch ist wie der Tonträger, den die jungen Dichterinnen mit ihrer eigenen Lebensrealität angereichert haben. Sie alle schreiben auf Englisch und Französisch und nicht in einer lokalen Sprache, weil sie so ein viel grösseres Publikum erreichen, im Idealfall gar eine weltweite Verbreitung ihrer Literatur.
Wie hat Zukiswa Wanner aus Südafrika die Ausstellung «Poesien eines Kontinents» erlebt?
Sie stand der Ausstellung positiv gegenüber und fand sie als Auftakt für eine Serie von drei Ausstellungen interessant, gerade weil sie den Horizont sehr weit öffnet, ohne aber den Anspruch zu haben, einen umfassenden Überblick zu geben. Die Anthologie legt eine wichtige historische Grundlage. Sie hat die Anthologie nicht gekannt und hat das dicke Buch darum zurück nach Kenia genommen. Sie rühmte die Leistung der Anthologie und den darin abgedruckten Kanon – mit so grossen Namen wie Wole Soyinka, Chinua Achebe oder Ken Saro-Wiwa.
Wie haben andere Fachleute aus Afrika auf die Ausstellung und Al Imfelds Anthologie reagiert?
Die Ausstellung ist im engen Austausch mit verschiedenen Fachpersonen entstanden. Eine ist die in Angola geborene Literaturwissenschafterin Ana Sobral. Sie hat die Anthologie im Detail angeschaut und äussert sich in einem Videobeitrag dazu. Sie stellt natürlich den Überhang der vier Kolonialsprachen in Frage, während es doch tausende afrikanische Sprachen gebe. Auch merkt sie an, dass eine Herausgeberschaft heute wohl anders aussehen würde. Es wäre wohl eher ein Kollektiv von mindestens zehn Personen, wovon vielleicht nur eine Person aus Europa wäre.
Aber Al hat es ja auch nicht allein gemacht: Ein Stab von Frauen wie Lotta Suter, Zineb Benkhelifa und Elisa Fuchs haben massgeblich mitgearbeitet und bei der Übersetzung geholfen.
Das steht ausser Frage: Al Imfeld hätte die Mammutaufgabe allein gar nicht bewältigen können. Die Übersetzerin Zineb Benkhelifa, die selbst an der Anthologie mitgewirkt hat, und die Literaturvermittlerin Chudi Bürgi schildern in Videobeiträgen im Detail, wie die Zusammenarbeit mit Al Imfeld lief.
Um kurz bei der Anthologie zu verweilen: Was ist für Dich das Bestechendste?
Die unglaubliche Vielfalt an Gedichten und das weite Spektrum an Themen, das sich uns da eröffnet! Ohne Al Imfelds Bemühen hätten die wenigsten der rund 300 versammelten Dichterinnen und Dichter den Weg in den deutschsprachigen Raum je geschafft. Hier gibt es noch ganz viel zu entdecken und aufzuarbeiten. Ich finde auch frappant, wie aktuell die Gedichte sind und wie direkt ich mich von ihnen angesprochen fühle. Häufig geht es um universelle Themen wie etwa Erinnerung, aber auch um Konflikte und Krieg, Themen also, die – gerade hier und heute – grosse Brisanz haben.
Was auffällt, dass Al Imfeld den Themenkreis Liebe / Erotik ausgeklammert hat.
Al Imfeld lagen sozialkritische Themen viel näher! Er klammerte Liebesgedichte aus, sie waren ihm offenbar zu persönlich. Er wollte sich mit seinem Buch auch klar von der frühen Anthologie «Schwarzer Orpheus» (1954) distanzieren, die er noch stark in der Négritude-Bewegung mit ihrem Fokus auf den weiblichen Körper und auf die Schwarze Frau verhaftet sah.
Bei vielen Verlagen ist Al abgeblitzt, man riet ihm von dem Vorhaben ab. Er solle doch eine kleine Auswahl treffen.
Al hat einfach eine Gesamtschau im Auge. Dieser universelle Anspruch ist bei Imfeld schon etwas Besonderes, er war sich sehr wohl bewusst, dass es unmöglich ist, einen Kontinent zwischen zwei Buchdeckeln zu fassen – und doch hat er es versucht. Da blieb er stur. Wenn man heute nur schon eine Anthologie zu Nigeria oder Südafrika machen wollte, wäre das eine grosse Aufgabe.
Was geschieht mit der Zeitungssammlung von Al weiter?
Es haben mehrere Institutionen in Afrika Interesse angemeldet an der Sammlung. Das freut uns natürlich sehr, und wir klären momentan ab, wie wir sie am besten zugänglich machen können. Das Ziel ist, dass die Artikel auch auf dem Kontinent für die Forschung und für eine interessierte Öffentlichkeit zugänglich werden.
(Die Fragen stellte Stefan Hartmann, Präsident des Vereins Al Imfelds Tafelrunde)
Info
1 die Ausstellung «Litafrika – Poesien eines Kontinents» ist noch bis 4. Sept. geöffnet, Strauhof, Augustinergasse 9.
2 Artlink connects culture, art and people – in Switzerland and across continents. (artlink.ch)
3 Litar – ein Ort für Literatur und ihre Vermittlung. In der Galerie Litar in Zürich finden regelmässig Ausstellungen und Veranstaltungen zu literarischen Themen statt. (litar.ch)
4 Al Imfelds Nachlass Al befindet sich im Staatsarchiv Luzern und im Archiv der Missionsgesellschaft Immensee.