«Eine Swatch ist faszinierend, aber ihre Zeit mag ich nicht»
Einstimmung
«Eine Swatch ist faszinierend, aber ihre Zeit mag ich nicht.» Dieses Zitat habe ich vor Jahren aus Nordnigeria nach Hause mitgebracht. Es stammt von einer Fulbe, die auf dem Platz sitzend eine Form von Restaurant betrieb. Ihren Namen weiss ich nicht. Typisch. Aber sie sitzt so klar vor mir auf dem Boden, dass ich sie sofort wiedererkennen würde. Es war eine Marktfrau, die Saucen und Suppen kochte und anbot. Es war die beste Sauce in ganz Maiduguri. Und alle - wenn man sie fragte, wo es gut zu essen gebe - empfahlen sie.
Der Hintergrund des Zitats ist folgender. Ich trug eine Swatch, und die Frau wusste, was eine Swatch ist. Sie war aufgeklärt und keineswegs weltfremd. Für sie war diese Uhr ein erstrebenswertes Schmuckstück. Die Zeit - wieso brauchte sie diese? Sie begann nach Sonnenuntergang zu kochen. Vorher ging es nicht; die Tradition sprach dagegen. Bei ihr wusste man, dass es - um es europäisch auszudrücken - am besten um 21 Uhr herum war. Dann wurde verkauft und serviert, bis keine Gäste mehr da waren. Falls sie zuviel gekocht hatte, gab es gegen Schluss die doppelte Portion. Denn weg müsste alles. Keine Sauce wurde auf den nächsten Tag aufgespart. Jeder Tag begann neu und die Vorgänge waren stets dieselben: Genug Kräuter zusammentragen, Yam wurzeln einkaufen und etwas Ziegen- oder Schaffleisch beschaffen. Aus Yamwurzeln oder Kassawa entsteht das Lieblingsgericht Fufu, das sind weisse Bälle, die in die Sauce getunkt werden. Die andere Variante ist Gari, die aus Maniokgries entsteht. Beide Gerichte werden vorgekocht, denn sie müssen etwas gären, und sie müssen zu richtigen klebrigen Bällchen werden. Nichts jedoch geht ohne Sauce; die Saucen bedeuten alles. Sie lassen Mühsal und somit auch die Zeit vergessen.
Ich muss all das beschreiben und tue es mit Genuss. Auch das gehört zu Afrika: Statt einer westlichen Definition kommt das Umschreiben und Umkreisen, statt eines Begriffs die Vorstellung und vor allem die Erinnerung. So kann zum Beispiel Essen mindestens dreierlei bedeuten: einerseits rein pragmatisch und ungeschönt das Überleben, das immer dasselbe ist und ausmacht, ohne zu sprechen, hastig und weg geht es, fast ein Zeichen des Zwangs und der Langeweile; andererseits ein mystischer Akt, der ins Zeitlose geht, weitergeht und weitergeht - genüsslich. Und drittens: Essen hat stark mit Erinnern zu tun. Wir spüren, dass wir bereits auf verschiedene Zeitbegriffe gestossen sind.
Es gibt zudem verschiedene Zeiten - selbst bei uns. Es gibt bei uns Menschen, die lieben und sammeln Uhren, ohne dass ihnen diese oder jene oder gar unsere Zeit passt. So geht es auch Menschen auf dem afrikanischen Kontinent. Sie lieben Accessoires und Schmuck. Hätte ich im Hinterland afrikanischer Nationen Uhren zu verkaufen, ich würde statt der Zeit Schmuck verkaufen oder auf den Zifferblättern Sternbilder oder gar Fabeltiere eingravieren lassen. Aber auch Sternbilder und selbst Schmuck werden zu einer Form der Zeit, der Schmuck als Begleitung zur Hochzeit und später als eine Lebensbegleitung zu den Ahnen.
