Gantry 5

Von Menschen und Kühen in Afrika und der Innerschweiz

 

Zwei eindrückliche Bilder aus der Kindheit

Von meiner Kindheit sind mir zwei nachhaltige Bilder geblieben:

  1. Die Kreuzstiege von Hergiswil über den Kamm, der zum Napf führt hinunter nach Luthern. Ich werde es gleich darauf zurückkommen. Als Anzeige nur das: Ich meinte auf der anderen Seite vom Lutherntal sei Afrika.
     
  2. Dass wir Luzerner Hinterländer mit braunen Kühen lebten; nur die anderen, die Berner, hatten Fleckvieh.

 

Zum ersten wichtigen Bild

Es gab da jenen Grat, von dem wir erst viel später erfuhren, dass es Teil des St. Jakobspilgerwegs war. Damals gab es vom anderen Tal, also von Hergiswil aus, einen sehr unwegsamen Fuhrweg, der diesen Wallfahrtsweg kreuzte, und hinunter ins Lutherndorf führte. Ich habe in der ganzen Jugend, bis ich 1947 zum Studium ins St. Galler Rheintal wegzog,  diese so genannte Kreuzstiege nie begangen. Es gab da viele Geschichten, die eine war bis zum 2. Weltkrieg eine Tatsache. Die Kirchenuhr von Hergiswil hob 1 Minute früher zum Stundenschlag als Luthern an. Dazwischen lag erst noch Ufhusen mit einer halben Minute. Für mich als Kind war das eine kontinentale Zeitverschiebung.  Auf der anderen Seite unseres Tals musste Afrika liegen.

 

Das zweite Bild war mehr als nur ein Eindruck; es war Glaube & Faktum.

Im Luzerner Hinterland hatte man zu jener Zeit noch eine klare Trennung des Viehs. Wir als Hinterländer und Katholiken hegten und pflegten Braunkühe. Auf der anderen Seite des Napfs, im Emmental, gab es nur Fleckvieh. Das war äusserst signifikant. Braun gleich katholisch; gefleckt wies sofort darauf hin, dass die Berner Protestanten waren und ihr Vieh dementsprechend, gefleckt, verunreinigt. Ihr Irrglaube spiegelte sich in der Farbe der Kühe.

 

Vater inmitten zweier Agrarkulturen

Wie mein Name klarmacht, bin ich der Sohn eines Obwaldners. Von den zwei Imfeld-Stämmen kommt der meinige aus Lungern. Diese Imfeld waren nicht wie die Sarner Älpler; sie praktizierten ein Transhumanzsystem, d.h. im Winter im Tal, im Sommer auf der Alp. Mein Vater hat noch als junger Mann auf Melchsee-Frutt gesömmert. 

 

Die Luzern Bauern nahmen Imfeld wie einen Zigeuner auf, Obwaldner waren Älpler und hatten von Landwirtschaft doch keine Ahnung; das waren Tschifferler, tönt wie später Tschingge. Die Luzerner Bauern waren stolz und glaubten, weltweit die besten zu sein. Nicht einmal der Milch von Imfelds traute man. Es gab zwei Käsereien, die eine war schwarz, die andere rot, d.h. die eine liberal, die andere katholisch konservativ. Beide hatten Angst, die Milch eines Obwaldners würde ihre Käse verderben. So käste Imfeld – was er auf der Alp ja gelernt hatte – zuhause. Er schaffte ein Chäs-chessi an, das dann später auch zum Kochen von Teilersbirnen-Most zu sehr hochstehendem Birnenhonig diente. All das erlaubte einem Kleinbauern mit viel Kinder im Krieg das Überleben. Mein Vater war ein Künstler und Meister: Er verstand aus dem Zwischendrin eine Chance zu machen. So erlebten wir bereits als Kinder: Suche das Zwischendrin, heute sagt man auch die Nische.

 

Imfeld war weder liberal noch konservativ; also liess man ihn gar nicht zur Urne gehen. Nur der Pfarrer war besorgt. Er wollte auf keinen Fall, dass der Imfeld liberal würde, denn er heiratete eine Frau aus liberaler Familie. Also bezahlte der Pfarrer der KK-Zeitung  Das Vaterland. Die Liberalen lasen das Tagblatt und behaupteten, dass darin die Wahrheit stände.

