Von Kleinkirchen und Kleinkriegen
3. Teil eines dreiteiligen Essays über Afrikas Zerfall
1. Teil 2. Teil
Heutige Stimmung
Fällt Afrika zurück zur Kleingesellschaft oder wird es zu nichts als Kleinkram im Durcheinander und muss man die heutige Lage als Zerfall festhalten? Viele Vorkommnisse wirken konfus und sind für westliche Menschen kaum mehr verstehbar.
Momentan kennt der Kontinent keine Kriege; die grossen Unabhängigkeitsbewegungen haben ihr Ziel erreicht, doch scheint es, dass der Bevölkerung nicht viel zugute gekommen ist. Elan und Schwung der Zeit nach dem scheinbaren Ende des Kolonialismus sind verschwunden. Neue Ideen findet man nicht; Visionen schon gar nicht. Man lebt in der Desillusion. Führer und Leuchtgestalten gibt es im politischen Feld keine mehr. Persönlichkeiten wie Nkrumah, Senghor, Lumumba, Neto, Nyerere oder Kaunda sind tot. Keine Köpfe mit zündenden Ideen mehr, bloss Ströme von Frust und Wut; keine Programme, nur unerfüllbare Wünsche.
Das letzte zündende und inspirierende Symbol, Nelson Mandela, stirbt langsam ab und sein Geist wird schon in den letzten Lebensjahren vernebelt von Neid, Gier, Geld und Machtkämpfen. Die Geduld eines Mandela, der 27 Jahre lang auf Freiheit warten musste, existiert nicht mehr; man will alles sofort und instant. Millionen leben daher in den Tag hinein und wursteln ums Überleben. Der einst sehr humorvolle und lächelnde afrikanische Mensch wird von Griesgram befallen. Er hat sogar jegliche Immunität verloren; die einstigen Tropenkrankheiten sind zurückgekehrt.
Die gut 10 Millionen Anhänger von neuen Kleinkirchen auf dem Kontinent, die das Weltende gepredigt bekommen und vom baldigen Weltuntergang überzeugt sind, sind keine mathematische oder statistische Zahl, da es heute auf diesem Kontinent nichts mehr zahlenmässig Erfassbares gibt. Die Zahl stammt indirekt von einem kongolesischen Weltuntergang- Prediger: „10 Millionen Gläubige haben es doch in der Hand, Gott zu zwingen, dass er endlich wiederkehrt, und die Welt verbrennt und neu macht.“
Dieser Radikalismus, aus Frust geboren, existiert sowohl beim Islam wie im Christentum. Falls ER oder ALLAH nicht kommt, schiesst man sich selbst ins Paradies. Fanatiker morden Menschen stets mit der Überzeugung, diesen sogar einen Dienst zu erweisen: „Sind sie unschuldig, dann geschieht ihnen nichts, ja, eher umgekehrt, sie werden erlöst und landen im Paradies.“
Seit 1960 explodierten die traditionell, islamisch und/oder christlich inspirierten afrikanischen Kleinkirchen von etwa 10'000 auf 50'000. Die meisten unter ihnen greifen auf den Hl. Geist zurück, der damals in Jerusalem die Menschen aus allen Ländern mit ganz verschiedenen Sprachen einander verstehen liess: Es waren all die heute unzählbar gewordenen Pfingstkirchen oder Pentecostals. Parallel dazu gesellten sich die zionistischen Kirchen, die eine neue Stadt Gottes auf eiem neuen Berg Zion herbeisingen und –tanzen, the Zionists. Schliesslich die Wunderheilkirchen, the healing churches, mit Handauflegung und Glossolalie, begleitet von den Kirchen, die hier oder dort, jetzt oder später, materiellen und spirituellen Reichtum versprechen. Ich wage zu sagen, all diese unzähligen menschlichen Kirchen oder Religionen greifen Sehnsüchte von verarmten und verwirrten, hoffnungslosen und entwurzelten, von orientierungslosen Menschen auf; sie sind Abbilder der Lage der meisten afrikanischen Menschen von heute.
Jede Kirche ist klein, für sich, missioniert nicht, schaut aber nach der Nachbarschaft und schafft Gemeinschaft übers Wochenende. Diese Kirchen ähneln den einstigen Hauskirchen im schweizerischen Emmen- und Tösstal. Auch sie waren klein mit einem fundamentalistischen Hang.
Ähnliche Splittergruppen entstehen laufend im Islam am Horn von Afrika, im Norden Nigerias und in der Wüste Sahara. Sie berufen sich auf den Jihad oder Hl. Krieg, wollen zurück zu einer imaginären Ur-Scharia; lesen den Koran selektiv und deuten die Zeichen der Zeit zu ihren Gunsten. Schrift wird nicht gedeutet, nein, es wird in sie hineingelesen.
