50 Jahre nach den Festen der Unabhängigkeit auf dem afrikanischen Kontinent
2. Teil eines dreiteiligen Essays
1. Teil 3. Teil
Einführung in die postkoloniale Lage
Auf dem afrikanischen Kontinent südlich der Sahara bildet sich alles wieder ins unüberschaubare Kleine zurück. Einige sagen, das sei eine Rückkehr zu den Stämmen. Eigentlich gab es längst keine traditionellen Stämme mehr, so wie die Ethnologie sie definiert und studiert hatte, denn alles auf diesem Kontinent war längst durchmischt und hybrid. Und so war der ethnologische Stammesbegriff nur eine koloniale Fiktion oder gar ein Wunschdenken. Die Kolonialzeit hatte geradezu eine Lust, Scheingebilde wie neue Länder, Territorien und Stämme zu kreieren. Alles wurde ihren Forschungs- und Verwaltungsvorstellungen angepasst, d.h. eine unvorstellbare Vielfalt von kleinen Einheiten oder für Aussenstehende ein Durcheinander wurde für Europäer zweckorientiert und dementsprechend hergerichtet. Afrika wurde eingeteilt, und das wurde Modernisierung genannt; erhielt europäische Namen, und wurde so für die abendländische Wissenschaft getauft.
Sowohl Europäer als selbst Afrikaner begriffen nicht, was am Ende der Kolonialzeit geschah: Alle meinten naiv, dass nun aus Kolonien einfach durch die Erklärung der Unabhängigkeit Nationalstaaten würden. Doch eine Kolonie war primär eine Verwaltungseinheit und umfasste mehrere kleinere und grössere Völker, die von den Kolonialmächten zu Stämmen degradiert wurden. Dahinter standen mehrere Vorurteile, die dienstlich gemacht wurden, sowohl bewusst und absichtliche Unterstellungen, etwa Rückständigkeit, ohne Landbesitzrecht, ohne Landwirtschaft, ohne Religion, ohne eigene Geschichte. Das alles, weil ihnen allen Nomadismus unterstellt wurde. Innerhalb der Kolonie Nigeria lebten über 400 Völker oder Ethnien, von den Kolonialherren Stämme genannt; im kolonialen Tansania waren um die 200 Kleinvölker zusammengefasst. Innerhalb bestimmter Kolonien wirkten verschiedene Religionen, ganz ausgeprägt und je schon mit Spannungen versehen, etwa im Sudan, in Nigeria und in der Elfenbeinküste.
Selbst die UNO wollte status quo mit ein paar Namensänderungen
Um von Beginn der gewährten Unabhängigkeit interne Kleinkriege zu vermeiden, schuf die UNO über die OAU (Organisation afrikanischer Staaten) ein eigenes Völkerrecht, in dem auf den Unabhängigkeitsvorgang vorgegeben wurde, dass eine Kolonie bei der Unabhängigkeit sich nicht in verschiedene Kleinstaaten aufspalten oder neu organisieren darf, und dass die, in der Kolonialzeit willkürlich mit dem Lineal gezogene Grenzen, nicht verändert werden können. So blieb Senegal durch Gambia in der Mitte getrennt vom Süden der Casamance. Gambia, ein Schlauchgebiete etwa 24 km breit entlang des Gambia Flusses in britischem Besitz und somit Englisch sprechend; Senegal aber ein frankophones Land. So wurde die Casamance abgeschnitten vom nördlichen Teil und der Hauptstadt Dakar. Dazu kommt, dass der Norden islamisch, der Süden jedoch traditionell und christlich ist. Das Ganze lässt sich mit dem Sudan und seinem Süden vergleichen.
Das waren also Vorgaben bei der Unabhängigkeit der heute etwa 50 Staaten südlich der Sahara. Um einen Zusammenhalt von Beginn weg zu erhalten, blieb die Kolonialsprache als Band. Falls dabei Ausnahmen wie in Nigeria gemacht wurden, war ein Spaltpilz bereits angesetzt. Es wurden in Nigeria neben Englisch die Sprachen der 4 grössten Völker innerhalb des neuen Staats in den Rang von Nationalsprachen (Yoruba, Ibo, Hausa, Fulani) aufgenommen. Die logische Folge war, dass die unmittelbar den vier grössten nachfolgenden Völker andere „Grosse“ dasselbe forderten, darauf pochend: wenn schon 4, warum nicht 5 oder 6 andere?
