Esoterik - eine Orientierung
Geheimwissen für EingeweihteEsoterik ist ursprünglich ein positiver Begriff. Er meinte und bedeutete Umgang mit Geheimwissen, das nur für Eingeweihte bestimmt war und von dem das einfache (Kirchen-)Volk ausgeschlossen blieb. Esoterik stand nahe beider Mystik, wobei es bei der Esoterik mehr um Wissen und bei der Mystikmehr um Methoden ging. Die Mystik war ein Weg, um ins Innerste oder zum Höchsten zu gelangen und mit Gott oder dem Göttlichen eins zu werden. Die Esoterik war mehr das Wissen darum oder die geheime und verborgene Lehre darüber.
Erst später, als Kreuzritterorden und im anglophonen und frankophonen Raum Freimaurerlogen vorgaben, geheimes Wissen zu besitzen und in ihren«Orden» als Erleuchtungsweg zu praktizieren, geriet Esoterik ins Zwielicht. Die Kirche erklärte sowohl diese Orden als auch ihre Esoterik als verdächtig; doch umso mehr zogen sie bestimmte, meist etwas ehrgeizige Intellektuelle an. Esoterik im christlichen Raum kreist um vier zentrale Fragen:
- Wurde schon alles offenbart?
- Konnte «damals» das Offenbarte überhaupt verstanden werden?
- Gibt es einen Konflikt zwischen mündlicher und schriftlicher Überlieferung?
- Wurde etwas unter dem Vorwand, dass das gewöhnliche Volk es nicht oder missverstehen könnte, zurückgehalten?
Es geht neben vielem anderen auch um einen Konflikt zwischen Volksfrömmigkeit und Esoterik; ferner kommt sehr oft ein Machtkampf zwischen offizieller Kirche und bestimmten Orden hinzu. Was praktiziert das Volk und was braucht die Elite? Dieser Konflikt war stets zweiseitig: einerseits zwischen Kirche und Elite, anderseits zwischen Volk und Kirche. Greift nicht das gewöhnliche Volk altes Wissen und Magisches auf, das die Elite verachtet? Was ist denn die Esoterik der Elite? Und gibt es eine Esoterik des Volkes?
Eng mit der Esoterik ist der Begriff des Ordens verbunden. Bis anhin noch geheimes Wissen wird einem Ordensgründer «offenbart»; dieser bildet zum Schutz dieses Wissens einen Kreis um sich, gründet also einen Orden. Darin wird von den Mitgliedern ein scheinbar höher stehender Heilsweg zelebriert, um quasi-öffentlich zu werden. Und das heisst: Esoterik wird zum Gerücht. Für gewöhnliche Gläubige war es selbstverständlich, dass sie nicht alles wissen konnten. Heikel wurde es immer erst dann, wenn behauptet wurde, dass genau dieses geheim gehaltene Wissen zur Erlösung oder zum Seligwerden notwendig sei.
Esoterik fusste immer auf dem Ursprung, vielleicht im Gegensatz zu einer Sekte, die aus einem theologischen Streit, etwa um Gnade oder Dreifaltigkeit, erwachsen konnte. Esoterik unterstellte, dass in der Überlieferung etwas zum Heil Notwendiges ausgelassen wurde.
Esoterisch wurde lange als Gegensatz zu exoterisch gesehen; exoterisch heisst allen zugänglich, offen, schon bekannt, formell gelehrt und gepredigt.
Wurde die ganze Wahrheit offenbart?
Sowohl die westliche als auch die östliche Kirche war im Lauf der Geschichte ziemlich rasch sehr formalistisch geworden. Eine Erneuerung ging sehr oft von Mystikern aus. Wer mystische Wege lernen und begehen wollte, müsste einem Orden beitreten. Orden verwalteten spezielle Wege der Mystik. Nach und nach jedoch war selbst in Orden die Mystik verdächtig. Der Weg müsste der Kontrolle der Oberen unterstellt sein. Auch hier wurde die Regel zum Absoluten. Es entstanden daher immer neue und erneuerte Orden. Zu Beginn fiel es nicht leicht zu beurteilen, ob diese kirchentreu oder esoterisch waren.