These 1: Das gewöhnliche Volk südlich der Sahara lebt (noch) in einer anderen Zeit. Es ist keine geschichtliche, sondern eine mythische Zeit
«Es war einmal.» Der Religionswissenschaftler kennt diese Zeit als das «in ilio tempore». Am besten drückt es das Englische aus: Once upon a time: also einmal und über aller Zeit oder jenseits von Zeit. Katholische Gläubige mögen sich noch daran erinnern, als das Evangelium in der Messe mit dem «in ilio tempore» begann und somit aller Geschichte enthoben wurde. Deshalb tat ihnen ein Rudolf Bultmann mit seiner radikalen Entmythologisierung besonders weh. Je mehr alles in die Geschichte hineingezogen wurde, desto mehr kamen historische Probleme auf. Das genaue Wann und die Daten spielten vorher kaum eine Rolle. Es war unbedeutend, ob das Evangelium genau zur Zeit Jesu aufgezeichnet wurde oder wie Jesus im zeitgeschichtlichen Kontext stand.
Das «in ilio tempore» spielt nicht in einem Raum der direkten Geschichte; es ist verklärt oder abgeklärt, schwebt über der irdischen Wirklichkeit und ist deshalb aussermenschlich oder heilig. Das ist denn auch der zweite Grundbegriff: das Heilige gegen das Profane. Dieser Begriff des Heiligen schliesst Ehrfurcht, Geheimnisvolles und Unfassbares ein. Das Heilige ist mit dem Jenseits verbunden und leibt und lebt nicht auf dieser Welt.
Der grosse Religionswissenschaftler Mircea Eliade hat in seinem Klassiker «Das Heilige und das Profane» (1957) diese verschiedenen Dimensionen ein für alle Mal klargemacht. Dazu kam der Gegensatz zum «in ilio tempore» - nämlich das «hie et nunc». Wer mythisch denkend lebt, setzt dieses «hie et nunc» kaum in unseren Raum und hebt es von unserer westlichen Zeit ab. Die Welten gehen einfach ineinander über. «Hie et nunc» ist eine andere Form der Vergegenwärtigung; eine Gegenwartsform, die Bantusprachen bestens kennen.
Somit erklärt sich von selbst, dass der afrikanische Griot kein Historiker ist, sondern ein Mythologe oder gar Mystagoge. Er erzählt Heldengeschichten; alles ist überhöht und an Hierarchien gebunden. Er würde nicht über den kleinen und einfachen Menschen singen.
Als ich letztes Jahr zusammen mit einem der bekanntesten Griot aus dem Sahel, Sotegui, auf der Bühne stand und wir abwechselnd erzählten, spürte ich diese zwei Welten wie nie zuvor. Meine Geschichten handelten von kleinen Menschen hier und dort; seine von einstigen Königen und Fürsten, Helden und Jägern aus dem Malireich. Seine Geschichten entstammten der mythischen Welt und Zeit; meine der Jetztzeit und der Alltagsgeschichte. Der Unterschied liegt nicht bei der Zeit allein; er durchdringt selbst den Raum, denn beide gehören eng zusammen: sein Raum ist ungeografisch, meiner liegt klar im Napfgebiet.
These 2: Diese andere Denkart entspringt einer anderen Herrschaftsstruktur. In dieser Form der besonderen Zeit ist der Herrscher ein Heiliger oder Sakrosankter. Das Böse spielt keine Rolle. Im Rückblick kommt es ohnehin nicht von ihm, sondern von bösen Mächten
Solche Denk- und Mentalitätsstrukturen wirken sich auf heutige Machtstrukturen aus. Ein mythischer Held kann nicht abdanken; er muss von den Höhen her entthront werden, nicht von Menschen, sondern vom Schicksal.
Eine politische Wahl ist nackte Geschichte, keine Mythologie. Hier kommt der Stimmzettel mit dem Kreuz hinein; das Salben ersetzte einst all das. So kommt es, dass sich selbst barbarische Tyrannen als Werkzeuge der Götter und nicht des Volkes verstehen. Mental gibt es noch keine Demokratie; alles bleibt vorderhand ein Spektakel der Götter und Geister, der Ahnen und irgendwie der Prähistorie.
