Zeitgenössische Kunst/ Contemporary Art in Nigeria & Ghana
1995-2005
Sammlung Fred Spinnler
Friedrich Reinhardt Verlag Basel 2005. 300 S. ISBN 3-7245-1320-8
Es muss den allermeisten Europäern - exakt ins Klischees der nigerianischen Übertreibungen passend - unglaublich vorkommen, dass das scheinbar total turbulente und chaotische Nigeria überhaupt eine Kunstszene hat; umso mehr wird dieser Europäer überrascht sein, in diesem Katalog gleich 32 + 3 nigerianische Künstler dokumentiert zu finden. Ja, und die allermeisten leben sogar im Land; nur 3 Exilanten sind aufgenommen. Fred Spinnler hat während seines 10jährigen Nigeria Aufenthalts im ganzen Land unermüdlich Künstler besucht und Werke, von denen er eine Kraft ausstrahlen spürte oder denen er Zukunft gab, gekauft.
Ghana stand ausserhalb des Bereichs des Sammlers, dennoch hat er dem Band 5 ghanaische Künstler hinzugefügt. Es erlaubt einen kleinen Vergleich und zeigt eine grosse Ähnlichkeit der beiden Kunstszenen auf.
Es macht in einer Besprechung, resp. dem Hinweis auf einen exzellenten Dokumentationsband wenig Sinn, viele Namen aufzuzählen. Man soll ihre Bilder im Band betrachten. Daher versuche ich so etwas wie eine Themenanalyse.
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Drei Gegebenheiten fallen sofort auf:
- 1. die offene oder versteckte Präsenz der Maske; diese geht hin bis zum Mond oder selbst ins menschliche Auge, das – warum auch nicht? – leicht den Charakter der Maske annehmen kann. Die Trommel kommt hinzu und wird zur tönenden Maske. All das macht manifest, wie tief die Maske im Bewusstsein afrikanischer Menschen liegt. Es zeigt ferner die Vieldeutigkeit dieser Maske; sie greift ins Versteckte oder Verhüllte; sie erweckt Zweideutigkeit; sie wird zum Spiegel oder Abbild. Diese Maske ist geheimnisvoll und führt hinein in den Blues und zur Einsamkeit (etwa bei Oyelami mit seinem Bild Loneliness).
- 2. Was auffällt ist die Freude an der Schrift und am Zeichenhaften. Man feiert die Schrift und schreibt fort und weiter, und dafür benötigt man weitere Buchstaben und Zeichen. Diese scheinen gar in der Luft herumzuschweben, also muss der Künstler sie nur hereinholen. Zeichen in der Luft und an den Wänden.
- 3. Diese Kunst ist – viel mehr als momentan die europäische - voller Symbole. Da ohnehin in afrikanischer Denkweise nichts eindeutig ist, vermag jedes Zeichen oder jede Aussage eine andere Bedeutung, die versteckt dahinter liegt, anzunehmen. Wo aber sind die Zeichendeuter? Der Betrachter kann ein solcher werden, wenn er nicht einfach am Bild vorbeihuscht, sondern zu assoziieren und nachzudenken beginnt.
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Diese Abbildungen werden zu einer Dokumentation des Wandels. Man spürt dahinter Chinua Achebe, der seinen ersten Roman 1956 unter dem Titel Things Fall Apart veröffentlicht hat, ja, man lebt in einer Welt, die bloss noch eine Konstante hat, die des Zerbrechens und Auseinanderfallen. Ob das nicht eher eine Genesis (Asidire) ist? Oder ist unsere Zivilisation Zwillingen (Kainebi) gleich? Zwillinge spielen in allen afrikanischen Kulturen eine grosse Rolle, bei den einen erschrecken sie, bei den anderen sind sie ein Glückszeichen; Zweideutigkeit offenbaren sie auf jeden Fall. Von hier ist der Schritt zur gespaltenen Persönlichkeit ein kurzer (Edochie). Weder das Village Life noch der Markt sind das, was sie einst waren. Befinden wir uns auf einer Crossroad oder einer Kreuzung? Dieses Motiv von Isichei wurde denn auch für den Band-Cover gewählt. Und was soll denn Zukunft (Oshinowo) sein? Liegt sie noch versteckt in der Nacht oder ist sie dunkel wie eine andauernde Nacht? Im Bild geht es um Jugendliche. Will das heissen oder sagen: ihre Zukunft ist düster? Reitet überall der Tod herum (Wewe)?
Ein Ton von Blue, blue melancholy (Kainebi) klingt durch manche Bilder. Gerade deshalb muss Unity Among Us (Oyiogu) beschworen werden. Diese ist nur mit starken Frauen (Asidire, Adeyemi) möglich.
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Am stärksten in der dokumentierten Sammlung vertreten ist mit 13 Bildern Osahenye Kainebi. Er beeindruckt und hebt sich von den meisten anderen ab. Der Betrachter stellt fest, dass hier ein explosiver Maler am Werk ist, ein Wütender über Krieg, Verfolgung oder Flucht. Er ist kein Realist, sondern einer, der Farben schreien lässt und der – heisst es – beim Malen von allen Seiten ans Bild herangeht. Er will nichts Afrikanisches dokumentieren, sondern Weltlagen. Immer wieder malt er neue Folgen; man spürt eine Wut, die wie aus einem Vulkan glühende Asche und Lava ausfliessen lässt. Kainebi bricht aus. Dennoch bleibt er rätselhaft, etwas Unbekanntes spielt sich ab, Rätsel fluten wie Klötze bei Überschwemmungen vorbei. Er wurde 1964 im Delta State, inmitten Shellscher Ölverschmutzung geboren. Dennoch darf man seine Religiosität in den Bildern nicht übersehen. Seine Symbolik ist stark biblisch geprägt; so hat er denn auch eine wichtige Ausstellung mit The Cross Took me for a Walk betitelt. Kainebi gehört zu den Grossen der afrikanischen Moderne.
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Eine Kuratorin oder ein Kurator sollte aus diesem Privatschatz eine öffentlich zugängliche Ausstellung zusammenstellen. In der Zwischenzeit haben wir diesen höchst spannenden Kunstband.
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Al Imfeld
29. 06. 10