Auch das Volk kannte mystische Vorbilder (etwa die Nonne Hildegard von Bingen oder den Einsiedler Bruder Klaus von Flüh), die der offiziellen Kirche vorerst verdächtig vor kamen. Statt Erneuerer und Mystiker wurden traditionelle Heilige zu Vorbildern erklärt und im Verlauf des Kirchenjahres gefeiert. Religion wurde dauernd normalisiert, verwaltet und rational gemacht. Des weiteren trug die Kirche selbst zur Verwirrung bei, indem sie auf ihre Weise Mystik und Esoterik verwischte.
Mit der Reformation und der sich verbreitenden Lektüre der Hl. Schrift kamen beim Volk nach und nach die Fragen auf, ob denn die vorliegende Schrift die ganze sei. Steht darin wirklich das umfassende Wissen Jesu, das er auf die Apostel und Jünger übertrug? Warum schreibt ein Johannes soviel mystischer als Markus? Wieviel liegt hinter der uns zugänglichen Offenbarung noch verborgen? Immer mehr Mutmassungen kamen auf, etwa dass Jesus auch mit Buddha zusammen getroffen sei, oder dass der Apostel Thomas nach Indien gezogen sei und dort vielleicht einen anderen Zweig des Christlichen entwickelt habe. Ja, wo ist denn das Thomasevangelium? Ganze Berge von Spekulationen schossen hoch, die nach der Aufklärung bei einem Teil der Bevölkerung noch zunahmen. Als die Welt sich öffnete, eine Neue Welt oder Afrika entdeckt wurden, kamen spontan Fragen auf, ob dort nicht Esoterik zu finden wäre?
Als nach Ende des Zweiten Weltkriegs Tausende von Rollen im judäischen Gebirge, die sog. Qumran-Texte, entdeckt wurden, kamen kaum zu glaubende Theorien auf. Die Unruhe nahm zu, als die Veröffentlichung solange auf sich warten liess. Die Presse trug das Ihre zur Verunsicherung der traditionellen Gläubigen bei. Einige Kritiker gingen so weit zu behaupten, Jesus sei gar nicht der Anfang des Christentums gewesen, sondern die Qumram-Orden. Jesus wurde zu einem Qumraner; und er hatte bloss einen Teil eines viel grösseren Schatzes von Wissen «offenbart».
Mit der zunehmenden Demokratisierung kam auch die Forderung nach dem Offenlegen des vermuteten geheimen Wissens der Bischöfe und Priester, der Klöster und Orden auf. Mit der Säkularisierung mystischen Wissens und mystischer Praktiken ging die Buch-Veröffentlichung einher. Doch fehlten den meisten die Voraussetzungen, solche Texte ins Ganze einzuordnen oder gar zu verstehen. Oftmals wurde genau das Unverständliche zur Esoterik erklärt.
Viele wurden jedoch massiv enttäuscht. Sie hatten mehr vom geheimen Wissen erwartet. Ihr Schluss war verständlich: Da Israel auf dem Schnittpunkt zum Osten liegt, ist das Wissen Jesu und der Apostel gar nicht in den Westen gekommen, sondern in den Osten entflohen.
Der Osten war stets ein beliebtes Feld gewesen, um nach Esoterik und Mystik zu suchen. Es hiess schon seit alters: Ex oriente lux. Immer hat der Orient fasziniert. Der Urgrund und heute ein unabdingbarer Teil der Esoterik ist östlich: vedisch, taoistisch, tibetanisch, zen-buddhistisch...
Magie
Ein anderer Strom wurde ebenfalls angezapft. Im Volk verborgen, und zwar weltweit, gab es Magie. Erwecker und zugleich Purgatoren (Reiniger) alter Magie waren Taoisten im Osten und Kelten im Westen. Wir kommen an den weiteren Schnittpunkt zwischen Esoterik und Magie.
Im Westen und Osten ging Esoterik leicht in Magie über, denn viele wollten nicht bloss das Wissen, sondern wollten es auch nutzen. Ein grosser Teil der Magie, ob positiv oder negativ, fusst auf Esoterik, die Wirkungen in dieser Welt erzeugt, die nicht von Gott herkommen, sondern - durch ritualisierte Handlungen oder Formeln - aus dem sog. geheimen Wissen hervorgehen. Solche Kraftquellen sind bloss wenigen zugänglich. Die Magie ist an Personen gebunden, an Hexer und Hexen; sie ist individualisiert, benötigt Worte, Formeln, Texte (geheime, damit sie stark und unverbraucht bleiben) und Bewegungen. Um solche Texte zu erklären, braucht es Deuter, sog. Lehrer oder Meister.