Auch ihr Wirken sehen diese Regierenden in den Händen des Schicksals. Schicksal ist ein mythischer Begriff, der Götter und Volk umgreift. Noch immer sind die historischen Gestalten Mystagogen und Mythologeme. Mythen können sich wiederholen. Geschichte jedoch ist einmalig. Sundjata, der mythische Begründer des Mali-Reichs im 13. Jahrhundert, lebt und setzt sich fort wie ein Religionsstifter. Wer immer in Guinea, Mali oder Niger von heute regieren will, muss seine Verwandtschaft auf ihn zurückführen, um sich legitimieren zu können. Dazu braucht es zwei wichtige Dinge: den Stammbaum und den Griot. Genauso verhält es sich im südlichen Afrika mit Chaka, von dem wir - obwohl zu Beginn des 19. Jahrhunderts agierend - weder Geburts- noch Todesdatum kennen.
Die ganze Gewalt und Grausamkeit im heutigen Afrika verliert daher die zeitliche Dimension der Geschichte. All das spielt sich irgendwo in der Mythologie ab, und diese wird immer überhöht und dramatisiert. Das Drama wird zur gewaltigen Göttergeschichte. Der wilde Gott rast, tötet und frisst. Ob 30 oder 300 oder 3000 Opfer, ist irrelevant. Selbst Zahlen haben hier eine ganz andere Bedeutung als bei uns im Westen. Was Kaiser Bokassa tat oder wie sich Idi Amin benahm, das ist zum grossen Teil Geschichte bloss für uns; für afrikanische Menschen sind es notwendige Übertreibungen und Dramaturgien. Der Tod eines Familienmitglieds ist auch für diese Menschen schrecklich; wenn es dazu noch andere Familien betrifft, werden sie Teil einer übermenschlichen Tragödie; da spielen Zahlen keine Rolle mehr. Das Ganze ist sehr leicht mit dem christlichen Martyrologium in der mittelalterlichen Kirche, später weitergeführt im Brevier der Priester mit der ersten Lesung bis um 1960, zu vergleichen. So ganz ernst, also historisch, nahm diese Legenden keiner; blöd waren die Priester auch nicht alle; ein Schmunzeln gehörte dazu.
Ich weiss, dass diese Hypothese gefährlich sein kann. Es ist der Versuch einer Deutung, die wir endlich wagen müssen und die einiges zur Frage sagt: Warum diese überdimensionierten Grausamkeiten? Eines dürfen wir nicht vergessen, dass Raum und Zeit im heutigen Afrika durcheinander sind, sich im Übergang auf zwei Denkebenen befinden - auf dem langen und langsamen Weg zur Geschichte.
These 3: Weil zwei Welten und Denkweisen frontal zusammenstossen, sind Tür und Tor zu Missverständnissen offen. Wir reden etwa von historischen Bewältigungen, für viele Afrikaner bedeutet es die Vernichtung von Mythen
Falls - wie hier angenommen - Raum und Zeit anders in der Vorstellung afrikanischer Menschen sind, dann fehlt uns der direkte Vergleich mit unseren westlichen Kulturen von heute. Aber auch diese haben einen Vorgang der Entmythologisierung und der Aufklärung hinter sich. Ein Rückblick auf diese Vorgänge kann uns zu einem afrikanischen Verständnis behilflich sein.
Ich wage zu behaupten, dass afrikanische Menschen von heute sich mit Mythen und nicht mit Historie auseinandersetzen und dass das der Grund ist, warum sie - von uns aus gesehen - nicht über den Kolonialismus hinauskommen. Sie brauchen zur Erklärung einer fast unlösbaren Wirklichkeit eine Überhöhung und eine Fortsetzung von etwas, das beide Seiten verstehen. Genauso wie die Sklavenzeit, die historisch gesehen durcheinandergeworfen wird. Es müsste längst zu Differenzierungen von europäischer, arabischer und afrikanischer Sklaverei kommen. Aber: Differenzierungen kann ein Mythos nicht brauchen. Unter historischer Analyse der Sklavenzeit verstehe ich den Einbezug aller Beteiligten, Faktoren und Zeitbedingtheiten. Ohne solche Analysen wird alles paradox oder gar bizarr, vor allem wenn Mythisches und Historisches auf eine monetäre Ebene gestellt werden.