Vielerorts blutiger Kampf aber kein Krieg
Afrikas Lage ist sonderbar. Kriege, der klassischen Definition nach, gibt es keine; die ehemaligen Freiheitskämpfer sind in Positionen des Erfolgs. Mehr und mehr hat sich offenbart, dass diese Guerillas nicht für ein Land oder gar eine Nation gekämpft haben, denn sie pflegten sich gar keine Vorstellungen dafür zu machen, wollten nur die Unabhängigkeit oder Freedom ihrer Kolonie. Was nachher geschehen würde, davon hatten sie kaum eine Vorstellung; einige dachten sogar, dass Glück und Reichtum für sie vom Himmel fallen würden. Sie dachten an sich und ihre Mitkämpfer, die belohnt werden wollten und für einen sinnvollen Platz in der heutigen Gesellschaft oft bis zur Gnadenlosigkeit rangen. Die meisten stellen sich nichts anderes als einen Wechsel von scheinbar reichen Weissen zu endlich belohnten Schwarzen vor. Dass sie mit dem Ende der Kolonie einen grundsätzlichen Systemwechsel vornähmen, war überhaupt nicht in ihrem Blickfeld.
Denken wir etwa an die südafrikanische ANC. Was war „Südafrika“ für sie? Bestimmt kein Land im westlichen Sinn. Sie kämpften gegen die Apartheid, aber nicht für ein neues Südafrika. Vielleicht wollten sie gar die Bantustan als befreiten Staat weiterführen? Sie waren eher Schatzsucher und nur im afrikanischen Sinn Freiheitskämpfer. Sie hatten nicht daran gedacht, dass dieses Land Südafrika gemischt aus Weiss und Schwarz, aus Bantu und Khoisan, Asiaten und Juden war. Wie sie mit diesen zusammen- und weiterleben wollten, darüber hatte höchstens ein gereifter Mandela im Gefängnis Gedanken gemacht, sicher nicht die Kämpfer im Busch oder in den Sümpfen. Und so entstand nach Ende der Apartheid kein Staat, obwohl Mandela eine Regenbogen-Nation deklarierte. Wer jedoch verstand ihn? Die meisten Kämpfer – davon ausgeschlossen einige jüdischer Abstammung, einige Asiaten und Mischlinge, doch diesen trauten die gewöhnlichen Kämpfer nie; man benutzte sie, um früher ans Ziel zu kommen. Für die meisten bestand Freiheit in eigenem Besitz, schönen Autos, luxuriösen Wohnungen mit vielen beautiful girls. Jacob Zuma, der jetzige Präsident, ein Protzklotz, wurde immer mehr zum Vorbild, nicht ein bescheidener Nelson Mandela.
Ganz offensichtlich war solches Denken und Gelüsten der Hintergrund der zimbabweschen Kämpfer. Sie waren schon im Camp nicht gesittet und verhielten sich schon dort wie Haudegen. Kein Recht wurde studiert, keine kommende Verfassung entworfen; das Exerzieren mit Waffen ging vor. Als sie heimkehrten, wollte jeder Kämpfer seinen Lohn. In dieser Lage war auch gar nicht an eine Landreform zu denken; sie alle dachten bloss an Übernahme. Und so löste Ungerechtigkeit neue Ungerechtigkeit ab.
Gleiches war bereits in Kenya passiert, auch da hatten die Kämpfer eine Analyse unterlassen; sie dachten primär an das gestohlene Land, nicht jedoch an ein nachfolgendes neues Recht; man hatte (typisch Bantu ohne Futurum in ihrer Sprache) die Zukunft ausgelassen. Die Mau- Mau Sieger waren Kikuyu, und dieses Volk vergass die etwa 20 anderen – allen voran die Luo – Völker auf dem Gelände. Kenyatta und arap Moi wurden innerhalb ihres Landes zu den neuen Kolonialisten. Schon das Symbol des Kampfes, Yomo Kenyatta, riss Grossgrundbesitz an sich, genauso wie die kolonialen Vorgänger, die Briten. Moi gehören heute praktische alle Blumenfarmen. Die neuen Arbeitsplätze unter den Befreiern waren schlechter als zur Kolonialzeit bezahlt.
Rückblickend wagt man zu sagen, dass dort, wo es keinen Unabhängigkeits- oder Freiheitskrieg gab, nach Übergabe der Kolonie noch eher ein Wille zu einem Aufbau für ein Volk da war.