 

Da Imfelds eine arme Familie mit viel Kindern waren, hatte die Gemeinde beständig Angst, sie müsste eines Tags diese Unsesshaften durchfüttern. Also waren Imfelds zwischen Stuhl und Bank. Ja, Tschifferler, Zigeuner, solche, welche die eingebildeten Luzerner Bauern nicht wollten. Die Lage glich der heutigen, wo niemand Fremde will. Ja, Urschweizer – stellt euch das vor – waren Fremde, denen man nicht trauen wollte.

 

All das bekam ich bereits als Kind und zudem Ältester mit. Ich hatte in einem anderen Rahmen, lang bevor ich nach Afrika kam, Kolonialismus erlebt: etwas verachtet, immer wieder ausgelacht, selbst in der Schule anders als die anderen behandelt. Obwaldner waren automatisch dumm.

 

Aber immer wieder kam die Weisheit des Vaters an den Tag. Für mich wichtig bis heute ist folgende Begegnung. Kurz bevor ich zur Schule in die 1. Klasse gehen musste, nahm Vater mich zur Seite und sagte ein ernstes Wort, das bis heute nachklingt. Er sagte: „Bub, du gehst nun zur Schule und damit auch in die Kirche. Du siehst selbst und hast es erfahren, überall hier ist alles doppelt und beide Seiten behaupten, die Wahrheit zu besitzen. Also, ich sag dir: Alles was der Lehrer oder der Pfarrer sagt, es kann nur zur Hälfte wahr sein. Aber komm mich nicht fragen. Genau deshalb gehst du jetzt zur Schule und Kirche. Glaub dein Lebenslang nur die Hälfte. Den Rest muss du stets selbst herausfinden.“  

 

Ich war daher bereits auf andere Seiten hin eingestellt. Ich wusste schon als Knirps, dass es eine andere Seite gibt. So war ich denn auch schon auf Afrika hin sanft programmiert. Ich glaubte sowohl der Kirche als auch den Kolonialisten nie mehr als die Hälfte. Also konnte es nicht stimmen, dass Afrikaner keine Religion, keine Geschichte, keine Landwirtschaft, keine echten Kühe hatten. Der Vater, der Bergler aus Lungern, hatte die beste Grundlage gelegt. Die Grundlage zum Forschen und Nachfragen war bei mir schon früh gelegt.

 

Kafi Schnaps – für Hinterländer einfach Kafi

Was viele nicht wissen, wir Hinterländer hatten eine Kafi-Mystik. Unser Kafi war anders als selbst der der Entlebucher, die bis Ende der Fünfzigerjahre keine Kaffeebohnen besassen. Sie machten ihren Kafi mit Zichorie oder Eicheln und mindestens 10 anderen Mitteln wie Rinden, Wurzeln oder gewissen Blättern. – Wir im Hinterland hatten sehr viele Missionare, Missionsbrüder und Missionsschwestern. Diese brachten, wenn sie in den seltenen Urlaub kamen ungeröstete Kaffeebohnen aus den Missionsländern mit. Das Hinterland hatte zusammen mit dem Oberwallis und der Gegend zwischen dem bündnerischen Domat/Ems und Ilanz die höchste Missionspersonalquote der Schweiz.

 

Wir tranken also den Kafi (ich rede nicht von Milchkaffee) aus Gläsern, nicht aus Chacheli, und dieser Kafi war durchsichtig, nicht wegen zuviel Schnaps, wie die Politiker in Luzern und Bern stets unterstellten. Es war Sparsamkeit im Umgang mit diesen kostbaren Bohnen. 4 vielleicht auf 1 l Wasser. Dazu etwas Frank Aroma, was aus Zichorie gemacht wird.