These 4: Auf solchem etwas konfusen Denkhintergrund scheint eine Erinnerungsarbeit unmöglich. Und dennoch spielt Erinnerung in allen afrikanischen Denkweisen eine grosse Rolle. Aber es ist eine Erinnerung an Bilder und nicht an Fakten, an dramatische Vorgänge und nicht an Details
Wiederum möchte ich diese Denkweise mit christlichen Vorgängen, vor allem mit dem christlichen Abendmahl, vergleichen. Christus gibt seinen Jüngern den Auftrag: «Tut dies zu meiner Erinnerung.» So entstanden all die vielen Abendmahlsbilder. Alle waren wichtig und richtig. Sie waren keine Historienmalereien, hatten nichts mit heutigen Fotografien zu tun; Memorialien sind dennoch ernst zu nehmen.
Hier geht es selten um historische Genauigkeit; sie sind exemplarisch und ideell, Meditationsbilder und Mandala. Afrikanische Menschen gehen eher so vor, wie wir es von Tragödien und Theaterstücken her gewohnt sind. Deshalb verstehen sie Sophokles und Shakespeare so gut. Es geht um ein exemplarisches Aufzeigen, also um ein Beispiel für alle, pars pro toto und eine Anamnese von Schuld als Ganzem, weder von Details noch von einer genauen Zeit; einfach um ein Erleben des Ausgestossenseins oder des Verachtetwerdens mag es gehen.
Wenn wir es konkret und genau in Zeit und Raum gestellt sehen, ist es auf afrikanischer Seite symbolisch und exemplarisch, typologisch und stellvertretend, kosmisch oder generalisierend gemeint. Hier stossen zwei ganz verschiedene Schuldbegriffe aufeinander. Somit wäre ein ganz anderes Wiedergutmachungsgespräch (Restitution) zu führen. Mit dem anderen Zeitbegriff wird sowohl Busse als auch Wiedergutmachung anders begriffen, was zu vielen Missverständnissen Anlass gibt. Heute wird einfach alles auf der Ebene des Geldes gelöst. Irgendwie lächerlich, diese Ebene spielt zwar eine Rolle, aber sie führt noch und noch zu Missverständnis und Abneigung, Hass und Rassismus.
Bei afrikanischen Menschen fand die Versöhnung an Gräbern statt und es ging um ein Opfer für die Ahnen. Diese Riten gibt es zwar noch immer, aber die Ahnen und Geister haben sich modernisiert; inzwischen haben sie Whisky und Coca Cola trinken gelernt.
These 5: Für afrikanische Menschen ist die Kontinuität wichtig - dass es weitergeht und zwar so wie bis jetzt
Die Zeit darf nicht allein sein; man darf sie nicht verwaisen lassen. Die Zeit muss mit Musik und Tanz erzeugt und begleitet werden. Zeit allein wäre das Schrecklichste, das es geben kann. Auch bei den Griechen war Chronos einer der Furchtbarsten.
Immer hat mich überrascht, wie Salvador Dalis fliessende Uhren gern in afrikanische Schulzimmer gehängt wurden. Unbegleitet ist diese Zeit wie eine Überschwemmung oder eine Geröll-Lawine.
Deshalb muss diese Zeit bei allen Übergängen in Kontrolle gehalten werden. Für wichtige Übergänge benötigen afrikanische Menschen Gesellschaft oder Begleitung, bei der Geburt, beim Übergang zum Erwachsensein, zur Heirat oder zum Sterben.
Bei Übergängen lässt man das Alte mit dabei, bis das Neue sich etabliert hat. Revolutionen mit totalem Abbruch des Alten gibt es auf diesem Kontinent nicht. Aber war solches überhaupt irgendwo auf der Welt jemals möglich? Im Afrikanischen kann es eigentlich keine Revolutionen und Brüche geben.
