NW-Gespräch mit Al Imfeld
Für eine Spiritualität der Erdhaftigkeit
Wie schon kurz notiert, ist AI Imfeld am 14. Januar 60 Jahre alt geworden. 200 Personen sind seiner Einladung gefolgt und haben ihn während den drei Tagen, an denen er diesen runden Geburtstag feierte, in seiner kleinen Wohnung an der Zürcher Konradstrasse aufgesucht. Eine weitere Geburtstagsfeier vor grossem Publikum hat am 7. Februar in der Zürcher Stadtküche stattgefunden. AI Imfeld erzählte dort veröffentlichte und noch unveröffentlichte Geschichten. Ein Text zum Kriegsende vor 50 Jahren, den er am Schluss vortrug, wird in einem der nächsten Hefte der Neuen Wege erscheinen. Viel wurde in den letzten Wochen auch über unseren Freund geschrieben. In der WoZ vom 13. Januar 1995 hat Laure Wyss ein mehr als dreiseitiges Porträt mit den wichtigsten Stationen seines reichen Lebens veröffentlicht. Das nachfolgende Gespräch, das der Redaktor der Neuen Wege mit AI Imfeld in seiner Wohnung im Zürcher Stadtkreis 5 geführt hat, sucht noch etwas tiefer zuloten. Wer ist dieser AI Imfeld, der keine Dogmen und Ideologien duldet, die ihm den Zugang zu den Menschen, die er liebt, verstellen könnten?
(Red.)
Wer ist AI Imfeld?
NW: In der WoZ hat Laure Wyss die wichtigsten Stationen Deiner Biographie dargestellt und Dich gefragt: «Woher kommst du, AI?» Ich möchte noch einen Schritt weitergehen und die Frage wagen: «Wer bist Du, AI?»
AI Imfeld: Das ist sehr schwer zu sagen. Ich bin Verschiedenes zur gleichen Zeit. Ich beheimate in mir verschiedene Kulturen, habe auch verschiedene Arten von Heimat. Ich bin das, was man heute als «multikulturell» bezeichnet. Aber das ist eigentlich ein blödes Wort, weil es etwas Besonderes suggerieren will. Ein erwachsener Mensch ist doch immer schon in verschiedenen Kulturen zu Hause. Schon die Kultur seiner Jugend ist etwas anderes als später seine Erwachsenenkultur. Die Welt selbst um ihn ändert sich, und er muss sich in dieser Welt eigentlich ständig anpassen.
Die Jugend im Napfgebiet, die ich erlebt habe, gibt es nicht mehr. Das Napfgebiet hat sich verändert, also hat sich auch meine Heimat verändert. Gleichzeitig bin ich durch diese Welt gezogen. Ich habe mich in den USA zu Hause gefühlt. Ich habe mich später im Fernen Osten zu Hause gefühlt, auch wenn ich nur ein Jahr dort lebte. Und ich habe mich in Afrika zu Hause gefühlt. Das verwirrt viele Menschen. Wie kann man sich an verschiedenen Orten zu Hause fühlen? Das ist möglich, weil es mir nicht so sehr auf den Ort ankommt. Die Natur ist zwar überall schön, aber auch überall bereits angefressen und zerstört. Ich finde überall Bezugspersonen. Um Mit-Menschen geht es mir. Und in einer guten Mitwelt kann ich mich zu Hause fühlen.
NW: Hängt diese Möglichkeit, überall zu Hause zu sein, nicht auch damit zusammen, dass Du in Deiner Herkunft, in Deiner Familie, im Napfgebiet verwurzelt geblieben bist?
AI Imfeld: Ich bin einer, der sich auflehnt gegen den Begriff der Wurzeln. Obschon ich Alex Haley, den Autor des Buchs «Roots», persönlich gekannt habe, liebe ich dieses Buch nicht, gebe aber gerne zu, dass es den amerikanischen Schwarzen geholfen hat, so etwas wie einen mythischen Bezugspunkt zu finden. Ein Baum hat nicht nur Wurzeln, sondern er hat auch Geäst und Krone. Er entfaltet sich oben. Es braucht eben beides, das Unten und das Oben. Es braucht den Stamm, das Umfeld usw.