 

Unsere Mannen tranken abends oder in den dunklen und nebeligen Jahreszeiten den Kafi, blickten durchs Glas nach Afrika und halfen mit ihrer Verbundenheit mit, Heiden zu bekehren. Mit den Kaffeebohnen hatten wir einen Bezug zu Afrika. Das Unsere war bloss der Schnaps, den wir jedoch in dieser kargen Gegend auch nicht im Überfluss besassen. So hiess es dann, bei der Zugabe von Schnaps: „Der Kafi muss getauft werden.“

 

Sie sehen also, die Verbundenheit über Täler und Berge selbst in andere Kontinente wurde gepflegt. Mission verleihte unseren Hinterländern eine bestimmte Zeit lang eine Horizonterweiterung; man nahm mit Hilfe des Kafi die ganze Welt, also über Symbolik, mit hinein.  Etwas Ähnliches geschah später mit Coca Cola, bloss richtete es den Blick eher nach Amerika statt nach Afrika.

 

Ich möchte nur daran erinnern, dass ich ähnliche Zeremonielle eines Fernblicks bei afrikanischen Männern entweder beim Biertrinken oder beim Schlürfen der Kokosnussmilch wiederfand. 

 

Die Masai-Kühe

Vater Imfeld betrieb so etwas wie eine Braunvieh-Mission. Er kannte Braunkühe wie andere ihre Verwandtschaften. Jeden Sommer zog er über Obwaldens Alpen, schaute sich die Kühe und Jungvieh an und behielt es ganz genau im Auge. Mit 3 Griffen konnte er jede Kuh sofort bewerten.

 

Wenn jeweils im Herbst nach dem Alpabzug Jungvieh verkauft wurde, ging er auf alle Märkte – und kannte nachher alle guten Kühe. Er begann sie Luzerner Bauern zu empfehlen. Über die Braunvieh-Vermittlung von Vater Imfeld begann ein langsames Angleichen zwischen Obwalden und Luzern. Immer wieder sehen wir, dass der indirekte Weg viel wirksamer als der direkte ist.

 

Vater Imfeld wurde im ganzen Hinterland als Braunviehvermittler bekannt. Das ging dann fast weltweit weiter. In den Siebzigerjahren luden Imfelds jedes Jahr 10-12 afrikanische Bauern ein, um ihnen die Landwirtschaft rund um den Napf zu zeigen, etwa den Unterschied zwischen Emmental und Luzerner Hinterland und Entlebuch. Wie um einen Berg herum drei verschiedene Agrarkulturen entstanden waren, alle auch mit einem bestimmten religiösen Hintergrund.

 

Ich auf der anderen Seite dozierte in Afrika. Ein Semester lang lehrte ich in Nairobi an der Agrarfakultät. Da war einer der Studenten ein hochstämmiger Masai, diese stolzen Viehzüchter und ihrer bestimmten räumlichen Verschiebung des Viehs, fast so wie eine Form von Alpkultur.

 

Nun war dieser Hochschulstudent immer noch überzeugt, dass alle Kühe der Welt von den Masai-Kühen abstammten. Ich meinte zuerst, er scherze. Doch nein. Er glaubte, dass alle Kühe der Welt entweder von ihnen gestohlen wurden oder entlaufen seien.  Auch diesen Masai lud ich ins Luzerner Hinterland ein. Ich hatte Vater informiert und ich musste natürlich – wie immer – den Dolmetscher spielen.

 

Da kam der erste Tag. Am Abend sassen der Masai, Vater und ich zusammen. Vater fragte ihn ganz unschuldig, was er auf den ersten Blick zu den Braunkühen meine. Er gab seinen Glauben preis und meinte strikt: „All diese Kühe stammen von Masai-Kühen ab.“ Vater lächelte und sagte nur: „Wir machen morgen einen Rundgang.“

 

Am Morgen zogen wir auf die steil angelegte Weide, wo die Kühe auf ihren Rundungen, terrassenförmig durch die Jahre hindurch geformt, weideten.

Der Masai jammerte schon etwas beim Hochsteigen der Terrassen, dass dies ja reinste Tierquälerei sei, denn diese Kühe wären ja am Berg aufgehängt.

