Agrar-Kultur und Agrar-Spiritualität
Anregungen zum Nachdenken
1. Ein vermeintliches Gefälle vom Sakralen zum Profanen bedeutet keinesfalls Abfall im ethisch-moralischen Sinn
Wie alles im menschlichen Leben, so ist auch Agrarkultur oder Landwirtschaft dem Wandel und damit der Geschichte unterworfen. Es gibt keine fundamentale Ur-Form (im Sinne des Religionswissenschaftlers Mircea Eliade), die immer so und nur so das Attribut Kultur oder Spiritualität verdiente. Es gibt daher keine Rückkehr zu früher, denn so etwas wäre nur möglich, wenn etwas im Ewigen oder im Ahistorischen läge. Alles Gejammer über das Heute und die Nostalgie nach dem Einst ist eine Fiktion (meist sogar eine gefährliche Illusion) und stiftet keinen Sinn. Es gibt kein - in der Terminologie Mircea Eliades - «in ilio tempore»; genauso wenig wie es ein dauerndes Absinken, Säkularisieren, Profanieren und Nivellieren gibt.
Gerade Bauern resp. Landwirte wissen, was Dreck ist. Sie sollten ihn nicht verachten und bloss nach dem Schein des Himmels Ausschau halten. Zwischen Staub und Wolke gibt es einen Unterschied, und doch können sie zur Staubwolke werden...
2. Landwirtschaft ist nicht vorgegeben, sie muss immer neu verwirklicht, vermenschlicht oder inkarniert werden
Seit es den Menschen gibt (schätzungsweise 300’000 bis 500’000 Jahre), gibt es Landwirtschaft und Agrarkultur. Es ist barer Unsinn zu behaupten, der Mensch habe die Landwirtschaft erst im späten Neolithikum sozusagen erfunden. Menschen im halbmondförmigen Gürtel zwischen Nil, Euphrat und Tigris passten damals ihre Agrarkultur aus einem neuen Selbstverständnis heraus neuen Gegebenheiten, nämlich der zunehmenden Urbanisierung und Verwaltungspopulation, an. Diese damalige Anpassung darf weder mystifiziert noch verabsolutiert werden. Sie kann höchstens ein Vor-Bild, jedoch niemals eine Norm oder ein Ur-Bild für alle Bauern auf dieser Welt sein. Das wäre ahistorisch und ethnozentrisch, unökologisch und kulturlos. Neben dem Fundament Land oder Boden hat die Landwirtschaft zwei wichtige Achsen: Raum (Ökologie) und Zeit (Historie).
Der Bauer oder Landwirt (und stets sind Mann und Frau, alt und jung gemeint und eingeschlossen!) arbeitet dauernd an einer Fleischwerdung (lncarnatio) und somit an einer Menschwerdung (Hominisatio). Er hilft mit, Dinge auf die Erde oder den Boden zu holen. Auf stets anderem Grund und Boden muss er Neues anpassen und umformen.
3. Der Bauer hat sich in jeder Zeit neu zu definieren und sich mit gegenwärtigen und lokalen Gegebenheiten (sowohl Chancen als auch Widerwärtigkeiten) gestalterisch, wie etwa mit Zähmen und Züchten, aber auch hegend mit Streicheln oder betretend beim Begehen auseinanderzusetzen. Nicht bloss ein körperliches, sondern auch ein inneres Handausstrecken braucht es ebenfalls in heutiger Zeit. Ein Mit- und Nachziehen, ein Anziehen und Abstossen sind wie die Chemie wichtig
Wie bei Migration immer die letzten Einwanderer die Bösen sind, so verhält es sich auch in der Agrargeschichte. Für die Pastoralisten wurden alle sesshaft agierenden Hackbauern zu Verrätern und Rohlingen. Diese auf der anderen Seite wehrten sich und weigerten sich, fortan Fleisch und Tierprodukte zu essen. Wahrscheinlich werden wir von diesem Abwehr-Modell kaum loskommen, doch sollte so etwas Bauernphilosophen und -beratern bekannt sein. Neu sich definieren heisst andere nicht verketzern, nicht mauern und abschirmen. Mit stets neuen Feindbildern und Verschwörungstheorien kann keine echte Kultur und noch weniger eine tief greifende und kreativ sich auswirkende Spiritualität entstehen.