Eine geschickte Verschleierung - vor allem über die Sprache - wurde zur Versuchung. Unklarheiten riefen nach Deutung, nach Ortung und Kontextualisierung. Eine Spekulation entwickelte sich und wurde popularisiert. Es entstand eine religiöse Form der Boulevardisierung, ganz nach dem Prinzip «nützt es nicht, so schadet es auch nicht». Die Hexen sollen sowohl esoterisches Wissen besessen, als auch eine magische Kunst angewandt haben. «Propheten» boten sich an, Ausleger oder Einführer in die magische Praxis zu sein.
Genauso wie der Katholizismus machte auch der Protestantismus sehr rasch mit diesen Phänomenen schmerzliche Erfahrung. Es waren meistens kleinere oder grössere Volksbewegungen wie die verschiedenen Arten der Täufer, ob im Emmental oder im Tösstal. Ihre «Esoterik» war ein Aufstand gegen die herrschende Macht.
Wir sehen hier, wie leicht eine derartige Esoterik in Fundamentalismus kippen kann. Dieser gibt vor, zum Urtext und zur echten Offenbarung zurückzukehren. Meistens ist das, was solche Menschen als echt und eigentlich erklären, genauso esoterisch wie die Referenz auf einen den gewöhnlichen Gläubigen noch unbekannten Text.
Die Natur stellt Fragen
Im 20. Jahrhundert kam die Auseinandersetzung mit dem Universum und der Natur hinzu. Die Welt wurde immer grösser; Grenzen hielten nicht mehr. Fragen keimten im Inneren vieler Menschen: Gibt es Leben und somit Wissen auf anderen Planeten, und was für ein Wissen könnte das sein? Ausserirdische Wesen, zuerst Engel und später UFOs, erschienen geheimnisvoll und unerwartet in den Nachrichten. Gibt es Zwischenwesen oder doch Engel? Dieser Bereich wurde ein Jagdgrund der Esoterik. Hier kommt es zu einer Verbindung von Esoterik und Parapsychologie, der Erforschung aussersinnlicher und ausserirdischer Wahrnehmungen.
Die Naturwissenschaft war so strikt, einseitig und rational, dass verschiedene Menschen solche Einengung und Engstirnigkeit nicht hinnehmen konnten. Sie suchten nach «anderem» Wissen oder nach Erklärung bestimmter Phänomene (wie etwa Erdstrahlen, Magnetismus, Voranzeigen von Tod oder Katastrophen u.a.). Daraus erwuchs die Parapsychologie. Viele dieser Parapsychologen sind ehrliche Wissenschaftler wie die Professoren H. Bender in Freiburg i.B. oder Resch in Innsbruck.
Die Entwicklung verlief derart rasant, dass viele Menschen überrannt, konfus und unsicher wurden. Wieder wurde nach neuem oder geheimem Wissen zur «Erlösung» gesucht. Neben dem Osten rückten nun die «primitiven» Natur-Völker und ihr Wissen ins Zentrum des Interesses. Zuerst wurden Indianer zu Weisheitsspendern. Bald kamen auch die Kleinvölker der Südsee, von Makro- und Mikronesien, besonders von Tahiti, hinzu. Hier ging es weniger um Menschen als viel mehr um einen neuen Naturbegriff. Es entstand die Esoterik der freien Sexualität und der unverdorbenen Natur. Bei uns in Europa suchte man nach den Kelten, die plötzlich überall gewesen sein sollten: von Irland bis ins Napfgebiet, von München bis Marseille. Ihr Wissen wurde ausgegraben und kam in Mode.
Esoterik und Kolonialismus
Im 19. Jahrhundert wuchs - im Zusammenhang mit dem Kolonialismus - das Interesse für östliche Religionen. Man stiess auf eine grosse Vielfalt religiöser Phänomene, die nicht alle einfach als «teuflisch» abgetan werden konnten. So müsste erneut eine Frage aufkommen: Ist vielleicht Wissen dort enthalten? Welches Wissen, von wem? Im Katholischen kam die sonderbare Idee von zerstreuten oder verlorenen Funken (oder Spuren) Gottes auf. Damit hat sich zur Zeit des Zweiten Vatikanischen Konzils sogar der grosse katholische Theologe Karl Rahner auseinandergesetzt.
