Gantry 5

Vom unüberschaubaren Kleinen zum konfusen Durcheinander nach der Kolonialzeit
1. Teil eines dreiteiligen Essays
2. Teil   3. Teil 


Etwas Rückgriff in die Geschichte
Allüberall heisst es, Afrika zersplittere sich zusehends. Wahrscheinlich übersehen diese Beurteiler etwas oder sie gehen von falschen Annahmen aus. Vergessen wir nicht, dass vor der Kolonialzeit Afrika ein Kontinent von unzähligen Kleinstaaten oder afrikanischen Fürstentümern unter der Führung von Chiefs oder Häuptlingen war. Es gab zwischen 3 und 5 Tausend Sprachen – je nachdem, wie Varianten oder Dialekte eingestuft werden. Ich habe es immer wieder gehört, ob in London oder Paris, ja sogar in Brüssel, aber auch am Sitz der Organisation Afrikanischer Union (OAU) in Adis Abeba, dass der Kolonialismus Afrika zusammengebracht habe. Man kann daher davon ausgehen, dass vor dem Kolonialismus um 1850 herum Afrika zersplittert war und sich all die Kleinvölker während der langen Phase der Sklavenjagden gegenseitig ausspielten. So gab es von zwei bekannten damaligen Grossvölkern, den Yoruba und Ashanti, keine Sklaven, denn sie holten sich ihre Quote, welche die arabischen Händler regelmässig abverlangten, bei Nachbarvölkern, etwa den Ewe. Der ghanaische Schriftsteller Yaw Boateng hat bereits früh diese traurige Hetzjagd der Ashanti auf die Ewe im Roman The Return anschaulich dargestellt. Er musste daher in den 1970er Jahren Ghana verlassen. Es herrschte nicht einfach Friede und Harmonie vor der kolonialen Zeit. Ähnliches liesse sich auch von den Pastoralvölkern im heutige Kenya schildern: Man versuchte, einander das Vieh zu stehlen; mit dem Aufkommen westlicher Waffen wurde dieser Raub nicht nur ein Spass und Spiel, sondern mörderische Realität.

Die kolonialen Mächte Grossbritannien, Frankreich, Deutschland, Portugal, Spanien und Belgien haben in der historischen Berliner Konferenz 1885-86
Afrika einfach mit Massstab und Lineal aufgeteilt. Man hat damals diesen Vorgang sogar als Vereinheitlichung Afrikas bezeichnet. Ja, das war die erste Einheit Afrikas; und sie war prägend. So sehr, dass mit Lineal gezogene Grenzen mit der Unabhängigkeit nicht einfach aufgelöst werden konnten. Nehmen wir das Beispiel Nordnigeria und Niger: der Kolonialist hatte beiden verwandten Teilen eine neue Sprache gegeben, denn auf der einen Seite wurde französisch, auf der anderen Seite englisch verwaltet. Wohl blieb die lokale Sprache, doch selbst diese hatte sich unter anderen politischen und wirtschaftlichen Gegebenheiten schrittweise verändert.

Den Deutschen wurden nach ihrer Niederlage im 1. Weltkrieg alle Kolonien weggenommen: Ostafrika mit Tanganyika, Ruanda und Burundi, in Westafrika Togo und Teile Kameruns, im südlichen Afrika war es Deutschsüdwest. Alle Teile wurden je nachdem einer anderen Kolonialmacht in Kommission gegeben; so legte sich auf ein verstossenes afrikanisches Erbe ein bereits mythisch keimender germanischer Layer und verschmolz teilweise gar mit der alten Tradition. Diese andere Vergangenheit blieb und wurde schrittweise erhöht. Die Menschen in diesen Gegenden leben mit einem anderen Kulturgefühl.