Plünderung und Schlächterei anstelle von Krieg
Die ganze Tragödie kommt heute an den Tag. So kann man feststellen, dass es in Afrika keinen Krieg mehr gibt, dafür ungefähr 20 schmutzige, gemeine und blutige Kleinschlächtereien innerhalb von Somalia, Sudan, Burundi, Zentralafrika, Tschad, Niger, Mali, Kongo, u.a. Vielleicht hat man dazu auch die Bandenkriege in den Megastädten wie Johannesburg, Kapstadt, Nairobi, Mogadischu, Kampala, Abidjan, Kinshasa, Brazzaville und in den Städten im Kupfergürtel Sambias zu rechnen. Man raubt, rächt, betrügt, vergiftet, verhext, geht bestimmten Körperteilen nach, um sie für magische Zwecke zu verkaufen.
Einer gängigen Definition nach sind diese Wirrnisse keine Kriege, denn es gibt kein Kriegsgebiet, keine äusserlich an Uniformen erkennbaren Soldaten, kein klares Konfliktgebiet, keine Trennung zwischen Soldaten und Zivilisten. Gab es einst den erklärten Krieg mit Heeren im offenen Feld, gibt es heute bloss den Hinterhalt. In den 1950er Jahren entstand der Guerilla-Krieg mit überraschenden blutigen Überfällen und danach sofortigem Rückzug in den Untergrund. Heute tritt anstelle eines Heers der Gang ohne politisches Ziel, mit der einzigen Ideologie, rasch Geld zu machen. Es sind organisierte Überfälle. Dazu kommen Magie und Sadismus, ein Wut- Auslassen an Frauen und Kindern. Fetisch ist die Kalaschnikow.
Auf dem gegebenen Hintergrund kann ich nicht einmal ein Zerfallen des Staates sehen. Für mich sind es keine failed states, weil es nach der Kolonie noch gar keinen Staat gab. Nach der Kolonie die Konfusion, die sich bis heute noch nicht in eine Ordnung entwickelt hat.
Die Zeit der Unabhängigkeit fiel noch in die Phase des Kalten Kriegs. Die neuen „Staaten“ schlossen sich entweder der Sowjetunion oder den USA an und erhielten dafür Belohnung, resp. Entwicklungshilfe. Mit 1990 ging diese Zeit zuende; der politische Druck fiel weg; man nannte schon diesen Zustand Demokratisierung. Gewehren für jedermann kamen auf den Markt. Bald kam als Ersatz des Kalten Kriegs der Terrorismus. Der Westen wurde wild und blind; überall sah er Terror spriessen, und schon wieder floss Geld in die Sicherheit oder ins Militär. Ganze Volksgruppen kamen in Verdacht.
Einige Frustrierte nutzten die Lage und setzten zum Raubzug an. So kam selbst im Niger-Delta oder in Darfur alles durcheinander. Die gerecht Kämpfenden wurden von Gangstern benutzt. Die Vermischung zwischen nobler Absicht und Raubrittertum herrscht heute im Niger-Delta, zwischen denen, die ehrlich und verloren gegen die Erdölindustrie mit ihren katastrophalen Folgen kämpfen und denen, die räuberisch und systematisch Ölleitungen zu ihrem Nutzen anzapfen. Im Wüstengebiet kommt es neben ehrlich kämpfenden Tuareg zu versprengten Gruppen von Wegelagern bis zu Terroristen, die sich als afrikanische Al-Kaida ausgeben und Touristen entführen. Die Tuareg möchten einen unabhängigen Staat; die anderen Geld.
Ähnlich sieht es aus am Horn Afrikas: die Oromo möchten wie die Eritreer Unabhängigkeit von Äthiopien; Lokalherren und Warlords wollen ihr kleines Stadtreich; Gängsterbanden gelüsten nach Macht im Kleinen und überfallen Reiche oder andere Banden, ähnlich wie einst zur Pastoralzeit, wo man einander Vieh zu rauben suchte. Somalische u.a. Gruppen überfallen Schiffe, um damit Geld zu erpressen. Verschiedene islamische Ausrichtungen(allen voran die Shabab-Miliz) wollen ihren radikalen Islam praktizieren. Ein Aussenstehender kann dieses somalische Durcheinander niemals verstehen; aber wahrscheinlich die Somalier selbst auch nicht.
Schluss
Viele Gangster - Gruppen glaubten, in diesem verrückten Spiel mitspielen zu können. Geld wurde das Nachfolgewort von Freiheit. Gier hat Gerechtigkeit abgelöst. Das betrifft vor allem die islamischen Gebiete von Somalia, Nordnigeria und die total unübersichtliche Zone der Sahara und des Sahel.
Bei ihnen vermischen sich Glaube und Geld, selbst bei all den neuen afrikanischen Kirchen. Landhunger und Sadismus, Rachegelüste und vage himmlische Sehnsüchte.
Wer Afrika von heute in etwa begreifen möchte, kommt nicht an einer wilden Mixtur vieler Einflüsse und mancher Sehnsüchte vorbei. Da werden selbst Chaos und Grausamkeit zu Religion.
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Al Imfeld© 1. April 2012