Wir sind im Napfgebiet Fremde gewesen. Mein Grossvater musste zu Beginn der 20er Jahre aus Lungern auswandern, weil dort ein Stausee entstand. Er wollte nicht wie andere nach Amerika gehen, sondern er ging in den Luzerner Nachbarkanton. Aber dort sind wir als total Fremde empfunden worden. Auch meinem Vater hat man immer den «Länder» vorgeworfen. In diesem gebirgigen Luzerner Hinterland war alles nicht nur festverwurzelt, sondern auch festgefahren. Eine Familie, die von aussen kam, war so fremd, dass sie nicht einmal einer Partei beitreten konnte. Du konntest weder liberal noch katholischkonservativ sein. Du konntest in der Schule nicht derjenige sein, der du sein wolltest, weil du ja anderes noch erlebt hattest. Also warst du ein Fremder.
Meine Eltern wussten das aufzufangen. Sie haben uns gesagt: «Schaut, das ist nun die wirkliche Welt, mit der wir uns abzufinden haben. Wir müssen versuchen, die Nachbarn nicht zu reizen, sondern mit ihnen zu leben.» Eine ganz wichtige Lebensphilosophie für mich ist: «Schau dich überall, wo du bist, nach guten Bezügen um und beginn von dort aus neu aufzubauen.» Es gibt überall die Möglichkeit, Gutgesinnte zu finden. Natürlich gibt es genauso die andere Seite. Mit ihr muss man leben. Deshalb bin ich kein Idealist, der meint, die ganze Welt müsse nur zum Guten bekehrt werden. Die andern, die anderes meinen und anders denken, sind ja auch Menschen und haben auch ihre Berechtigung. Das ist, wenn wir auf dieses Wort zurückkommen wollen, meine Wurzel.
Skeptiker zwischen den Welten
NW: Dein Vater hat Dir beigebracht, nicht alles zu glauben, was die Leute sagen. Denn es stimme zu sechzig Prozent nicht. Von dieser Regel hat er auch die Pfarrer nicht ausgenommen...
AI Imfeld:... die Pfarrer und die Lehrer...
NW: Trotzdem hast Du nach dem Gymnasium in Immensee erst einmal Theologie studiert und Dich der Missionsgesellschaft Bethlehem angeschlossen. Offensichtlich bist Du mit einer gesunden Skepsis und Urteilsfähigkeit in dieses Studium hineingegangen. Warum hast Du es überhaupt gewählt?
AI Imfeld: Es gab scheinbar keine andere Wahl, als Priester zu werden. Es war der Wunsch meiner Eltern. Es war aber keine schlechte Sache. Bauer konnte ich nicht werden, weil ich der älteste war. Den Hof hätte in unserer Tradition der jüngste gekriegt. Diese Art zu leben, auch mit etwas, an das man nicht voll glaubt, habe ich mitgemacht. Es hat mich nicht zerbrochen. Ich bin mitten drin gewandelt. Ich bin ein Mensch, der immer zwischen den Welten ist. Ganz im Gegensatz zu Kollegen, die anders erzogen wurden. Viele, die unter dem Druck des Elternhauses auch Priester werden wollten, leiden zum Teil bis heute an ihrer Seele. Selbst mit 60 sind sie über diese Komplexe noch nicht hinausgekommen.
NW: Deine weitblickende Skepsis hat sich aber offensichtlich mit dem Anspruch einer dogmatischen Institution wie der Kirche nicht vertragen. Die daraus resultierende Ablehnung Deiner Dissertation an der Gregoriana in Rom scheint so etwas wie ein erster Konflikt mit der Institution Kirche gewesen zu sein.
AI Imfeld: Ich habe natürlich nach Gründen für meine Skepsis gesucht, auch nach Gründen theologischer Natur. Es ist ja begreiflich und menschlich, dass dieses ganze Philosophieren und Theologisieren von dem abhängt, was Du erfahren hast. Es war für mich fast eine Selbstverständlichkeit, eine gewagte Dissertation in vergleichender Religionswissenschaft zu schreiben. So habe ich mich mit grosser Freude in den Buddhismus vertieft. Die verschiedenen Wege - vom kleinen Fahrzeug bis zum grossen Fahrzeug oder zum Diamantfahrzeug und bis zu diesen hochelitären Formen des Zen-Buddhismus in Japan - liessen in mir ein Licht aufgehen: Das alles gibt es doch auch im Christentum. Statt dessen Vielfalt zu akzeptieren, tun wir so, als habe es fundamentale Abspaltungen und Ketzereien gegeben. Vor allem die Protestanten und Reformatoren wie Luther, Zwingli oder Calvin wurden mir als schlimme Ketzer vorgestellt. Ökumene bedeutete, dass alle gleich würden.