Wenn einer oder eine es weiss und erfahren hat, dann der Bauer oder die Bäuerin: Alles ist ein Gehen und Kommen, ein Werden und Vergehen. Er weiss in etwa, was er von den Jahreszeiten zu erwarten hat. Selbst da muss er auf der Hut sein, sie nicht zu verschlafen oder im Frühling stehenbleiben zu wollen. Er und sie müssen beständig wachsam und aufmerksam sein. Wenn das schon die Erfahrungswirklichkeit ist, warum sind sie so wehleidig, manchmal gar blind, wenn es um die Umwandlung ihres Bilds und Auftrags geht?
4. Übergänge sind «heiss», d.h. leicht verwundbar für die existierende Kultur und verletzlich für den existierenden Glauben. Übergänge sind daher gefährlich. Sie sind ein Risiko, weil niemand wissen kann, was daraus schliesslich hervorgeht
Kleinere Übergänge gibt es permanent. Die Agrargeschichte kennt jedoch einige einschneidende und in der Folge alles umkrempelnde Übergänge. Einer davon war der von der «Wildbeuterei» (jagen/ sammeln) zum Pastoralismus (Weide- und Hirtenkultur); später ein Übergang zum Wander-Feldbau, zur Dreifelderwirtschaft; stets mit etwas Rotation. Der andere Faden beginnt mit der Sesshaftigkeit, dem Bauernhof, beschreibt den Übergang vom Klein- zum Grossbetrieb, ja zur Plantagen und Monokultur. Bei all diesen Übergängen ging es heiss und emotional zu. Die «Reinen» resp. die Traditionalisten verachteten und verketzerten die «anderen», die «fremd»-gingen, sich beschmutzten und zu Verrätern wurden, und umgekehrt lachten die «Neuerer» über die Rückständigkeit und Bockbeinigkeit der Traditionalisten.
An einem erneuten Übergang befindet sich die Landwirtschaft heute. Davon sind Pastoralisten und Sesshafte, Klein- und Grossbauern genauso wie Bergbauern oder Plantagenbewirtschafter gleicherweise betroffen. Man wollte hoffen, dass endlich aus der Geschichte gelernt würde, mit der Folge, dass alle verschiedenen Bauerntypen zusammenstünden und sich nicht gegenseitig als Verräter den Untergang wünschten. Doch dasselbe, fast menschenunwürdige Schau- und Zerreisspiel wie eh und je spielt sich ab.
Bauer und Bäuerin wissen über heikle Übergänge, etwa wenn der Samen eben spriesst und Reif (Frost) ihn schon wieder vernichten könnte. Man läuft also über die Felder, um Wärme auszustrahlen. Man macht etwas Rauch und hüllt damit Junges und Schwaches ein.
5. Jeder Übergang ist gleichzeitig eine Weg-Kreuzung oder Gabelung. Danach gibt es - wie nach einer Zell-Teilung - mehrere Möglichkeiten, von denen niemand behaupten kann/darf/soll, nur seine Form oder Weise der Interpretation des Bauerndaseins sei die richtige. Eine vom Staat gegängelte oder dirigierte Landwirtschaft wird schon um der Verwaltung und der Verbände willen eine solche Vielfalt resp. Diversifikation nicht zulassen können, denn es wird heissen, solches sei zu kompliziert und aufwendig, nicht effizient oder politische Zersplitterung
Zu viele Bauern begreifen Vielfalt als Abspaltung und Ketzerei. Sie wollen noch immer eine sozusagen monotheistische Einheit. Sie akzeptieren nicht ihre eigene Vielfalt, ja, spielen diese gar als Gespaltensein hoch. Sie akzeptieren das Reale nicht. Einst war Gott alles, und sie waren nichts. Heute ist es die Wissenschaft, der sie zu oft blind folgen.
In jedem heutigen «Bauernverband» gibt es mindestens drei ganz verschiedene Daseinsarten der Agrarkultur:
- das Bauerndasein mit sehr viel Subsistenz und informeller Wirtschaft; ein kleines Ganzheitssystem;
- den Landwirt, ökonomisch einem Nationalstaat wie die Armee zum Schutz zugeordnet;
- die Agrogeschäftsleute, die mit den Produkten nicht primär Volk ernähren, sondern Geld verdienen wollen.
