Zum Geschehen im Jahr 2003
Ich habe die Angewohnheit, in Kriegs- und Katastrophenzeiten täglich ein oder zwei Gedichte zu schreiben. Ab und zu haben diese Gedichte nur indirekt mit dem Geschehen zu tun; sehr oft geben sie auf eine - vielleicht auch zufällig - gemachte Bemerkung zurück. Doch das ist egal. Letztlich geht es um Vergänglichkeit, Traurigkeit und etwas Hoffnung. Diese Gedichte sind wie Beten. A.L
Wesentlicheres
Ihr seid nun
in einem Alter
da man sich
Wesentlicherem zuwenden könnte
Was aber ist Wesentlicheres?
Sich dem Tod zuwenden
dem Absterben widmen
vom Leben weglaufen
langsam sich auflösen
um Nichts zu werden
Ist etwa das Leben unwesentlich?
Kommt zur Ruhe
wendet euch Wesentlichem zu
Sterbet
Verrückt
Ich schaute zum Fenster hinaus
lange, lange, lange
bis ich im Weltall war
dann sah ich erneut
den Einsturz der Türme
wie ein Scheiterhaufen in sich
zusammenfiel
daraus Tausende von Sternen
entstanden
unsicher flackernd
zu leuchten versuchten
Zum Ersticken
ein Wolkenkratzer
zu gross für mich
um hochzufahren im lift
würde jahre brauchen
das appartement
auf dem 66. stock
erstickt mich
weil zu eng
und einsamkeit in jedem spalt
diese weit
weder noch
zu klein zu gross
ein knast
scheucht in ecken mich
die unergründlichsten winkel
meines herzens
Wie soll ich das verstehen?
Es heisst:
aus dem grossen Fisch
kommen die kleineren
aus den kleineren Fischen
kommen die noch kleineren
und aus diesen
kommen die ganz kleinen
und selbst aus diesen
kommt immer noch etwas Kleineres
so geht es weiter
und weiter
selbst aus dem winzig Kleinsten
fliesst etwas
Ich frage den Bauern
ob er das verstehe
und er erwidert:
In einem grossen Mutterschwein
warten viele kleine Schweine
aus denen
immer wieder etwas wird
Ausser Rand und Band
Jedes Jahr hat seine Katastrophen
seit 1999 das Wetter spielt verrückt
2003 zu heiss und trocken
zuviel Rüfenen und Hagel
Blitze schlugen ein
das erste Mal
in Kirchtürme
Kühe erschlagen
selbst Linden nutzlos
wenn es so weitergeht
kann es noch schlimmer werden?
Kriege überall
Darüber wacht nicht mehr Gott
es liegt in Bush’s Händen
Lothar komm wieder
innert Stunden mähte
der Lothar 1999
8 Millionen Kubikmeter Holz um
der Vivian 1990
5 Millionen
aber all das lieber
als die 27 Kriege weltweit
die Menschen mähen
2 Millionen
jährlich nieder
Lothar hielt sich
an den Wald
Kriege wurden grenzenlos
Kinder Frauen Unbewaffnete
die sind doch selber schuld
Gott
falls es dich noch gibt
verwandle Bush
in einen Lothar
der Oltürme
Floskelspiel
bodenständig
wird leicht zu
rückständig
wenn davon
beständig
geredet wird
leicht kann man
den Boden unter den
Füssen
verlieren
schnell liegt man flach
langfristig
dauert eine Nacht
denn so kurzfristig
ist ewige Liebe
Soviel Tote - eine Klage
8 Millionen Tote
im 1. Weltkrieg
50 Millionen Tote
im Zweiten
Daneben starben andere
1915 je eine Million
Armenier und Kurden
10 Millionen allein und nur
zwischen 1918 und 22
Massengräber
Lager
Gemetzel
neben den uns bekannten
in Asien und Afrika
in Vietnam und Cambodja
in Rwanda und dem Kongo
jedes Jahr
eine Million
allein auf afrikanischem Boden
en gros
subtiler anderswo
Frei nach Pieter Bruegel
Grosse Fische fressen
kleine Fische
die auch eine Säge haben
sogar mit Leiter und Gabel
steigen sie
in den Bauch auf den Buckel
der Grossen
Alles frisst
frisst einander
vertrau darauf
und alle fressen
einander auf
Selbst aus dem Kot
entstehen fressende Wesen
Käfer und Motten
Viren
und alle fressen
einander
auf
Nichts ist heilig ist frohe Botschaft
Good news
Gospel allüberall
Friede auf Erden
stille Nacht - heilige Nacht
noch nie bekehrte sich ein Hitler
auch Idi Amin nicht
wenn schon
Grausamkeit flieht und ist feige
wer spricht dauernd von Rache
oder fordert einen heiligen Krieg
heilig ist nichts
das nur kann good news sein
weder Sadam noch Bush
die sich auf ihren Gott berufen
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Al Imfeld© Neue Wege 2003 Heft 10