Die falsche Erwartung
Die Kolonialherrschaften entliessen mühsam und knauserig, sogar erbost und im Zorn ihre Kolonien und nahmen notgedrungen an, dass ihre Kolonie nun zum Nationalstaat würde. Das war eine Illusion, denn sie hatten doch nichts vorbereitet und auf diesen Zustand hin unternommen. Es gab in den Kolonien keine Demokratie. Es gab bloss das stumme Kriechen, ein In-sich-hinein-Fluchen. Der Kolonialherr liess keine Widerrede und Widerstand zu. Er zerstörte systematisch die Würde der Menschen, behandelte sie als Primitive und Rückständige. Wohl liess man Kinder zur Schule gehen, aber schon die Schulhäuser waren eher Viehunterständen vergleichbar, keine Kunst an den Wänden, höchstens ein Kreuz, oft zusammen mit einem Kitschbild. Das Curriculum war so einseitig und mager, stets in der Annahme, dass Mehr für diese Kinder gar nicht nötig ist. Etwas Afrikanisches oder der Umwelt Angepasstes gab es nicht. Schule bedeutete den reinen Isolationismus, etwas auswendig lernen, bloss nicht selbständig zu denken, sondern einfach wie eine Maschine das Gehörte herunter zu rattern. Denken sollte die Schule die Untertanen ja nicht lehren. Bloss befolgen und gehorchen.

Auf diesem Hintergrund - was sollte nun nach der ausgesprochenen Unabhängigkeit Kreatives geschehen? Die Völker Afrikas wurden sogar ohne Badehose ins Wasser geworfen; und - wie üblich für Afrikaner - fast keiner konnte schwimmen.

Eine Vision hatte nach der Unabhängigkeit 1957 zu Beginn Kwame Nkrumah, der von seinem langen Aufenthalt in den USA eine Sicht von einem Panafrika heimbrachte. Sein Bild war vom karibische Visionär Marcus Garvey beeinflusst. Er konnte mit seiner neuen Sicht Afrikas Schwarze in den USA, der Karibik und Grossbritannien begeistern. Ein anderer Ort, wo der Begriff von einem geeinten Grossafrika geschaffen wurde, war Paris, wo sich um Aimé Césaire und Leopold Senghor die dynamische Bewegung der Négritude während und nach dem 2. Weltkrieg entwickelte. Man kann sogar behaupten: Afrika entstand im Ausland. Als jedoch Nkrumah zusammen mit Sékou Touré (Guinea, frz. Kolonie) einen Anfang im Zusammenschluss der 2 neu entstandenen Länder machen wollte, dann selbst Mali (um an das alte Mali-Reich gemahnt zu werden) zur Union gewinnen wollte, kam der heftigste Protest von „Afrika“ selbst. Frankophonie und Anglophonie hatten längst ein anderes Afrika, ein geteiltes, geschaffen.

Auch die in diesem Geist geschaffene OAU mit Sitz in Adis Abeba blieb eine Fiktion, wo man sich traf, palaverte, grosse Worte in die Welt hinaus sprach und nie etwas Konkretes verwirklichte. Mit der später erneuerten OAU und neu benannten AU (African Union) ging es bis heute nicht besser: Es wird geredet, doch Taten folgen nicht.

Entweder Wertveränderung oder Wertverlust
Früher hatten die Menschen eine Orientierung vom Häuptling bekommen. Er war der traditionelle Chef und Verwalter des Landes. Die Kolonialzeit hatte den Häuptling instrumentalisiert und ihn sukzessive verdorben. Am Offensichtlichsten tritt das in Ghana und Nigeria in Erscheinung. Die Häuptlinge sind korrupt, zu Lachfiguren geworden, auf ihre Vorteile bedacht. Sie sind jedoch eine Macht im neunen Staat und behaupten, Traditionen zu wahren. Beim Volk haben sie längst Glaubwürdigkeit verloren.

Die Lage hat der grosse nigerianische Schriftsteller Chinua Achebe mit der Gestalt Okonkwo in seinem Klassiker Things Fall Apart einzufangen versucht. Seine Leute warten noch immer auf den Segensspruch zur Yams-Ernte, doch dieser kommt nicht, und Okonkwo lässt im Wahn sein Volk verhungern. Eine grosse Ethnologen- und Historiker – Tagung in Kumasi/Ghana kam zur Schlussfolgerung, dass die heutigen Häuptlinge nichts mehr mit den traditionellen Chefs zu tun hätten. Einst wären sie sakrale Gestalten gewesen, heute höchstens so etwas wie Abgeordnete, Älteste mit viel Machteinfluss, jedoch meist zu ihren Gunsten und selten im Dienste der Bevölkerung.