Bei einer esoterischen Vereinnahmung fällt meist alles Soziale unter den Tisch. Es kam immer wieder vor, dass bei der Suche nach esoterischen Funken sogar negative Erscheinungen wie Kastenwesen, sexuelle Beschneidung, bestimmte Krankheiten ins Positive gekehrt wurden. Ab und zu gingen und gehen Esoteriker so weit zu glauben, dass Bildung das esoterische Wissen verscheuche. So wurde Esoterik zur Zeit des Kolonialismus nicht selten zum Diener der Herren der Macht. Esoterik driftet ab ins A-historische und Asoziale; statt dessen öffnete sich ein mythisch-esoterischer Raum; die Fragen nach der Menschenwürde oder dem Landbesitz gingen verdächtig unter. Wie bei aller Esoterik lesen Interessierte sehr oft das aus, was ihnen beliebt. Esoterik wird so meist zum Eklektizismus oder später zum Synkretismus. Eine Fortsetzung wäre die Postmoderne.
Im Zusammenhang mit dem Feminismus kam die Frage nach dem Matriarchat auf. Wurde das Wissen der Frauen einst (inilio tempore) Verstossen? Welches Wissen war es? Hier haben wir ein exzellentes Beispiel, wie echte Anliegen mit der Esoterik des Matriarchats oder einer schwarzen Madonna verwischt werden können.
Wie alles zwei Seiten hat und somit Missbrauch offen steht, zeigt auch das Anliegen der amerikanischen Schwarzen mit ihrer Suche nach Wurzeln oder Roots. Mit Recht geht Esoterik der Frage nach, ob zu Beginn der Menschheit alle Menschen schwarz waren? Aber wenn bloss noch Mythologie, etwa mit Haile Selassie, den Ruinen von Great Zimbabwe oder gar der Demokratie von Liberia betrieben wird, dann hat das mit berechtigten Anliegen nichts mehr zu tun. Stellen wir uns einmal vor, wie der grausame Tyrann Haile Selassie zum Träger grossen esoterischen Wissens werden konnte. Bis zu seinem Tod hat er - leider- niemals Wissen mitgeteilt und positiv danach gehandelt. Wenn gar eine schwarze Esoterik - wie in den USA -betrieben wird, dann grenzt das an Geschmacklosigkeit. Wir erkennen hier einen anderen Übergang, den von der Esoterik zur Mythologie, verbunden mit der ernsten Frage, ob Mythen geschaffen werden, um der Wirklichkeit und somit der Geschichte auszuweichen.
Esoterik kann ganz schön zweideutig und zwielichtig sein, ob im Umgang mit Frauen oder Schwarzen, mit kolonialen oder Naturfragen.
Esoterik und Faschismus
Es ist vielleicht gar nicht erstaunlich, dass Esoterik besonders zu Zeiten des Faschismus ins Kraut schiesst. Dies war und ist weltweit zu beobachten, in Deutschland während der Hitlerzeit, in Japan mit dem Kriegsschintoismus, in Äthiopien (s.o.), in Italien mit der Volkstäuschung, dass Mussolini ein grosser Esoteriker sei, oder in Spanien mit dem Duo Franco und Ortega y Gasset, dem Diktator und dem Philosophen, beide Verächter des Volkes. Selbst in Lateinamerika keimte Esoterik zu Zeiten der Diktatur.
Rudolf Steiner, sogar C.G.Jung, aber auch Richard Wagner oder der Kulturkritiker Ganzelmayr («Verlust der Mitte») u.a. könnten einmal in solchem Licht betrachtet werden. Esoterik ist in faschistischen Diktaturen erlaubt, ob es Zen in Japan, König David und die Königin von Saba in Äthiopien oder Rhodesien waren. Warum? Esoterik bedeutet leicht eine Flucht in Mythen, verlässt geschichtlichen Raum und wird daher apolitisch. Dubiose Herrscher werden zu Esoterikern gemacht, die auf der Suche nach dem Gral, dem neuen Jerusalem seien. Dem Volk wird vorgetäuscht, dass es durch all die Pein hindurch müsse, um zur Erleuchtung zu kommen.
