Gantry 5


Was ist falsch an den Schulsystemen in Gesamtafrika?



Immer wieder werden die Schulen Afrikas kritisiert. Es heisst, diese verschiedenen Schulsysteme würden keine Denker sondern bloss Nachsager produzieren.



Was gemeint ist, kann die Koranschule veranschaulichen. In einer solchen Schule lernen die Schüler den Koran auswendig – Sure um Sure. Über den Inhalt wird nicht gross nachgedacht, da eine Reflexion für gewöhnliche Gläubige nicht erwünscht ist, denn Allah will ihn nicht in Zweifel hineinführen.



Ähnlich verhält es sich auch mit dem Schulsystem, das von den Christen und Muslimen in der Kolonialzeit entwickelt und aufgebaut wurde.  Die Kolonialmächte waren nicht daran interessiert, reife und nachdenkliche Bürger heranzuziehen, sondern um Anordnungen und Befehle gehorsam ausführende „Diener“ zu erhalten. Die Schulen hatten vornehmlich zwei Ziele vor Augen:

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die Kolonialherren brauchten einfache Beamte, die sollten fähig sein, lesen und schreiben zu können, sie sollten – ohne Nachzufragen -  ausführen und ja nicht über Sinn oder Sinnlosigkeit nachdenken. Also brauchte man die Schule, um einen einfachen Vollzug in der Verwaltung zu ermöglichen. Aus dieser Form der Ausbildung erwuchsen nach und nach die pingeligen Bürokraten, die Paragraphenreiter, die keine Ausnahme zuliessen und Menschen schikanierten. Nachgedacht wurde nur, wenn dafür Bakschisch entrichtet wurde;
     
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die Missionare der verschiedenen Konfessionen versuchten, über die Schule nach und nach Nachfolger nachzuziehen. Wer gut auswendig lernte und längere Texte zu rezitieren vermochte, galt als auserwählt. Aus diesen Schülern entstammten die späteren Ex-Seminaristen, die an einer speziell für sie betriebenen Mittelschule mit etwas Philosophie und Theologie, studiert hatten. Auf evangelischer Seite ging es meist einfach um die Kenntnis der Bibel zum Zitieren, dazu lernten die Schüler die Hl. Schrift auswendig. Als Unabhängigkeit kam, waren die meisten Kirchen mit der Ausbildung eines einheimischen Klerus stark im Verzug. Wegen der Zölibatsverpflichtung befanden sich vor allem die Katholiken in einem enormen Rückstand. Man hatte immer wieder Seminaristen wegen Mädchengeschichten weggewiesen. Daraus erwuchsen die späteren Politiker der ersten Generation vor allem in der DRKongo (Zaire), in Rwanda und Burundi, 



Es muss wirklich nachdenklich stimmen, wie Kinder sich überall kreativ verhalten, ihre eigenen Spielzeuge basteln, mit Abfall und Schrott etwas anzufangen wissen; doch sobald sie zur Schule kommen, verschwindet die Phantasie. Warum? Vom ersten Schultag an werden die Kinder aufgefordert, alles zu vergessen, was sie von der Familie mitbringen.



Die koloniale Schule selbst geht so vor, als ob die Weissen schon längst alles entdeckt und sie, die Schüler, jetzt einfach diesem Wissen nachzurennen und es aufzunehmen hätten; also Memorieren, um nicht in der Wissensproduktion beteiligt zu werden. Man ging also zur Schule, damit man am Ende Schreibarbeit im Staatsapparat oder einer Behörde machen konnte.



Noch nachdenklicher muss es uns heute machen, dass letztlich die Schule nicht für Mädchen da war. Die Erziehung der Frauen wurde systematisch und sträflich vernachlässigt. Man kam stets mit dem Argument, dass die Mädchen bald heiraten würden und somit Schule ein Verschleiss von kargen Ressourcen sei. Im islamischen Raum Afrikas war die Frau bis zur Unabhängigkeit von der Schulbildung weitgehend ausgeschlossen, und auch heute wirkt diese Einstellung nach, sodass auf dem Kontinent Analphabetismus jährlich zunimmt. In vielen Ländern (etwa Ghana, Kenya, selbst Nigeria und Senegal) ist die Drop-out-Rate zwischen 40 und 60%. Viele gehen bloss 2 Jahre zur Schule.

Es muss nachdenklich stimmen, dass sich heute, 2009, das Gros der Kinder sich die Schule aus finanziellen Gründen nicht leisten kann, denn Bücher und selbst Kreide oder Bleistifte, aber auch Schuluniformen müssen von den Eltern bezahlt werden. Dazu fehlt ihnen das Geld, zumal 80% keine bezahlte Arbeit haben. Stellt man sich eine Kinderschar von 8 vor, ist Schulbildung höchstens für 2 Kinder mit dem aus Europa von Afrikanern überwiesenen Geld möglich – ausser es handle sich um Kinder der oberen Schicht. Diese jedoch schickt ihre Kinder in teure Privatschulen – meist in Europa oder den USA. Den unabhängigen Staaten (ausser einer Zeitlang Tanzania) gelang es nicht, ein neues Schulsystem aufzubauen. Das Geld, das der heutige Staat für Bildung übrig hält, wird in Universitäten gesteckt. So hat jedes nigerianische Bundesland das Recht auf eine eigene Universität. Die Grundschule, die Voraussetzung zur höheren Bildung, jedoch fehlt.



Konsequenzen dieser Lage sind Kinderarbeit auf Strassen und auf Feldern. Da jedoch Kinder dadurch kaum zu Bargeld kommen, beginnen sie zu stehlen. So entsteht Jugendkriminalität.