In den Bauernverband gehörten eigentlich genauso Hausfrauen mit ihrem Garten, Arbeiter mit ihrem Schrebergarten, selbstverständlich auch die Forstwirtschaft mit der Waldlichtung oder der Energiefarmer.
Vielen Bauern fehlen sowohl ein historisches Bewusstsein als auch ein Demokratieverständnis, das bewusst Vielfalt pflegt und respektiert. Sie begreifen andere Formen nicht als gleichwertig.
Gerade die Bauern und Bäuerinnen (vielleicht vor allem sie!) könnten an solchen Engpässen oder Toren des Übergangs eine moderne Spiritualität mit greifbaren Ritualen oder Bräuchen entwickeln. Sie sollten helfen, laufend jede Mauermentalität zu durchbrechen und eine breite Wachsamkeit, die sich nicht mit Sicherheitssystemen allein definiert, zu pflegen. Diese Offenheit muss in Symbolen, wie aufgehende Sonne, Mond, Knospe, und in Zeremonien, wie Bittgang oder Flurprozession (so war es einst, heute kann es doch Variationen mit Sinn geben!), sich ausdrücken; es mag auch ein Sprechen und Dichten beim Begehen oder Befahren sein; zusammengefasst können wir all das als eine Pflege der Meditation bezeichnen. Offenheit soll konkretisiert und im Kleinen immer wieder praktisch und mental eingeübt werden.
6. Etwas ganz Zentrales einer auch heutigen Bauern-Spiritualität ist das Kombinieren von Arbeit und «Gebet». Das benediktinische Ora-et-labora-Prinzip kann modernisiert weitergeführt werden. Es mag jedoch heute nicht nur an westlich-europäische Traditionen erinnert werden: es gibt weltweit und wohl bei allen Religionen erstaunliche Ähnlichkeiten
Die grosse abendländische Erneuerung ging nach dem Zerfall des Römerreichs von Benedikt von Nursia (um 500) und seiner Klosterreform aus. Er verlangte von den Mönchen neben Gebet und Meditation genauso treu und beständig Handarbeit. Pflege gemeinsamer Rekreation war ein Muss, genauso wie ein gemeinsames Zwischen-Mahl bei strenger Arbeit (Znüni, Zobig, Zfünfi), denn solche Zwischenverpflegung wurde nicht wie heute im Vorbeigehen miteingenommen und allein eingenommen. Benedikt wollte weg von der Einseitigkeit oder Monokultur des Geistes und des Individuellen und hin zur Verbindung von Gebet und Arbeit, von Einzelzelle und Gemeinschaftsraum.
Diese Verknüpfung von Meditation und Handarbeit finden wir in ähnlicher Weise bei den zen-buddhistischen Mönchen Japans. Denken wir an die meisterhaften Steingärten von Kyoto (Japan) mit ihrer Einheit von Meditation und Gestaltung oder ans Hegen und Pflegen von Bonsai-Bäumchen. Die Mönche meditieren nicht etwa nur und lassen sich die Gärten der Meditation von einer modernen Gartenbaufirma erstellen. Nein, Meditation und Gestaltung des Gartens gehen zusammen.
Selbst bei den Hackbauern in Schwarzafrika oder bei den sog. Pygmäen des Regenwalds werden solche Formen der Abwechslung, des Kontrasts, des Vor- und Nachgebens, des Ein- und Ausatmens, der körperlichen und geistigen Tätigkeit, der brachialen und mentalen Instrumentalisierung gefunden. Warum soll ausgerechnet der moderne Bauer eine in allen Kulturen über Jahrtausende hinweg festgestellte Rhythmisierung aufgeben?
In den Händen der Mönche lag in fast allen Kulturen die Züchtung. Es ist kein Zufall, dass der Begründer der modernen Genetik der Augustiner-Mönch Gregor Johann Mendel ist. Eine solche Züchtung muss «eingespannt» in einen Kosmos und darf nicht ein Riss von Strängen sein.