Vergangenheit ist nie vorbei. Immer ist sie mit uns. Darin liegt der Kern des Ahnenbegriffs Ohne diese Ahnen kann keine afrikanische Zeit verstanden werden. Sie ragen in unsere Geschichte hinein; das Wichtigste lebt im Hintergrund, der für uns nicht ausmachbar, sondern bloss erahnbar ist. Die Ahnen leben über uns, den jetzt Lebenden, weiter.
These 6: Ohne Ahnen kann keine afrikanische Zeit begriffen werden. Sie sind eigentlich die Wirkenden; sie bestimmen das Geschehen. Und sie sind mit uns wie Antipoden
An die Zukunft denken ist Flucht aus der Verantwortung, ist Verrat oder - sanfter ausgedrückt - eine Beleidigung der Vergangenheit. Die Ahnen leben über uns fort. Sie sind die Speerspitze. Sie leben mit uns, den Verwandten, momentan. Nicht du als einzelner Mensch bestimmst, wie alles weitergehen wird. Die Ahnen sind es, und sie wollen das Jetzt. Daher ist ein Zukunftsdenken bloss sehr vage vorhanden.
Die Zukunft ist menschenleer. Menschen mit Bezügen zu Ahnen gibt es nur bis heute, also nur bis zum «hie et nunc». Diese Zeit kann nicht wie in unserem Denken ins Futurum erweitert werden. Das Nachher ist unbedeutend. Ist das westliche und mittelöstliche Denken sehr stark apokalyptisch oder eschatologisch geprägt, so erweist sich afrikanischer Glaube als ein immerwährendes Kontinuum. Schon deshalb, weil alle Ahnen gleich sind und alle weiterleben wollen. Das tun sie jedoch nur, solange jemand an sie denkt, nachdem sie aus dieser Welt verschwunden sind. Das ist der Grund, warum Stammbäume eine derart wichtige Rolle spielen. Selbst das Wort «roots» hat in den afrikanischen (Bantu-) Sprachen eine andere Bedeutung als bei uns. Dieses Verständnis hat erneut mit mythischem Denken zu tun.
Das macht es uns auch so schwer, afrikanischen Menschen einen Entwicklungsprozess - ohne Bezug zu Ahnen - oder ein Planen in die Zukunft zu erklären. Alle afrikanischen Fünfjahrespläne, die Regierungen von Zimbabwe bis Nigeria oder von Uganda bis Senegal erstellen, sind nutzlos. Abstrakt kann nach afrikanischer Art keine Zukunft entwickelt werden - ausser mit einer Leitlinie, die fragen lässt: Wieviele Kinder braucht es dazu?
Die Bevölkerungsfrage muss auf diesem Hintergrund gesehen werden. Es braucht soviele Kinder, dass mindestens das eine oder andere überlebt, dass der Stammbaum weitergeht. Ein Verzicht auf Nachkommen ist unvorstellbar oder Selbstmord. Vor uns die Leere, hinter uns die Ahnen.
These 7: Zeit und vor allem der Umgang mit ihr wird zur Machtdemonstration. Macht lässt warten. Das ist afrikanisches Zeitverständnis
Wenn der Häuptling ruft, ist Verspätung schwere Beleidigung. Einem Mädchen oder einer Frau gegenüber später zu kommen, ist Manifestation der Macht.
Dieses Gehabe wird heute von Politikern dem Volk gegenüber angewandt. Ein Minister lässt dich bis zu drei Stunden warten. Das soll zeigen, dass er viel zu tun hat und dass du letztlich unwichtig für ihn bist. Du kannst jedoch nicht sagen, dass der Chef ohnehin 2 Stunden zu spät kommt, und statt um 8 erst um 10 Uhr erscheinen. Wichtig ist auch hier wieder, dass du zuvorderst in der Reihe bist. Kämest du später, wäre dein Platz verspielt. Warten ist eine wichtige Respekterzeugung. Dass diese erzwungen werden kann, gehört auch zu afrikanischer Denkart.