 

Dann kamen wir zu Vroni, Vaters Lieblingskuh, die aufblickte, zuerst zu Vater, dann den schwarzen hochgewachsenen Masai erblickte und – was sie sonst nie tat – erschrak, wütend wurde und auf ihn losging. Der Masai flüchtete den Berghang hinunter und Vroni mit dem Schwanz in der Luft ihm nachjagte, bis zum Zaun, den der Masai übersprang und Vroni stehen blieb und ihm ganz böse nachmuhte.

 

Beim Mittagessen sassen wir drei wieder zusammen. Der Masai und Vater schwiegen; der Masai blickte ganz beschämt auf den noch leeren Teller, bis Vater ihn fragte: „Was sagst du zu unseren Bedingungen im Berggebiet?“ Der Masai begann schüchtern und meinte, dass er heute erfahren habe, dass es noch andere als Masai-Kühe geben müsse, denn so etwas hätte eine Masaikuh nie getan, ihn verfolgen und sogar verachten.

 

Das war dann der Neubeginn. Vater sagte nur: „Du siehst, es gibt nichts auf Erden, das bloss von einem Ursprung ausgeht. Warum gibt es Ozeane zwischen uns? Genauso ist es innerhalb eines Kontinents. Überall gibt es Grenzen. Und so züchten Bauern weltweit und innerhalb eines Kontinents immer neue Tiere und Pflanzen. Es gibt Vielfalt. Nur Menschen sind blöde und meinen, sie seien das alleinige Zentrum und der Ursprung der Welt.“ Alle anderen seien erst nachher gekommen: Wir waren zuerst und unsere Kühe seinen die Besten. Oh, habe ich in der Jugend gelitten, dass unsere Kühe auf dem Schattenhöfli nicht soviel Milch gaben wie jene der Grossbauern Sidler oder Bucher. Für die anderen Buben war es klar, warum: „Ihr seid eben Tschifferler.“ 

 

Der rote Stiefel

Ich war mehrere Male in Senegal als Entwicklungsexperte zu Besuch. Da ist man manchmal abends ganz schön einsam, trinkt einen Whisky und schaut sich um. So auch an einem Silvester Ende der Achtzigerjahre. Als gefürchteter Evaluator hatte mich niemand eingeladen, und so fing ich früh zu Bett und stand morgens früh auf, um an die Meeresküste zu gehen. Ich liess mich auf einem Stein nieder, um die Fischerinnen aus etwas Distanz zu beobachten. Kurz nach 4 Uhr begannen sie alle zusammen, die Netze einzuziehen, gemeinsam mit hoohop, hoohop... Bis eine ruft und mit einem Finger in eine bestimmte Richtung zeigt:

„Dort, dort, ja, dort etwas Rotes. Es gibt keine rote Fische. Was ist das wohl?“ Das Ziehen bekommt ein neues Tempo. Bis eine ausruft: „Das ist ein Stiefel, ein roter Stiefel.“

Als das lang zusammengesetzte Netz eingezogen war, eilten alle auf die eine Stelle mit dem roten Stiefel. „Was bedeutet er? Am Neujahrsmorgen muss das einen besonderen Sinn geben. Aber was?“ Man kam nicht weiter, bis eine ausrief, man solle doch den Imam holen.

Der kam und beugte sich lange über den Stiefel.

Die Frauen ganz ungeduldig: „Sag uns, was bedeutet das?“

 

Die Deutung des Imam: „Ein Stiefel allein ist kein Stiefel. Es sind immer zwei. Also ist der andere irgendwo allein gelassen. Der hier und der dort müssen sich einst zusammenfinden.“ Dann hob er zu einem weiten moralischen Bogen aus: „Wir haben hier viel, sehr viel Resten aus dem Norden und all diese verstückelten Objekte müssen einmal mit den anderen wieder zusammenkommen.“

 

Zwei Jahre später kam ich zurück und ging ohne weitere Gedanken ans Meer und wanderte den gleichen Abschnitt von einst und sah vor mir unerhofft ein Bildstöcklein, wie wir sie im Hinterland bestens kennen. Es brannten Kerzen. Als ich um das Mahnmal herumlief, sehe ich in einer Nische den roten Stiefel, zwar etwas vergilbt und angerusst. 