Dort, wo der Islam vorherrschte, wie im Sudan, in Nordnigeria und Nordelfenbeinküste, wurde Arabisch durch die Koranschulen verbreitet. Die Frage nach dem Arabischen südlich der Sahara blieb nach der Unabhängigkeit wie ein Tabu im Raum stehen. Der Sudan tat genau dasselbe wie die Briten und Franzosen in ihren Kolonien und erklärte für den Süden Arabisch als Verwaltungssprache. Die zwei islamischen Gebiete Nordnigeria und Nordelfenbeinküste hatten die koloniale Schule nicht angenommen, lernten daher weder Englisch noch Französisch, folglich kam niemand in die koloniale Verwaltung hinein. Daraus entstand jedoch nach der Unabhängigkeit der Vorwurf der Diskriminierung und somit Spaltstoff.
Alles, was auch die UNO zuliess, waren Namensänderungen von neuen Staaten und der Bau neuer Hauptstädte (dies auch deshalb, weil es für die Ex-Kolonialmächte wirtschaftlich interessant war und es auch der Entwicklungshilfe diente) So entstanden aus der Goldküste Ghana, aus Dahomey Benin, aus Rhodesien Zimbabwe, aus dem Kongo Zaire, um nur einige zu nennen. Zu den neuen Hauptstädten gehören etwa Dodoma, Lilongwe, Abuja u.a.
Ausgangslage wurde nicht analysiert
Die Unabhängigkeitsphase löste eine kurze Zeit der Begeisterung aus. Die Völker nahmen kaum wahr, dass sie wenig gewonnen hatten und vor einem gähnenden Nichts standen. Ausser einer Fahne und einer Nationalhymne hatten die Betroffenen nichts in Händen. Demokratie wurde in der Kolonialzeit bestimmt nie gelehrt; man hatte Nicker und Kriecher herangebildet. So übernahmen die Wendehälse aus der Kolonialzeit die Macht und einen Staat, den es eigentlich nicht gab. Die meisten Führer kannten gar kein Volk nur ihren eigenen Vorteil; sie machten sich daher die Gunst ihrer Zeit zunutzen.
Noch ein anderes Erbe stand stets bedrohlich im Hintergrund: die Militärs, die der Kolonialherr herangebildet hatte und die dem Hauptquartier in Sandhurst oder Froideterre eng verbunden blieben. Die Armee war nie unabhängig geworden; Waffenbrüderschaft blieb stark. In allen Ex-Kolonien hält Frankreich bis heute eine eigene Truppe. Die neuen Militärs waren gar nie lokal orientiert oder mit der Bevölkerung verbunden. Sie hatten keine Ahnung, was Landesverteidigung ist; in den Köpfen lebte noch immer und fort die „gute alte Zeit“ der Kolonie. Zu verteidigen galt es nur den egoistischen oder selbstzentrierten Autokraten und die schmale Schicht um ihn. Eine Überlegung, welche Dienste eine Armee für ein Land auf dem Weg zur Nation zu leisten hatte, wurden nie angestellt. Das Militär blieb fremdbestimmt und bestellte gierig neue fremde Waffen.
Die an der Macht waren beuteten aus, sogar im Gegensatz zu den Kolonialisten, die immerhin im Dienst des Heimatlandes standen. Die erstaunlich hohe Verbundenheit der afrikanischen Führer von heute mit Frankreich oder Grossbritannien beweist das; ihre Orientierung bleibt kolonial; sie stützen sich nicht aufs eigene Volk. Sie leisten ihm keinen Dienst.