Über die Brücke des Buddhismus habe ich die vier Evangelien neu entdeckt: Ein Johannes ist ganz anders als Markus. Wenn jemand nach Markus lebt, kann er nicht nach Johannes leben, sondern ihn bloss respektieren. Mit den vier Evangelien sind schon vier Spiritualitäten festgelegt. Hinzu kam die Auseinandersetzung mit östlicher Symbolik und Zahlenmystik. Vier heisst ja, dass es unendlich weitergehen kann. Mit drei hast du die Vollkommenheit. Mit vier wird sie geöffnet und kann weitergeführt werden.
NW: Das stand alles in Deiner Dissertation?
AI Imfeld: Das war alles darin enthalten. Natürlich hat es dann geheissen, für eine Dissertation seien das zuviel eigenwillige Ideen, zuviel Meinungen und zuwenig Beweise. Ich habe das mit fast buddhistischer Gelassenheit getragen. Aber gleichzeitig hat der Aufbruch des Zweiten Vatikanischen Konzils mit Johannes XXIII. mir die Möglichkeit gegeben, diese vielfältige Theologie weiter zu pflegen.
In diese Umbruchzeit fiel ein anderes wichtiges Erlebnis in meinem Leben: die Begegnung mit den französischen Arbeiterpriestern. Sie haben mich fasziniert. Das wollte ich auch leben. Später habe ich dann erkannt, dass ich als Bauernsohn nicht einfach Arbeiter werden konnte. Mit der Zeit ist mir die ideologische Fixierung auf die Arbeiter dogmatisch vorgekommen. Ebenso muss man doch nicht Marxist werden, um einen Arbeiter zu verstehen. Aber was die Arbeiterpriester gewollt haben, das wurde mir später in den USA zum Modell meiner weiteren Arbeit. Ich habe damals an meine Missionsgesellschaft in Immensee geschrieben: «Ich trete nicht aus, aber lasst mich einen neuen Weg gehen.»
Ketzer und Spion
NW: Wir sollten aber noch etwas darüber hören, weshalb Du überhaupt in die USA gegangen bist.
AI Imfeld: Das geschah ganz und gar nicht freiwillig. Aufgrund meiner These hat mich die Gregoriana in Rom als Ketzer verurteilt und rausgeschmissen. Das Doktorat hätte mich ermächtigt, an einer Universität zu lehren. Das musste man verhindern. Das war damals natürlich auch eine Schande für Immensee: Da kommt Pater Imfeld aus Rom zurück als Ketzer und als Spion. Solches fiel in der damaligen Denkweise auf die Missionsgesellschaft zurück; diese müsste mich im Zaum halten.
NW: Das sind ja ungeheuerliche Begriffe. Hat man Dich wirklich so bezeichnet?
AI Imfeld: Ja, als Häretiker. Es wurde mir zwar noch die Chance eingeräumt, meine Dissertation zu ändern. Aber hier kommt der AI Imfeld an den Tag: So etwas hat er nicht gemacht. Ich stand zu meinen Aussagen. Gescheitert ist das Ganze eigentlich an einer Lächerlichkeit. Es ging um die Klassifizierung der Jungfräulichkeit Mariens. Das Jungfernhäutchen gehört in dieser scholastischen Theologie integral zur Jungfrauschaft Mariens. Ich habe keck gesagt, das müsse nicht dazu gehören, ein Jungfernhäutchen könne auch beim Sport verletzt werden. Ich habe die Frage als «quaestio disputata» offen gelassen und nicht als Glaubenssatz «de fide» gelten lassen.
NW: Du hast aber auch etwas von einem «Spion» gesagt.
Al Imfeld: Ich wohnte damals an der «Anima», einem Konvikt für Priester an der Via dell'Anima, von dem aus ich die Universität besuchte. Diese «Anima» geht bis ins 13. Jahrhundert zurück und ist eine Zuchtstätte für zukünftige Bischöfe. Einer der drei Schweizer Plätze war noch frei, sodass ich dort einziehen konnte.