 

Zufällig erklärte mir der Bürgermeister, wie schwierig Entwicklungsarbeit sei, denn das Volk sei so abergläubig. Er griff auf dieses Beispiel vom Stiefel zurück, ohne dass er eine Ahnung hatte, dass ich eingeweiht war.

„Leute kommen sogar von Mauretanien herunter, um zu beten, dass der andere Stiefel eintreffe und es ihnen besser gehe. Die Bürger wollten sogar mehr Abfall aus Europa, um so Schritt für Schritt zu den Gütern des Westens zu kommen.“

 

Ich lächelte, sagte nichts, aber dachte an einstige Traditionen bei uns im Hinterland. Nicht genau und exakt das Gleiche, doch ähnlich, wenn ich an Luthernbad oder an die Heiligblutlegende von Willisau denke. Auch hier hatten Menschen immer wieder Wunder erhofft. Diese Welt besteht dauernd aus Gegenseiten: die eine möglich, die andere für uns unmöglich.

 

Immer wieder die Kühe

Die gescheiten Forscher aus der Ethnologie oder der Agronomie nannten afrikanische Viehhalter einfach Nomaden, denn ihr Weideraum war bis tief in die Kolonialzeit hinein nicht eingegrenzt oder eingezäunt. Daher nahmen die Kolonialisten an, sie besässen kein Landrecht. Dennoch besassen sie ein ganz klar normiertes Gebiet; sie wussten ganz genau, wo und wann sie ihr Vieh weiden lassen konnten. Ich habe es bereits gesagt: Auch sie haben wie einst die Obwaldner ihr Transhumanz-System. Da gab es sogar Zyklen bis zu drei Jahren. Heute nennt man diese Völker wie die Masai oder Peul Pastoralisten, d.h. sie sind kulturell Ausübende einer Weidekultur.

 

Unter all den Pastoralvölkern gibt es den Brautpreis. Der Hauptbesitzer musste für seinen Sohn zur Heirat seine zukünftige Frau mit einer gewissen Zahl von Kühen abfinden. Heute ist das System zum eigentlichen Viehwucher ausgeartet, denn ein Pokot im Kenya gibt für eine schöne Frau bis zu 50 Kühen hin. Auch so noch, darf man es nicht einseitig sehen und meinen, dass bei einer Heirat eines Mannes der Clan verarmt. Man muss beide Seiten sehen. Es braucht daher viele Kinder und viele schöne Mädchen, denn so kamen auch wieder Kühe herein und das System hält sich in Balance. Wisst ihr nun, warum solche Völker keine Geburtenkontrolle wollen? Dennoch wird mit dem Geld der Tausch mehr und mehr ruiniert. Bräuche zerfallen und es zählt bloss noch Geld.

 

Es wurde übrigens nicht wie bei uns auf den Milchertrag einer Kuh geachtet. Alles, was zählte, waren die Hörner: wie gerundet, wie gross, wie weit ausgreifend. Hörner wurden geölt, geputzt und gepflegt.

 

Und wie war es bei uns rund um den Napf? Der Reichtum der Bauern wurde an seinen Kühen gemessen. Bei einer Brautschau achtete man ganz stark auf den Viehbestand und wie viele Jucharten Land der Vater des „gesuchten“ Bauernsohns besass.

 

Schönheit allein war es nie; immer spielten etwa Grösse des Hofs und das Milchquantum, das in der Käserei abgeliefert wurde, eine zentrale Rolle. Darüber wussten alle Bescheid. Es wurde öffentlich angeschrieben, wieviel Milch jeder Genossenschafter täglich zur Sennhütte brachte.

 

Mein Vater stieg in der Achtung, weil er eine Luzerner Bauerntochter aus den höchsten Rängen heiratete. Ja, wie kam „der“ nur zu „dieser Frau“? Wurde mein Vater ein Luzerner über die Kühe des Schwiegervaters?