Während der Nazizeit war Kelten-, Normannen- oder Wikingerforschung bei Intellektuellen populär. Dort sollte sich die wahre Weisheit finden lassen, aber nicht in historischen Religionen wie Judentum oder Christentum. Es war die Zeit der grossen und harmlos scheinenden Fälschungen, etwa der Reden des Südseehäuptlings Papalagi an seine Stammesmitglieder oder die Mahnungen des Afrikaners Lukanga Mukara an die Europäerinnen und Europäer, die immer mehr das Wesentliche vergessen würden. All diese hehren Schriften waren Fälschungen von Deutschen. Darin stand nie etwas von Kolonialismus, Unterdrückung von Frauen oder Missbrauch von Kindern. Selbst ein Karl May wurde missbraucht; er passte in eine Zeit, die Indianer verherrlichte und die Wirklichkeit verdrängte. Es war zwar weit weniger Missbrauch als mit Leni Riefenstahl, der Fotografin der Nuba, wo Esoterik klar zum Kitsch verkam. - Selbst Tibet «fiel» den Esoterikern zum Opfer: In den Fünf Tibetern werden Verfolgte missbraucht, ihre Weisheit wird vermarktet und verramscht.
Esoterisch oder alternativ?
Sehr oft geht es um die Suche nach neuen Antworten, wenn die Welt sich verändert und der Mensch sich anpassen muss. Hier springt Esoterik leicht und rasch ein. Viele nehmen an, diese Denkweise sei aus der Vergangenheit abrufbar. Sie sind leicht der Versuchung der Esoterik ausgesetzt; selbst Altkluge, die scheinbar hart und cool behaupten, es gebe nichts Neues unter der Sonne.
Die ganze Welt aufgewirbelt hat Fritjof Capra mit seinem Buch Das neue Denken; dieses Buch wird von vielen als eine esoterische Bibel der Gegenwart angesehen. Es verkündet das New Age, ein Zeitalter, wo alle miteinander reden, Ideologien verlassen, sich bloss noch an echtes Wissen halten, weil solches keinen Streit mehr aufkommen lässt. Es ist der neue Rationalismus und die damit verbundene Aufklärung, wo der gesunde Menschenverstand die Geschicke leitet. Sehnsüchte kommen hoch. Ja, solches wollen wir! Ja, solches könnt ihr haben, falls ihr das alte, immer wieder verschüttete Wissen, ausgräbt und nutzt.
Aus derselben Schule kommt die Suche nach Anderen Wirklichkeiten, wie ein Buch mit dem Untertitel «Die neue Konvergenz von Naturwissenschaften und spirituellen Traditionen» heisst. Es enthält u.a. auch einen Beitrag des Dalai Lama.
Hier überschneiden sich Alternative und Esoterik. Gehören Leopold Kohr und sein Schüler E.F. Schumacher, Robert Jungk, Johan Galtung, Ivan Illich und Theodore Roszak zu den Esoterikern oder zu den Alternativlern? Im Band «Viele Wege, Paradigmen einer neuen Politik» des Dianus-Trikont Verlags 1985 sind sie alle zusammen mit Vinoba Bhave, Fritjof Capra und Alfred Mechtersheimer vereint. In einem anderen Band, der im Jahr zuvor bei Lübbe erschienen ist, wird von 2000 Jahren alternativer Daseinsformen gesprochen. Esoterik vermischt des öfteren seriöse und dubiose Autoren miteinander; es kommt vor, dass sich ernst zu nehmende Denker (etwa Schumacher oder Illich) missbrauchen lassen. Auch Rudolf Bahro könnte ein Beispiel solch gefährlicher Mischung sein - wenn nicht für ihn, dann für andere.
Alternative und Esoterik gingen plötzlich ineinander über. Es war die Zeit nach dem Kalten Krieg und dem Zusammenbruch alter Ideologien. Einige schlossen daraus, dass das neue Wissen postmodern sei, eine Mischung von Offenheit, Grenzüberschreitung und Wissen aus allen Kulturen, Auswahl und Aufnahme des bislang verbotenen Wissens (Esoterik). Die sog. Postmoderne kommt oft wie eine versteckte Esoterik daher. Es wird an Seminaren die Harvard Business School mit dem tibetischen Buddhismus gemischt. Hans Küng und der Dalai Lama bringen ihre zwei Lehren zusammen und sind eins. Man soll - und das sei hier klar gesagt - voneinander lernen, voreinander Respekt haben, aber diese Haltung müsste selbstverständlich sein, sie kann nicht unter alternativ oder gar esoterisch angeboten werden. Es ist festzustellen, dass vor allem der Ökonom oder Manager Esoterik will, um unscharf und vertuscht weiter handeln zu können. Hat die moderne Esoterik mit ökonomischem Versteckspiel zu tun?
