Erinnerung an das Kriegsende
Krieg ohne Gnade und Logik
Wir lebten zwar im Frieden in unserem schattigen Waldecken in der Roth. Doch je länger um uns herum dieser Krieg dauerte, desto schattiger wurde unser kleines Höfchen. Ihm fehlte etwas. Das spürten wir selbst als Buben. Alles war von einer Spannung überzogen, war eingeklemmt, und das liess selbst das Gras nicht mehr so recht wachsen.
Immer wieder hörten wir Schüsse und das Dröhnen von Kanonen und Bomben. Es machte für uns keinen Unterschied, ob das von den eigenen Soldaten stammte oder nicht. Für uns Kinder war Krieg eben Krieg. Und das hiess Spannung und Ungewissheit. Muss nun Vater wieder einrücken oder nicht? Und wozu? Da hatte er doch zuhause für das Überleben von Mutter und genau zehn Kindern zu sorgen. Niemand anders war da, um das Höfchen von elf Jucharten zu bewirtschaften. War denn das nicht auch und genug Landesverteidigung? Nein, dieser Krieg kannte keine Gnade; er war selbst mit den Kleinen im Nichtkriegsland schroff und ohne Logik.
Vieles verstanden wir wirklich nicht. Alle Flüchtlinge, die aus dem Krieg kamen und in Buttisholz in der Hirschen-Scheune untergebracht wurden, waren liebe Menschen, ja, fast netter als unsere Nachbarn. Warum sollten sie Feinde sein? Was war denn an ihnen so böse, dass man auf sie schiessen müsste, denn warum sonst - so in unserem kindlichen Glauben - waren sie mit einem Gewehr bewaffnet? Und warum kam, wer es nicht tat, in den argen Verdacht eines Landesverräters?
Der Krieg mit den Nachbarn
Das war mein Vater ohnehin - nur weil er aus einem anderen Kanton in dieses Luzernerland eingewandert war. Er war verdächtig. Logischerweise waren wir Fremden gegenüber freundlich, denn zunächst waren doch alle für uns fremd. Genau diese Freundlichkeit machte uns zu Sympathisanten.
Die Nachbarbauern, die Grossen, hatten es erreicht, dass sie zur Ortswehr eingeteilt wurden. Vater müsste dafür kämpfen. Diese Herren meinten, Imfeld solle seine Loyalität zum Vaterland mit Militärdienst bezeugen. Da sprachen sie immer vom Segen der grossen und kinderreichen Familien und von der Existenzberechtigung auch der Kleinen. Nur für meinen Vater sollte das nicht gelten. Er sei ein besonderer Fall, hiess es mauschelnd im Hintergrund. Imfeld’s seien Parasiten, flüsterten andere. Doch Vater gab nicht auf; er war unnachgiebig. Und so hatte es Vater langsam geschafft. Wir wurden so um die Zeit des Kriegsendes akzeptiert. Vater und Mutter hatten also ihren Krieg mit den Nachbarn gewonnen.
Ich begann schon damals zu begreifen, dass Nachbarn zuerst einmal mögliche Feinde und diese meist schlimmer sind als die fernen Nachbarn, etwa in Afrika, die auch unsere Nächsten seien, wie es in der Kirche hiess. Dasselbe galt für die Nachbarstaaten und ihre Völker: die Tschingge, und erst recht die Östreicher - schon im Namen steckte doch der Charakter des Land-Streichers. Die Franzosen kamen gut weg, weil sie katholisch und konservativ, ja, vor allem königlich waren. Über die Deutschen blieb man gespalten zwischen den Sau-Schwoben und den Bayern. So lernte ich Geographie. Falsch waren anscheinend die Schwaben. Ganz anders wurde etwa von Hamburgern gesprochen; man charakterisierte sie als kaltschnäuzig, zackig und von der Sprache her unverständlich. Anders seien sie. Im Innersten ein gutes Herz, hiess es, und das rühre von der Seefahrt her.
Diese Sache mit den Nachbarn. Warum eigentlich müssten sie immer verdächtig und gar böse sein? Für uns wenigstens hatte dieser Krieg etwas Gutes. Er brachte uns Nachbarn zusammen. Es war Notzeit. Immer wieder müsste ausgeholfen werden. Dabei sahen alle, dass die Kartoffeln und dass die Weizenernte bei anderen nicht anders als zuhause waren.
Etwas kam bei uns hinzu. Wir lagen im Schatten und wir waren arm. Wir hatten keine Chance, jemals zu den Grossbauern mit Pferden und Maschinen aufzuholen. Für uns gab es daher nur eins, nämlich als Hilfskräfte so tüchtig zu sein, dass es hiess, zum Auflesen von Kartoffeln, zum Korn-Hinlegen oder zum Bohnenpflücken kämen nur Imfeld’s Kinder in Frage. Das ist uns gelungen und hat uns zuversichtlich und auch etwas stolz gemacht.
Dennoch haben wir alle diesen Krieg nicht gemocht. Es lag eine Spannung in der Luft. Es war halt so, als ob die Geschosse über die Köpfe hinwegflogen. Die Spannung hat sich sogar auf die Träume und den Schlaf ausgewirkt. Dabei hatten wir es harmlos. «Denk doch an die direkt Betroffenen!» hiess es ab und zu.
Der 8. Mai
Und so kam der 8. Mai 1945.