In den Schulen fand nach der Unabhängigkeit keine Umstellung statt. Man machte sich keine Überlegungen darüber, dass Schule stets mit einem System, einem Glauben oder einer Politik verbunden ist und stellte sich nicht die Frage, welche Schule das nun unabhängig gewordene Afrika brauchen würde. Da der „neue Staat“ die Schulen übernahm, jedoch die guten Lehrer höchstens in die Verwaltung abzog, keine Curriculum- und Lehrmittelentwicklung vornahm, zerfiel das Erziehungswesen nicht nur, sondern der alte Geist blieb weiterhin in den Büchern und Köpfen wirksam. Es tönt unglaublich, dass es im frankophonen Westafrika noch heute Schulbücher gibt, in denen steht, die Afrikaner würden von Galliern abstammen.
Selbst in der Wirtschaft wurde bis heute das Kolonialsystem weitergeführt, indem wie einst Rohstoffe exportiert werden, ohne sie vorher zu bearbeiten, um zu Mehrwert zu kommen. Eine langsame Umlagerung der Produktion hat nie eingesetzt. Kein Industrieaufbau entstand; nur der Einzug der transnationalen Firmen setzte ein. Auch an einen wahren und systematischen Aufbau einer Infrastruktur, den die Kolonialisten bewusst vernachlässigt hatten, ging man nicht: kein Strassenbau, kein Stromnetz für eine Elektrifizierung, kein landesweites Telefonsystem; die Eisenbahn liess man hinter sich liegen und verrotten; man liess die einstigen Herren für sich in die Luftfahrt einsteigen, andere bauten – als sog. Entwicklung - teure Fluglinien auf, und diese liessen nach und nach alles bankrott gehen, nachdem das Kapital abgezogen worden war. Es wurde um des Prestiges willen aus dem „Mutterland“ weiterhin importiert und die Rabenmutter gab ihnen, was sie an Überschuss und Abfall hatte.
Da hilft Hilfe nichts
Das ist im Grunde nicht nur Afrikas Malaise sondern auch das der gesamten Entwicklungshilfe oder Entwicklungszusammenarbeit, ein schönfärberisches Wort, da es bis heute niemals eine auch nur im Ansatz gutwillige Zusammenarbeit gab, die auf Veränderung der kolonialen Strukturen hinarbeitete. Dieser Hintergrund schuf genau das Klima für Chinas Morgen auf dem Kontinent.
Das Ende einer Kolonisation muss auch im Kopf beginnen; ein Umdenken hat sowohl im Norden wie im Süden niemals stattgefunden. Traurig ist vor allem, dass Europa nicht mitdenken half; dass eine 68er Bewegung sich dieses Themas nicht angenommen hat; dass auch die Gewerkschaften niemals eine befreiende Rolle spielten; dass die Menschen im Norden zu engstirnig waren, weil ihre Medien kaum Aufklärung leisteten, und somit dem eigentlich journalistischen Auftrag nicht nachkamen; dass gerade die sog. Engagierten Angst vor einer globalen Denkweise haben.
Immer noch in der Kolonialzeit
Eine Umorientierung fand auf keiner Ebene statt; mit der Unabhängigkeit wirkte ein softer Kolonialismus weiter, er war daher versteckt und deshalb schlimmer; er kam über die eigenen Leute daher und somit fürs gemeine Volk unerkannt. Ein Nation-building fand auf keinen Fall statt. Das Gegenteil traf schleichend ein; zunächst ein Zerfall, von Mikroben und Viren wie bei einer Pandemie alle und alles ansteckend. Ein Symbol dafür ist AIDS, sind die Slums und der zu Bergen heranwachsende Abfall und Dreck.
Afrikas Menschen haben die Würfe während der Kolonialzeit verloren; haben jedoch weder Würde noch Respekt in der Phase nach der Unabhängigkeit zurückgewonnen. Sie wurden zu Dreck. Und Scheisse kann niemand mit Geld und Hilfe allein beseitigen. Afrikas Menschen müssen die Würde zurückgewinnen. Das beginnt ganz unten, indem sie endlich beginnen, sich gegen offenen und versteckten Kolonialismus, hard and soft colonialism, Widerstand zu leisten.
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Al Imfeld© Ende März 2012