Vielleicht ist dem früheren Mönch der heutige Wissenschaftler ähnlich. Es wäre auf jeden Fall für ihn hilfreich, Forschung mit Meditation, mit etwas Abstandnahme resp. «Gebet» zu verbinden. Beten hier heisst: nachdenken, meditieren, andere einbeziehen und an mögliche Folgen oder Auswirkungen denken. Gebet stellt Bezüge zu oben und unten her. Gebet ist nichts anderes als ein Einbinden und Verbinden. Die Vorsilbe «Ge-» sagt es deutlich: Sie schliesst mehrere ein und bringt sie zusammen (vgl. Ge-schwister). Gebet ist ein Distanz- resp. vorübergehendes Abstandnehmen.
Was einst für Agrar-Mönche galt, gilt noch heute für alle, die in irgendeiner Form mit Land-Wirtschaft zu tun haben. Sie sollten sich dessen bewusst werden und sein, dass zur Agrarkultur wesentlich dieses Einbinden und Verbinden gehören, und dass sie alle irgendwie Mittler, Vermittler oder (modern ausgedrückt) Medien sind.
7. Bauern und Bäuerinnen versorgen Menschen und Gesellschaften. Das Bauerndasein ist niemals autark, sondern eine Hin- oder Zu-Ordnung auf andere Menschen und Institutionen
Die Moderne hat sehr viel von Selbstversorgung gesprochen. Niemand jedoch vergesse, dass solches Gerede vor allem vom Nationalstaat und der Armee stammt. Selbstversorgung allein ist kein Wert. Im Gegenteil: sie schneidet ab, isoliert, nimmt den Bezug zu aussen weg und gibt Raum zur Selbsttäuschung und ordnet nach und nach die Bauern unter.
Bauern sollten merken, welch ein Unsinn es ist, von einer Abkoppelung zu reden. Der Bauer befreit sich auch nicht, wenn er sich von allem loslöst. Seine Spiritualität ist die eines Vermittlers. Der Bauer kann seine Unabhängigkeit falsch deuten und wird mit ihr im Verderben enden. Immer - ob er es liebte oder nicht - stand der Bauer zwischen Arm und Reich, oben und unten. Der Bauer wird immer von anderen abhängig sein: er ist ein Zwischenglied.
Gerade diese Sicht ist zentral in der Formulierung einer erneuerten Bauern-Philosophie und -Spiritualität.
8. Landwirtschaft ist ein Austausch verfahren: ein Geben und Nehmen, ein Zerstreuen von Körnern, um sie später vermehrt einzusammeln. Selbst diese Ernte dient auch dem Tausch und Markt, um andere wissen und teilnehmen zu lassen. Keine Ernte dient bloss der Ernährung. Die Ernte ist des Bauern Botschaft, zugleich seine Kommunikation und Währung
Mit was der Bauer keine Arbeit hat, gehört ihm nach alter Tradition nicht. Daher durften Fremde in den Wald, um Holz aufzulesen, oder an seinen Rand kommen, um Beeren abzulesen oder im Herbst - nach der Ernte - auf dem Land Pilze sammeln. Wäre es wirklich jemals bloss um Selbstversorgung und Ernährung gegangen, dann hätte der Bauer wohl auch Pilze, Nüsse oder Beeren für sich beansprucht. Landwirtschaft war immer eine Form der Kommunikation - eine Mitteilung an andere.
Dieses System wurde leider langsam, aber zusehends zu einem einseitigen Subventionsnetz: Die Bauern gingen wie Fische ins Netz des modernen National-Staats, der Bauern wie Soldaten begreift, einsetzt und benutzt. Bauer und Soldaten zusammen sichern den Staat.
Es wurde vor allem in Kreisen des Adels und Klerus und wird heute von Idealisten so getan, als ob Landwirtschaft bloss der Ernährung zu dienen hätte. Sie hatte schon seit eh und je, also vor ihrer Nationalisierung, viele andere (wenn auch nicht bewusste) Funktionen. Kein Mensch und erst recht nicht ein Bauer lebt vom Brot allein.