Nie mehr werde und kann ich dieses Datum vergessen. Es hiess an jenem, zunächst eher bedrückenden Morgen, es hätte einen Waffenstillstand unter den Kriegsparteien gegeben, Deutschland hätte kapituliert, der Krieg sei zu Ende und es würden heute die Glocken den Frieden einläuten.
Wir waren am Grasen, drüben beim Zwetschgenbaum, zwischen zwei altbewährten Obstbäumen, etwas vor dem leichten Anstieg zum Wald hin, nicht weit weg vom Güllenauslauf, das heisst von der Jaucheausflussäule, ebenfalls neben einem Zwetschgenbaum, der immer mit seinen Fellenbergern zuerst kam, ja, an diesem Ort grasten wir. Ich rechte. Und plötzlich begann es in Buttisholz zu läuten. Alle Glocken kamen nach und nach hinzu. Bis diese alles übertönten, konnte ich auch noch die Ruswiler Glocken - dumpfer, tiefer, brummiger - hören. Es läutete und läutete.
Der Mutter, die Gras lud, und mir, der den Rechen zog, kamen Tränen. Es tat so wohl. Wir spürten den Frieden. Selbst das Gras atmete auf. Es gab mehr als sonst. Ja, stillschweigend setzten wir die Arbeit fort. Und die Arbeit war anders, lockerer, froher, friedlich. Alles klang mit und sang leise Dank für dieses Ende.
Es war zunächst kein schöner Tag. Er war feucht. Aber die Glocken bewegten alle und alles: die Menschen und die Pflanzen, die Bäume und die Wolken. Die Sonne kam leicht durch. Es war ein Anfang. So haben wir alle den Beginn von Frieden erlebt. Wir alle wussten, dass nun etwas Neues beginnen würde.
Die Glocken - sie klangen einfach anders als sonst. Diese Glocken sandten Wellen aus, die Harmonie erzeugten. Diese Glocken lösten bei uns allen eine tiefe Zufriedenheit aus.
Alles war anders
Vom Rest des Tages weiss ich, dass alles anders war. Eigentlich wollte niemand arbeiten. Die Schule wurde geschlossen. Die Bauern kamen zusammen und redeten über den Haag hinweg, spekulierten über das nun Kommende und machten Pläne. Es war, wie wenn nun alles anders würde. Friede war ausgebrochen. Für sie hiess das ganz realistisch, dass ihre harte Arbeit einfach etwas leichter würde. Dass die Auflösung der Spannung auch den Böden, Bäumen und Äckern wohltun würde und diese vielleicht wieder mehr mit ihnen und ihrem Rhythmus gingen, darüber sprachen sie nicht.
Wir Kinder spürten all das und etwas mehr dazu. Wir wussten es und erfuhren es in den nächsten Wochen: Etwas Neues hatte eingesetzt. Plötzlich stand das Gras anders da: kopfhoch und grösser. Die Bäume kamen sehr rasch in «Bluescht», also zum Blühen. Alle wetteiferten wohlwollend und in bester Stimmung miteinander.
Da haben wir erfahren, dass man Frieden spürt und erlebt; dass Frieden aufblühen lässt und eine besondere Fruchtbarkeit erzeugt - bei Mensch, Tier und Pflanzen. Damals erlebten wir ganz genau, dass Friede nicht nur den Menschen trifft und angeht, sondern alle. Alles schwang mit, als Friede kam. Friede löste die Zungen, lud zum gegenseitigen Schwatz ein, brachte manches erneut zusammen.
Ihr glaubt es mir nicht: An jenem 8.-Mai-Abend gaben unsere Kühe mehr Milch. Jede Kuh lag um einen halben Liter herum höher. Die Kälber tranken ihre Milch anders. Die Schweine habe ich nie mehr so zufrieden gesehen.
Der Gelbmöstlerbaum, der bereits zum Fällen vorgesehen war, einerseits weil er zu wenig Birnen gab, und anderseits, um etwas Schatten vom Hof zu nehmen, wurde nochmals stehen gelassen. Nie hat er so geblüht, und seine Fülle an Gelbmöstlerbirnen im Herbst war so überwältigend, dass Vater bloss sagen konnte: «Einfach unglaublich! Und diesen Baum wollte ich fällen.» Auch das Heu jenes Friedensjahres roch so gut wie nie.
Selbst dem Emd spürten wir den Frieden an.
Alles war einfach anders.
Friede hatte begonnen. Er war für uns mehr als ein blosses Wort. Wir erlebten ihn überall verwirklicht.
Heute noch habe ich beim Gedanken an den 8. Mai 1945 mit den Tränen zu kämpfen. Allein jedoch zu weinen, wäre sinnlos. Friede geschieht nie allein.
Was bleibt nun zu tun?
wenn alles derart blutdurchtränkt
muss nicht da eine ganze Schicht
von boden mensch und macht
weggetragen und gereinigt werden?
wenn in allen lüften kreuz und quer
fluche hängen und rumoren
müssen diese nicht wie wolken
sich zuerst entleeren und gewittern?
wenn zwischen menschen bloss verdacht
wie Schimmelpilz sich angesammelt
wirkt da noch ein händereichen
so klebrig und verlogen?
wenn dem so ist - was dann
solange afrikas menschen
zeremonienmeister
für neue geister fehlen?
wenn alle frieden wollen
und keiner weiss was tun
alte Riten in colabüchsen suchen
mit mercedes zum nganga* fahren?
al imfeld
auf einem rwanda-besuch 1994
*Medizinmann
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Al Imfeld© Neue Wege 1995 Heft 4