Etwas Wissenssoziologie: einige Thesen
Voraus eine Warnung an alle Besserwisser und Bewahrer des Glaubens: Das Gebiet der Esoterik ist sehr brüchig und vieldeutig. Niemand komme unbedacht mit Vorwürfen wie «Sektenbildung!» oder dem Ausspruch: «Alles ist längst und bereits offenbart, es gibt nichts Neues im Glauben mehr». Die Kritiker und Richter seien erst einmal besser selbstkritisch. Vielleicht gehören sie zu denen, die neue An- und Einsichten, somit Wandel, verhindern. Es ist leicht, Neues als Sektiererei abzutun.
Zu viele Gläubige misstrauen der Mystik. Sie geben sich aufgeklärt und rational und kommen sich dabei als echte Gläubige vor. Das mag ihr gutes Recht sein, solange sie einen mystischen Weg offen lassen. Damit würden sie mithelfen, nicht alles sofort ins Feld der Esoterik abzudrängen.
Es gibt tatsächlich Menschen, die so etwas wie einen 7. Sinn haben und Zukunft zu riechen vermögen. Lange Zeit wurde intuitive Vor-Warnung als unmöglich leichtfertig abgetan.
Es gibt mehr als nur diese Welt. Wir leben in einem Kosmos. Kosmologien sind viel zu wenig ins Studium und in unser Wissen einbezogen. Alles wurde ab und zu einfach einem allmächtigen Gott übergeben, wo es noch viele andere Hypothesen gegeben hätte. Ein Beispiel: dass Zwischenwesen ersonnen werden, ist nicht bloss Spinnerei; sie können gar als gute Hypothesen (sogar physikalisch als das Feld zwischen zwei Körpern) angesehen werden.
Das Problem liegt nicht an den Phänomenen, sondern an dem, was eine ganze Geschichte, ihre Tradition und ihr Forschen damit bis heute angefangen haben. Die Wissenssoziologie hat manches aufgezeigt. Viel Universitätswissen mag gar kein echtes Wissen sein, weil es sehr oft nur das bestätigt, was geglaubt wird.
Gefahr droht, wenn solches Wissen über eine gut organisierte Institution daherkommt und dieser «Orden» es «in seinen Kreisen» als privilegiert darstellt und damit als «esoterisch» praktiziert. Solches Gebaren erzeugt Eifersucht beiden Aussenstehenden resp. den Nicht Eingeweihten. Distanz und Intransparenz schaffen andererseits Neugierde und Nachfrage. Leiter solcher Orden nutzen diese Macht und vermarkten ganz gern ihr Graufeld-Wissen. Beispiele könnten sein: New Age, Scientologen, usw.
Wir sind wieder zu Esoterik, Orden oder Sekten zurückgekehrt. Etwas zu wissen, was andere scheinbar nicht wissen, verbindet. Es wird eine Bruderschaft und Schwesternschaft geschaffen. Deshalb passt der Begriff Orden so gut zum Phänomen Esoterik.
Solch gemeinsames Wissen verbindet und wird zur Macht. Esoterik kann auch erzeugt und kapitalisiert werden. Die beste Illustration sind diese Management-Institute. Die Kurse müssen teuer und exklusiv sein. Stellen sie sich vor, alle hätten Zugang zu diesem Wissen? Dann wäre die Kraft der Macht vorbei. Das beste Beispiel hierfür ist das Gottlieb-Duttweiler-Institut: Als Hans A. Pestalozzi mit seinem Team das Institut auch den «Alternativgruppen» öffnete, brach die Krise aus. Es hiess von Managern: «Wir zahlen doch nicht soviel für einen Kurs, zu dem auch die gewöhnlichen Menschen Zugang haben.» So entsteht neue Esoterik.
Dasselbe gilt für Sicherheit und Militär. Sicherheit ist esoterisch geworden. Wissen andere davon, verliert das Militär Macht. Es geht nicht um Landesverrat; es geht um den Angriff auf Esoterik.