Auch die Kindersoldaten sind das Resultat einer fehlenden Schule, denn Kinder wollen zur Schule; sie wollen etwas lernen. Wenn eine Armee Kinder zu rekrutieren beginnt, verspricht sie den Kindern das Blaue vom Himmel herab. Das Resultat ist dann eine unglaubliche Tragödie.


Nach der Unabhängigkeit besassen gerade die Politiker, die aus diesen entfremdeten Schulen kamen, kaum einen Horizont, um Schule nicht nur zu erneuern, sondern auch auf afrikanische Verhältnisse anzupassen.



Von den Kolonialisten wurden die Schulbücher von ihrem Zuhause in Europa  eingeführt. In all diesen Fibeln stand verständlicherweise nichts über Afrika. Alle höheren Examen liefen über Paris oder Cambridge und Oxford ab. Sogar die eigenen Lehrer hatten kein Mitspracherecht. Und selbst an der Mittelschule gab es keinen afrikanischen Bezug, nichts von Afrikas Geschichte, nichts von der Literatur, die mit der Négritude in den 50er Jahren stark en vogue war, hatte Platz. Es drehte sich alles um Shakespeare und Moliere.



Der kamerunische Schriftsteller Mongo Beti schrieb seinen ersten Roman Der arme Christ von Bomba  (1956) über den alltäglichen Schulbetrieb. Das Wichtigste waren die Strafen und die Prügel. Alle täuschten der anderen Seite etwas vor. Paris empfand diesen Roman als Skandal. Die katholische Mission war schockiert. Ferdinand Oyono u.a. im frankophonen Raum folgten mit Schulromanen. Anlass zum Nachdenken gab solche Literatur nicht.



Alles verhedderte sich immer mehr ineinander, sodass es wohl zur Kolonialzeit keine afrikanische Schulreform geben konnte. Die systematische Entfremdung war schliesslich Teil des kolonialen Systems, und so konnte der Kolonialist eine afrikanisch orientierte Schule schon gar nicht wollen. Vielleicht dachten die Briten indirekt daran, weil sie – im Gegensatz zu den Franzosen und Portugiesen – drei prestigereiche  Universitäten aufgebaut haben: in Nigeria Ibadan, in Ghana (Goldküste damals) Legon und in Uganda Makerere. Diese drei Stätten wurden zu Beginn der Unabgängigkeit dynamische Promotoren, sogar mit  weltweiter Ausstrahlung. Die Politiker jedoch liessen diese äusserst kreativen Stätten bald verkommen, und wer konnte, floh nach den USA oder nach Grossbritannien oder anderswohin. Die Intellektuellen suchten einen Job in Übersee. Das verstehen wir unter Braindrain. Amerikas und Grossbritanniens Universitäten leben von Afrika. Daheim bleibt kaum ein Arzt übrig. Nicht einmal 1 Prozent der Wissenschafter aus der ganzen Welt ist in Afrika, aus dem auch nur 0,8 % der wissenschaftlichen Publikationen entstehen. Was „geistiges Eigentum“ anbelangt, so ist Afrika praktisch mittellos. Der Anteil an Patenten ist nahezu Null.



Bei den Franzosen war stets alles auf Paris – und nur Paris – ausgerichtet. So steht in einigen frankophonen Schulbüchern bis heute: „Unsere Vorfahren waren Gallier“ und somit ist es irgendwie begreiflich, dass Afrikaner nach Europa fliehen, um ihren „Urgrund“ zu riechen.





 

Orientierungspunkte einer zukünftigen afrikanischen Pädagogik



Blicken wir zurück, dann trifft natürlich manches auch auf Europa zu, schliesslich wurde Europa durch den Kolonialismus zum Abbild Afrikas. Ich fasse die wichtigsten Punkte, auf die für eine Veränderung geachtet werden sollte:


  • Die Allgemeinbildung wurde vernachlässigt; man hat ein Fachbuch wie eine magische Formel auswendig gelernt; wurde abgefragt, bestand ein Examen und erhielt ein Papier.
     
  • Alltagsfragen blieben ausgeschlossen; Schule lief losgelöst von der Aussenwelt ab; sie findet in einem luftleeren Raum statt, sie selbst ist entfremdet und führt zur Entfremdung.
     
  • Fakten allein machen kein Wissen aus; Daten machen noch keine Geschichte. Examen und Zeugnisse stehen höher als das wirkliche Leben. Schule führt geradezu zur Schizophrenie, sicher jedoch zur Entfremdung.

     
  • Weg von der isolierten Kopfarbeit und betonter hin zur Hand- und Kopfarbeit; beide müssen wieder zusammen geführt werden. Man kann zur Schule gehen und gleichzeitig ein Handwerk erlernen. Doch nach kolonialer Tradition gab es weder bei Briten noch Franzosen Handwerksschulen; selbst eine Lehre fand nicht in der Werkstatt sondern im Schulzimmer statt. Dem muss ein Ende sein.
     
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Kontextuelles und vernetztes Denken sollten täglich im Schulraum praktiziert und veranschaulicht werden.
     
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Mehr in die Tiefe gehen als bloss an der Oberfläche hängen zu bleiben.
     
  • Kritisches Überdenken des eigenen Handelns und Verhaltens kann schon in der Schule eingeübt werden.
     
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Diese Art von Schule ist eine Einstellungs- und Willenssache. Man braucht dafür nicht für jede Forderung ein eigenes Fach; man benötigt eine Einstellung, die in jedes vorgegebene Fach einfliesst.
     
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Nur als Beispiel sei erwähnt: Wirtschaftskunde und Konsumentenverhalten, genauso wie Essen und Trinken gehören ins heutige Schulzimmer.




 

Wer und wo sucht jemand in Afrikas 54 Ländern nach einem neuen Konzept?

 

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Al Imfeld, 04. 09