Eine Befreiungsbewegung ist ein notwendiges Übel des Übergangs
1)
Eine Analyse afrikanischer Unabhängigkeitsbewegungen: vor, während und danach
Stand 2009
Vorbemerkungen
Da Jean-Paul Sartre ein Vorwort zum Buch „Die Verdammten dieser Erde“ von Frantz Fanon 2) geschrieben hatte, wurde dieses Buch von 1961 bald auch in den USA bekannt. Die Bürgerrechtsbewegung von ML King wollte zwar keine Befreiungsbewegung sondern bloss eine Bürgerrechtsbewegung (a civil rights movement) sein. Verwandt fühlte man sich jedoch schon etwas. Da nun Fanon praktisch voraussagte, dass die Kämpfer einer solchen Bewegung am Ende im Kopf den Kolonialisten so stark verankert haben würden, dass sie schlussendlich den Kolonialisten überdimensional kopieren, war denn also eine Befreiung eine Irreführung?
Seit Mitte der 1950er Jahre habe ich alle Befreiungsbewegungen in Afrika zunächst als „Missionar“ (im Geiste MLKings) und später als Journalist kennen gelernt. Ich habe wohl als Letzter (begleitet von Ferdinand Luthiger) Kenyatta interviewt. Mugabe, Nkomo und Sithole sassen bei mir in Zürich im Wohnraum. Algerien und Namibia haben gemeinsam, dass die nachfolgenden Führer sich ziemlich diktatorisch verhielten. Die ANC sah ich genauso wie die FRELIMO als 2 Bewegungen, die sich dauernd beobachtet, ausspioniert und unterwandert fühlten und dementsprechend dich verhalten. Malawi (obwohl stets streng vom südafrikanischen Geheimdienst kontrolliert), Zambia und Tanzania, später auch Mocambique haben als Ausbildungs-. Stationierungs- und Operationsbasen eine wichtige Rolle gespielt. Aus meinen Kontakten und Beobachtungen versuche ich hier ein politphilosophisches Destillat über Befreiungsbewegungen in Afrika während des Kampfes und nach der Befreiung zu schreiben.
Ausgangspunkt meiner Analyse ist Frantz Fanon; nach und nach kam die Traumata-Forschung mit verschiedenen Einsichten hinzu, und etwas haben sogar das Stockholm Syndrom (Entführter solidarisiert sich mit Entführer) und Erkenntnisse der Erinnerungs-, resp. der Verdrängungsmechanismen beigetragen. Die Erfahrung generell mit Bekehrten stand eigentlich der Einsicht von Fanon sehr nahe: Bekehrte sind meistens die „besseren“ d.h. die fundamental und radikal lebenden Gläubigen. Anstelle von Reflexion steht Mission. Es mag Ausnahmen geben, wie etwa bei Paulus in der Apostelgeschichte, der von einem Eiferer zu einem Bekehrten mit Weitblick und theologischer Nachdenklichkeit wurde. Für Afrika ist die einmalige Ausnahme ganz bestimmt der grosse Stern Nelson Mandela; und dies nach 27 Jahren Gefängnis.
Ich versuche, all das in meiner gewohnten Art mit Thesen, die nur ganz kurz erläutert werden, darzulegen, denn alle zusammengenommen sollen Einblicke und Einsichten gewähren. Ich umkreise also das Phänomen, um es schrittweise und von vielen Seiten her zu erhellen. Wie zunächst einmal diese Thesen sehr verkürzt erscheinen, geduldet euch, denn später komme ich beim Umkreisen bestimmt von einer anderen Seite auf sie zurück. Sie dürfen also auf keinen Fall eine These als ein Ganzes nehmen, auch nicht als einen Punkt, eher als einen Aspekt. Diese neue Methodik nur macht es möglich, die Komplexität heutiger Phänomene mehrdimensional zu erfassen.
Al Imfeld
1) Eine Variation eines Nyerere Zitats auf dem EATWOT Kongress in Dar es Salam 1976
2) Eine neue deutsche Ausgabe erschien 2008 als suhrkamp taschenbuch 668. Man beachte das 5. Kapitel „Kolonialkrieg und psychische Störungen“.