Nachdem sich alles zu öffnen begann, müsste eine neue Esoterik der Macht geschaffen werden. Sie heisst heute Terrorismus. Dieser ist genau so esoterisch wie einst die Wüstenväter. Er ist unfassbar, unbegreiflich, fast omnipräsent und so hat die Macht die Möglichkeit, sich selbst wieder geheimnisvoll zu machen, zu erweitern und auszudehnen. Nur ein paar Eingeweihte wissen, was Terroristen sind.
Warum verlangen so viele nach Esoterik?
Warum verlangen so viele nach Esoterik?
- Aufklärung muss solider sein. Es sieht tatsächlich so aus, als ob dem Volk einiges verheimlicht würde. Hat denn das Volk nicht Anrecht auf besseres und vertieftes Wissen? Das ist die Anfrage einer gewissen Esoterik an die Christen und Kirchen.
- Religion muss mehr Wärme enthalten. Es ist kalt in der Welt; Religion selbst ist kalt geworden. Haben die Menschen nicht Anrecht auf etwas mehr Wärme? Es schaut so aus, als ob Esoterik Wärme in dieses Lehrgewirr bringe.
- Was leuchtet in diese Dunkelwelt von heute? Vielleicht doch etwas Esoterik? Esoterik mag ein starker Aufruf an die Kirchen sein, diese Sehnsucht nach Licht ernst zu nehmen.
- In der heutigen Rationalität gibt es Wissen und Glauben, aber kaum die Kraftquellen, nach denen die Menschen suchen.
Wir stehen vor unendlich vielen Fragen in Raum und Zeit, im Kosmos und auf dem Globus. Wir stehen alle vor wichtigen Übergängen, etwa zu einer globalen Welt, zum Ende des Kolonialismus oder zu einem neuen Verhältnis zwischen Mann und Frau. Allein wagt der Mensch keine derartigen Übergänge. Er benötigt eine Ermutigung, um in diese Zwischenräume hineinzugehen und zu einem neuen Zusammenleben zugelangen.
Es geht um erneuerte Zeichen und Symbole. Der Mensch kann nicht abstrakt leben, schon gar nicht überleben. Überall fehlen uns heutigen Menschen in Nord und Süd Zeremonien, Rituale und Symbole. Ob Sterne oder Zahlen, irgendetwas «Geweihtes» vermittelt uns etwas Handfestes im Zwischenraum. Einst war es der Rosenkranz. Wenn alles auseinander geht, braucht der Mensch Kraftfelder, die Verworrenes und Erschreckendes zähmen und zusammenhalten und vielleicht wirklich Kraft verleihen.
Es geht auch um neue Deutungen, selbst der Bibel und all der Bücher anderer Religionen. Es darf nicht sein, dass ausser der eigenen Religion alle andern esoterisch sind. Wenn es nur Einen Gott gibt, dann darf er nicht so gedeutet werden, als ob er der einen Religion etwas gibt, was er einer anderen vorenthält. Wenn es diesen Gott gibt, hat er sich in allen Religionen offenbart. Will er etwa dieses Katz- und Mausspiel der von ihm versteckter Weisheiten?
Im Suchen nach Zusammenhalt, nach mehr Sicherheit und etwas Ganzheit besteht die Versuchung, zu scheinbar brachliegendem Wissen zu greifen, anstatt altes Wissen zu deuten und in neues Licht, anderen Zusammenhang oder den Kontext veränderter Menschen zu stellen. Esoterik erscheint manchmal wirklich wie ein billiger Griff in die Zauberkiste.
Die Reformation ging gegen ein Überborden und Wuchern bestimmter Traditionen vor; dabei wurde manches verdeckt oder gar Verstossen, was Christinnen und Christen heute wieder hervorholen und «Esoterik» nennen. Ähnliches geschah im Islam. Bis ins 10. Jahrhundert sprudelte mündliche Tradition unbeschreiblich reichhaltig. Hadithe nach Hadithe entstanden. Plötzlich wurde der Fluss gestaut und alles kodifiziert. Die Weiterentwicklung fand in der Mystik, im Sufismus, statt. Wer immer in einer Religion Lebendiges aufhalten oder gar normalisieren will, kreiert unweigerlich Esoterik; deshalb ist Esoterik immer(auch) ein Warnzeichen.
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Al Imfeld© Neue Wege 2002 Heft 11