 

Homecoming

 Afrikaner kommen zum Sterben auf den Ort der Kindheit zurück. Einer der grössten modernen Dramatiker Afrikas, Sony Labou Tansi, ging zum Sterben in den kongolesischen Tropenwald zurück. Er hatte lange in Frankreich gelebt und gewirkt. Als er schwer krank wurde, ging er nicht – wie ihm offeriert –in eines der besten Pariser Krankenhäuser. „Nein, no no,“ sagte er, „ich muss zum Sterben dorthin, wo ich geboren wurde.“ 

 

Mein Vater handelte ähnlich. Frühzeitig übergab er den Hof  zwei von meinen Brüdern, um anschliessend sich als Parkwärter auf Melchsee-Frutt zu bewerben. Er wurde angenommen. Statt Kühe hütete er nun Autos. Doch er hielt es nach einigen Jahren kaum mehr aus. Er klagte: „Die Menschen, die hierher kommen, denen fehlt der Respekt für Alpwiesen und Kühen.“ Er ging eines Tags hinunter in den Ranft zum Bruder Klaus. Er kam zurück mit der Antwort: „Bruder Klaus sagte mir, geh lieber mit Bauern Jassen.“ Er kehrte ins Luzernerland zurück und starb bald darauf beim Bockausspielen an einem Herzinfarkt.

 

Schluss

Ich bin in einer noch stark mythisch und schamanistisch denkenden Welt aufgewachsen. Alles besass eine Gegenwelt; somit beeinflusste ein Ding ein entsprechend anderes Ding. Für alles gab es jemand, der oder die zuständig war. Nehmt all unsere Heiligen vom Säutoni bis zur Spreng-Barbara, von der Apollonia gegen Zahnweh bis zum Antonius, der zur Suche von verlorenen Dingen eingesetzt wurde. 

 

Dazu kamen die Armen Seelen. Diese waren auf unser Gebet angewiesen, damit sie die Pyramide hoch bis in den Himmel kamen. Sie geisterten, um uns an sie zu erinnern. Dasselbe mit den Ahnen in Afrika.  In Afrika stirbt man erst, wenn niemand auf dieser Seite an die Verstorbenen auf der anderen Seite denkt. Also greifen sie mit Krankheit und Unglück ein, um sich bei den Verwandten wieder ins Bewusstsein zu bringen und um zu mahnen: Vergisst uns nicht. War es nicht ähnlich mit den Armen Seelen? Man hielt Jahresgedächtnisse bis zu 200 Jahren zurück und verkündete sonntags diese Gedächtnisse von der Kanzel herab. So setzte man die Erinnerung fort. Aber es war mehr als sie: es ging um das ganze Geflecht des Zusammenhalts.

 

So begriff ich als Hinterländer/Obwaldner leicht die Hauptsätze einer afrikanischen Theologie:

 

  1. Ich existiere nur zusammen mit einem Wir. Glauben bedeutet

 Zugehörigkeit. To be is to participate

Aneinander denken, ist auch über den Tod hinaus wichtig.

 

  1. Alles hat etwas Kraft oder Macht. Nicht nur der Mensch hat Kräfte – auch Tiere und Pflanzen haben Kräfte, die sich auswirken. Viele aufgeklärte Menschen meinen, das sei Magie. Dennoch stehe ich dazu, ob die Puritaner wollen oder nicht, es existieren neben ihrer Welt noch andere Räume, einer davon heisst Magie.

 

Das sind bloss zwei Grundsätze, wo sich die Bergler und die Afrikaner ähneln. Jedoch ist alles in Fluss; hier wie dort scheint manches zu verschwinden. Man nennt das Aufklärung. Doch bin ich heute überzeugt, dass diese vieles nur in den Hintergrund verschoben hat, i.a.W. verdrängt haben, ohne es seriös aufzuarbeiten. Im Untergrund der Menschen sind noch immer Schamanismus und Magie vorhanden. Daher brauchen wir wohl plötzlich so viele Psychoanalytiker.

 

Danke.

 

&&&

 

Al Imfeld©

Referat am Historischen Museum Obwalden, Sarnen OW

Dienstag 6. Nov. 2012

Im Kontext der Ausstellung „Die andere Seite der Welt“

Geschichten der humanitären Schweiz