Zeit und vor allem der Umgang mit ihr wird zur Machtdemonstration. Macht lässt warten: das ist weitgehend afrikanisches Verständnis.
These 8: Religion hat stets Zeit eingeteilt
In Afrika haben wir drei grosse Religionen: die traditionelle, den Islam und das Christentum. Von der traditionellen Religion war bereits im Zusammenhang mit Ahnen und Übergängen die Rede.
Der Islam enthält mindestens drei wichtige Zeitmerkmale. Fünfmal am Tag (und das genau nach dem Mond bestimmt) soll der Gläubige beten. Der wichtigste Tag ist der Freitag mit dem Freitagsgebet in der Moschee. Jedes Jahr kommt der 40tägige Fastenmonat Ramadan hinzu, terminlich ebenfalls vom Mond bestimmt. Da es hiess, der Mensch müsse Sonne oder Mond sehen, entstand in Ländern mit einer grösseren Bewölkung als in Saudiarabien eine neue mythologische Gebarensweise (bis zum Anheuern eines Flugzeugs, um den Sonnenaufgang früher oder überhaupt zu sehen). Die Fastenzeit und der Haj, einmal im Leben eine Pilgerfahrt nach Mekka, prägen in Afrika den ganzen Sahelgürtel, das Horn, die Suaheliküste und grosse Gegenden im Norden von Nigeria und Kamerun.
Das Christentum kam mit anderen Zeiten, die längst bei bestimmten Bevölkerungsschichten afrikanisiert sind. Weihnachten hat den ganzen Kontinent (inkl. Islam) erobert. Ostern mit der Auferstehung Christi ist ein wichtiger Tag geworden. Die Wocheneinteilung und die Jahreszählung wurden christlich beeinflusst.
These 9: Zeit geht mit und du mit ihr
Da Zeit nichts Absolutes ist, hat jede Kultur ihr besonderes Zeitverständnis. Unser Zeitverständnis war seit Ende des letzten Jahrhunderts, seit der Industrialisierung und dem Einführen der Stechuhr, an die Uhr gebunden. Aber auch wir befinden uns in Veränderung. Scheinbar zählen immer mehr Hundertstelsekunden. Wir beginnen elektronisch zu leben. Beispiel: Leichtathletik- oder Autorennen können bloss noch elektronisch gemessen werden. Die gute alte Stoppuhr ist Geschichte. Der Mensch kann eine Tausendstelsekunde nicht wahrnehmen.
These 10: Auch afrikanische Menschen entrinnen der Zeit nicht. Sie wird bloss anders eingestuft und gemessen. Jedoch einfach von afrikanischer Zeit zu sprechen ist gefährlich und unsinnig. Manches haben im Laufe der Geschichte auch Europäer erlebt. Doch dieselbe Zeit kommt nie zurück
Was bei uns als Verspätung verstanden wird, einfach als afrikanische Zeit zu erklären, ist Unsinn. Die Zeit hat einen anderen Bezug oder ist stets mit Bezügen verknüpft.
Zwischen Alt und Jung klafft der Zeitbegriff immer mehr auseinander. Genau wie einst bei uns. «Früh am Morgen» oder «um 4 Uhr» hiess traditionell etwa dann, wenn die Hähne bereits zwei- oder dreimal gekräht hatten. Es waren Bezüge zur Agrarkultur auf dem Land. In der Stadt werden die Bezugssysteme verändert und so kommt zu Beginn manches durcheinander.
Ein Beispiel ist mir eindrücklich geblieben. Da liess vor Jahren ein afrikanischer Schiedsrichter ein Fussballspiel über eine Viertelstunde nachspielen. Scheinbar vergass er sich und wollte die Chance zu einem Ausgleich geben. Oder stimmte seine Uhr nicht? Erstaunlich war bloss, dass er das laute Lärmen der Zuschauer nicht zu interpretieren verstand.