Die Kolonien vergingen, aber nicht die inzwischen lokal entstandenen Machtstrukturen. Man konnte natürlich nicht diese Häuptlinge, das Militär und das kolonial geschaffene Sicherheitswesen (eng mit dem Mutterland verknüpft) abschaffen. Ein Volk wurde zwar unabhängig, spürte jedoch davon wenig im Alltag. Es gab einige wohl inszenierte Feste. Für Afrika gilt jedoch statt der römischen Spiele das Fest. Und so wird gespielt und getanzt, aber die Welt veränderte sich nicht.

Gab es Ende der 50er und zu Beginn der 60er Jahre des letzten Jahrhunderts wahre Begeisterung, verschwand diese mehr und mehr. Visionen erloschen wie Lampen. Entfremdung wurde spürbar und nahm zu. Der Gemeinsinn schwand. Vereinzelung, Zerbröckelung und Entfremdung wuchsen ins Grauenhafte. Es kam die Zeit der Demagogen mit religiösem Ton.

Aus Kolonien wurden keine Nationen
Was war schon Nation-building? Warum sollten all die vielen Völker im gleichen Staat leben? Konnten denn Traditionelle, Christen und Mohammedaner eine Nation werden und sein? Es gibt diese demagogischen Rufe: „Jedem Volk seinen Staat; jeder Religion einen eigenen Staat!“ Man wünscht sich kleine überschaubare Gebilde, die Angst wegnehmen.

Afrikas Menschen haben längst ein Gefühl der Einheit verloren. Sie verdächtigen sich untereinander. Folge davon ist das zunehmende Hexenwesen. Man wird verhext und man verhext selbst andere. So kann wahrlich gesagt werden: Afrika ist zu einem Hexenkessel geworden.

Statt Nation-building entstand der gewaltige Strom der Bevölkerung vom Land in die Stadt. Auf dem afrikanischen Kontinent wachsen jährlich neue Grossstädte heran, ausgeprägt besonders im Grossraum Nigeria, Kongo und Sambia,. Die Menschen fühlen sich draussen auf dem Land verloren und strömen in die Stadt und reihen sich dort in unurbaner Art ringmässig wie eine Schlaufe rund um die existierende Stadt und beginnen diese wie eine Schlange zu erwürgen. So entstand etwa in Dakar/Senegal und Maputo/Mosambik ein neuer Stadtgürtel von über 20 km. Man bleibt beim Kleinhüttenbau; Hochhäuser entstehen höchstens für Banken und Verwaltungen im Zentrum. So wird selbst eine Metropole wie verschüttete Milch zur zerfliessenden Kleinstadt.

Statt Nation-building stehen wir heute 2012 vor einer verzweifelten Zersplitterung sowohl in Politik als auch in Religion. Statt demokratischem Zusammenschluss entstehen bis zu 50 Oppositionsparteien von Senegal bis Kenya, selbst in Malawi und Sambia. Die Leute wissen nicht, was Opposition ist und bedeutet; sie sehen diese wie Kleinkirchen.

 

Kleines Volk Gottes
Im Bereich der Religion stehen wir vor dem Phänomen der täglichen Kirchenvermehrung. Sog. Independent African Churches, kurz IACs genannt, wachsen wie Pilze auf west- und südafrikanischem Boden. An einer Einheit sind sie nicht interessiert. Sie alle wollen ein kleines, geschlossenes Volk (Gottes) sein. Ihnen steht statt eines Häuptlings ein Prediger vor. Dieser darf zeigen, was auch die Anhänger erwartet: teure Limousinen, schöne Gewänder, Schmuck und Reichtum.

Es geht nicht mehr um Unabhängigkeit, sondern um Reichtum. Alle wollen am Kuchen teilhaben: man nennt das cake splitting.

Nun geht jedoch diese primär fast religiös verbrämte kleine Kirche über in eine materielle Geldmaschine.

Making money ist das neue Schlagwort; Independence ist vorüber und abgelaufen. Was schon ist freedom? Das Volk will wealth.

Geld jedoch spaltet. So ist Afrika in die Phase materieller Zersplitterung und Zerfleischung gelangt.

 

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Al Imfeld© März 2012