Der in den siebziger Jahren in entwicklungspolitischen Kreisen so wichtige Ausspruch Food First (er geht auf den Titel des Bestsellers von Frances Moore Lappe und Joseph Collins zurück) kann ganz falsch und für Bauern versklavend aufgefasst werden. Vor dem täglichen Brot kommt, wie heute die Elendssoziologie nachweist, der Respekt oder die Anerkennung. Es wurde daher geerntet, um Ansehen, Respekt oder Selbstwert zu erhalten.
Immer wieder wurden Produkte angebaut, welche die Bauern gar nicht selbst assen. Immer wurden auch Opfergaben geerntet. Angebaut wurden genauso Symbole und Zeichen: Blumen auf Gräber oder für Helden. Neben den Opfern für Götter brauchte es die Geschenke für Nachbarn und Freier, Fremde und Pilger. Selbst zu Zeiten der Hungersnot wird der Durchschnittsbauer nicht nur für die Selbstversorgung produzieren, denn mit gezeigtem scheinbarem Überfluss betört er die bösen Geister.
Erst der hundertjährige Nationalstaat wollte die Bauern allein für sich haben und sie exklusiv für diesen Staat produzieren lassen. Er gab ihnen vor, dass Selbstversorgung ein hohes Ideal sei. Er zerriss somit ihre Bezüge über die Grenzen hinweg. Selbst Nachbarn wurden zu Feinden oder Fremden. Von ihnen sollte nichts gegessen werden. Was aus anderer Hand kam, war unrein. Einst der Sakral-, heute der Nationalstaat macht(e) Bauern im Kern zu Wächtern gegenüber Fremden. Alles Fremde wurde verdächtigt. Selbstversorgung ist eine Grundlage des Rassismus und des Fremdenhasses. Die WTO könnte ein Ansatz sein, um das zu durchbrechen.
Food First als ein Akzent, ja; jedoch nicht als Puritanismus. Wir produzieren auch zur Verschwendung und zum Überfluss. Luxus hat auch seine Stellung in der Gesellschaft. Selbst hier gilt: Der Mensch lebt nicht vom Brot allein. Die heutige Welt zeigt millionenfach, dass gar bei Überschuss an Nahrung viele Menschen an Hungersymptomen leiden; sie essen zuviel oder zu wenig, um Botschaften auszuschicken...
9. Ein Herzstück des Bäuerlichen ist seine Subsistenz. Wenn diese nun auch noch total monetarisiert werden soll, dann sind Bauerntum und Landwirtschaft (zwei Wege) am Ende. Sie würden einer Monokultur des Agrobusiness (wahrscheinlich nur kurze Zeit) Platz machen
Ein bodenständiger Bauernphilosoph aus meiner Heimat war immer felsenfest überzeugt, dass höchstens Arbeiter, aber niemals Bauern an den Sozialismus von Marx hätten glauben können. Jeder Bauer müsste eigentlich wissen, dass er Spiritualist und Kapitalist in einem ist, und dass nichts voll determiniert (weder vom Kapital noch von Gott dem Allmächtigen) ist. Er weiss zwar, dass er vom Wetter oder von Jahreszeiten abhängt und dennoch ohne sein Zutun oder Mitgehen keine Ernte anfällt. Er ist - trotzdem - ein Meister zwischen verschiedenen Kräften. Jeder ehrliche Bauer weiss, dass er ein Doppelwesen oder ein Schlaumeier dazwischen sein muss. Der Bauer hat durch alle Zeiten hindurch Subsistenz und Kapitalismus verbunden.
In der Subsistenz stecken bescheidene Elemente des Sozialismus. Daher wäre es ein Teil seiner Spiritualität, dem formellen Sektor (Geld und Kapital) diesen informellen wie einen Schutz oder ein Korrektiv beizufügen. Wenn alles genau nach Zahlen und Geld-Währung berechnet werden soll, kann den Lebensunterhalt bald niemand mehr bezahlen.
Genau diese Subsistenz macht es wohl aus, warum für einen bäuerlichen Rohstoff (und somit auch für die Kolonialprodukte) niemals ein «gerechter» Preis bezahlt werden kann. Wie soll der Bauer (auch der einer Plantage) seine Sorge oder sein Risiko in Geld fassen? Oder wie kann er sein Warten, vielleicht Zittern und Trauern, mit Zahlen verrechnen? Bauern sollten sich - genauso wie Frauen - weigern, alles mit Geld berechnet zu bekommen. Das ist nicht der Weg zur Befreiung, sondern zu totaler Lohn- und Steuer-Abhängigkeit. Lasst ruhig einiges im Dunkeln oder Vagen liegen!