Ob die Menschen Afrikas wollen oder nicht, sie werden in allen Ländern in unsere Zeit hineingenommen. Wer Radio hört, wird in die Zeit genommen. Dann und dann sind die BBC-Nachrichten oder Lokal-Nachrichten. Das Fernsehen ist genauso strikt. Mit dem aufkommenden Handy kommt auch die Berechnung, wann jemand anzurufen ist und wieviel die Minute kostet. Auch in der Schweiz hat das Radio einmal die Zeit verändert; das Fernsehen hat es wiederum getan. Lange gab es selbst bei uns Kirchenglocken, die religiöse Zeit mit unserer Zeit verbanden: etwa das Angelus- oder Abendläuten.
Schluss
Auch afrikanische Menschen entrinnen der Zeit nicht. Sie wird bloss anders eingestuft und gemessen.
Was bei uns als Verspätung verstanden wird, einfach als afrikanische Zeit zu erklären, ist Unsinn. Die Zeit hat einen anderen Bezug oder ist stets mit Bezügen verknüpft.
Zwischen Alt und Jung klafft der Zeitbegriff immer mehr auseinander. Genau wie einst bei uns. «Früh am Morgen» oder «um 4 Uhr» hiess traditionell: dann, wenn die Hähne bereits zwei- oder dreimal gekräht hatten. Es sind die Bezüge auf dem Land. In der Stadt werden die Bezugssysteme verändert und so kommt zu Beginn manches durcheinander.
Wie wird Zeit in Afrika weitergehen oder in unserem historischen Sinn langsam in neue Zeiten und Räume hineinkommen? Wir wissen es nicht.
Gibt es etwa zum Übergang eine Mischung von mythischer und historischer Zeit? Ich weiss es auch nicht.
Braucht der Mensch südlich der Sahara unsere Zeit? Wahrscheinlich schon, denn er ahmt den Europäer nach und bekommt mehr und mehr Inferioritätskomplexe, weil er im Kopieren nicht mehr zu folgen vermag, ins Durcheinander gerät.
Wenn also wir Christen oder EuropäerInnen nach einer afrikanischen Zeit fragen, müssen wir wissen, dass es keine urafrikanische Zeit mehr gibt. Afrikanische und islamische Zeit sind in weiten Gegenden ineinandergeflossen, vor allem die zwei Extrempunkte dieser Kulturzeiten: die Zeit der Ahnen und die islamische Endzeit. Da jedoch der Islam selbst bis heute in der mythischen Zeit geblieben ist, ging das mit dem Afrikanischen relativ leicht und gut einher.
Insofern muss und darf ich am Ende dieser Analyse modifizieren: Es gibt auf diesem Kontinent neben der afrikanischen Zeit (und diese ist mit dem Ahnenverständnis engstens verknüpft) auch eine islamische und christliche Zeit. Alle drei Zeiten gehören daher zum «Afrikanischen».
Ginge ich noch tiefer, dann müsste ich abermals unterscheiden zwischen pastoraler oder Hirtenzeit und einer Hackbauernzeit. Südafrika und (ein wenig bloss) Namibia plus Katanga im Kongo kämen gar mit einer Bergbauzeit dazu.
Damit sehen wir abermals, dass Zeit neben anderem stark von zwei Faktoren mitgeprägt wird: Es gibt die Zeit der Religion und die Zeit der Landwirtschaft, später gefolgt von der Zeit der Wirtschaft und Industrie.
In diesem Sinne sehen wir ganz klar, dass Afrika nicht als Kontinent und auch nicht, weil ein grosser Teil der Bevölkerung schwarz ist, in sich eine andere Zeit hat. Afrikas Zeiten gehen dauernd und überall in andere Zeiten über. Afrikas Zeiten mögen bloss zyklisch zu den anderen verschoben sein.
Das Sinnvollste, was ich also sagen darf, ist wohl, dass Afrikas Zeit in vielem zu anderen Kulturen zeitverrückt ist, nicht ahistorisch, sondern insgesamt betrachtet von einer besonderen Geschichte und somit von einer immer wieder anderen Zeit geprägt ist. Ceterum censeo: Afrikanische Menschen stehen an einem Übergang.
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Al Imfeld© Neue Wege 1999 Heft 3