Das Los des Bauern ist sein Trotz, deshalb gibt es neben all dem Klagen sein Trotzdem.
10. Der alles monetarisierte Landwirt wird nicht nur der Betrogene, sondern auch der Frustrierte sein. Des Landwirts Arbeit und das ganze Drum-und-Dran kann niemals fair oder gerecht in Geld-Wert gefasst werden. Nach heutiger und vom Zeitgeist bedingter Buchhaltung kann das Landwirt-Dasein gar nie profitabel und selbsttragend sein. Primär brauchen Bauern - genauso wie Frauen oder schwarze (und weitere andersfarbige) Menschen - Respekt und Anerkennung, die Bewunderung und Neugierde anderer, also den Rück-Bezug, d.h das Bewusstsein, eine Aufgabe in dieser Gesellschaft zu erfüllen und nicht bloss eine Last zu sein
Immer wieder heisst es, dass Bauern untereinander sehr missgünstig seien; sie mögen sich gegenseitig - so heisst es - nichts gönnen. Gehe es einem besser, komme er sofort unter Verdacht, entweder mit dem Teufel oder dem Grosskapitalisten zusammen unter einer Decke zu stecken...
Bauer und Bäuerin werden mehr und vielseitiger «gebraucht», als eine total kapitalisierte Gesellschaft wahrhaben will. Ihr Dasein, aber auch ihr Sosein sind unbezahlbar und nicht über einen Preis abzurechnen. Für die Moderne ist das verhängnisvoll, doch es bedeutet auch den Schutz vor der totalen Zerstörung der Landwirtschaft. Also, der Bauer lasse sich nicht alles berechnen und bezahlen, um der Verzweiflung des total Beschissenen zu entgehen.
11. Niemals lasse sich ein Bauer bloss auf nur eines ein. Er stehe dazwischen und werke vieldeutig. Vor allem jedoch sei er davor gewarnt, nur Eines und Reines, bloss Gutes und Schönes zu tun. Bauer sein heisst, in die Mit-Welt und somit auch die Natur einzugreifen und ab und zu sogar zu zerstören, damit anderes entstehen kann. Bauer sein heisst unrein werden. («Du muesch i Dräck länge!»)
Jeder Landwirt steht zwischen Ökonomie und Ökologie, zwischen Tierzucht und -schutz, zwischen Genen. Das ist seine Existenz und diese soll nicht modernistisch und verkürzt bloss als «Sachzwang» begriffen oder gedeutet werden.
Sich nicht auf andere Seiten einzulassen, das wäre und ist ein Verrat am Wesen des Bauerseins, d.h. an der bäuerlichen Kultur. Sich die Weste verschmutzen und die Finger verbrennen, gehören zu seinem Beruf. Der Ausweg zum Purismus macht den Bauer nicht heilig. Er muss ritzen, Wunden schlagen, bluten lassen, Leid verursachen und kann dennoch stolz sein.
Es sind fundamentalistische Töne, wenn Bauern insgesamt alles Neue verwerfen, besonders wenn sie heute meinen: WTO, IWF, WB, EU seien einfachhin böse und würden bloss das Heiligtum der reinen Landwirtschaft zerstören.
Besser ist eine Spiritualität des Sich-Einlassens und einer direkten Konfrontation von Leben und Tod und damit oftmals verbunden von Hass und Liebe. Die moderne Agrarspiritualität braucht das Teasing (das Foppen und Zänkeln) und das Bargaining (das Feilschen und Händeln). Irgendwo und irgendwie haben Bauer und Clown sehr viel gemeinsam. Vielleicht stünde den heutigen Bauern jeder Couleur etwas vom Zirkus-Clown oder vom Kabarettisten bestens an.
Ebenfalls gibt das altgriechische Verständnis der Tragödie manches für eine bäuerliche Philosophie her. Sophokles kann noch immer zu den Grundlagen einer abendländischen Agrarspiritualität gezählt werden.
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Al Imfeld© Neue Wege 1996 Heft 7-8