Bei der Vorbereitung des Konzils nun wurden wir als Protokollanten eingesetzt. Es war durchaus noch nicht klar, ob man über dieses Konzil die interessierte Öffentlichkeit überhaupt informieren durfte. Für mich war es jedoch selbstverständlich, Leute wie Mario Galli, Ludwig Kaufmann oder Hanno Helbling von der NZZ auf dem laufenden zu halten. Ich habe für sie die einschlägigen Dokumente herausgeschmuggelt. Deshalb wurde ich dann auch noch der Spionage angeklagt und heimgeschickt.
NW: Nach Immensee?
AI Imfeld: Ja, der Generalobere hat natürlich die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen. Ein Häretiker und ein Spion! Schlimmer konnte es nicht mehr kommen. «Du bist eine Schande für uns», meinte er. «Es ist das beste, Du verschwindest für einige Zeit in die USA und studierst dort weiter.»
Evangelischer Pastor und Bürgerrechtsaktivist
NW: Und in den USA hast Du auch wieder eine Dissertation geschrieben, diesmal beim reformierten Theologen Paul Tillich.
AI Imfeld: Ich hatte Tillich schon bei der Arbeit an meiner ursprünglichen These im Weltkirchenrat in Genf kennengelernt. In den USA hatte ich zuerst mit dem Studium der Anthropologie und Soziologie begonnen. Bei einem Besuch bei Tillich fragte dieser mich: «Willst Du Deine These nicht bei mir machen?» Das Problem war, dass man damals auf evangelischer Seite keine theologische Doktorarbeit einreichen konnte, ohne Pastor zu werden. So bin ich formell auch noch evangelischer Pastor geworden, was mich überhaupt nicht gestört hat.
NW: Und die Immenseer auch nicht?
AI Imfeld: In Amerika ist man weit weg. Ich habe an der 125. Strasse, im Zentrum von Harlem in einem Pfarrhof, gearbeitet und bin mitten in diesen brodelnden Aufbruch der Bürgerrechtsbewegung gekommen. Uns Priestern war es verboten, an einer solchen Bewegung teilzunehmen. Mein Pfarrer war ein Deutscher, der noch an Hitler glaubte. Dieser Pfarrer hat uns erst recht verboten, mit dem Volk Kontakt aufzunehmen. Er meinte, wer katholisch ist, kommt in die Kirche und wird hier betreut. Der Priester ist zu kostbar, um zu den Menschen zu gehen. So kam es zum Bruch.
Ich habe das Pfarrhaus verlassen, habe meine Soutane und meinen Kollar irgendeinem schwarzen Sektenprediger verschenkt. Ich begann in der Bürgerrechtsbewegung aktiv mitzumachen. Über diese Bewegung bin ich zu Martin Luther King gekommen und habe in der Ausbildung zur Gewaltlosigkeit mitgearbeitet. Gewaltlosigkeit kannst du nur haben, wenn du eine Spiritualität hast. Sie muss vor den Protestmärschen entstehen. Bei King wurde niemand zu einem Protestmarsch zugelassen, ohne dass er zuvor an drei Wochenenden an einer Schulung zur Gewaltlosigkeit teilgenommen hatte.
Meine besondere Aufgabe war es, die Werte der Schwarzen herauszuarbeiten. Die Schwarzen selbst waren zu jener Zeit dazu nicht fähig, denn sie hatten diese Werte verdrängt. Zudem ging es um Bürgerrechte, nicht um eine schwarze Kultur. Was 1965 mit Black Power und Black Moslems hereingebrochen ist, das konnte man damals schon voraussehen, eben weil das «Black» traurigerweise verdrängt worden war.
NW: Und welche Werte hast Du herausgearbeitet?
Al Imfeld: 1960 sind 17 afrikanische Länder unabhängig geworden. Die Schwarzen in den USA aber hatten keine Ahnung von diesem Afrika. Verdrängt wurde auch die Geschichte der Südstaaten, wo sie Sklaven waren. Ebenso wussten sie nicht mehr, was ihre Vorfahren aus der Zeit vor der Versklavung an Werten mitgebracht hatten. Wenn ich heute zurückdenke, habe ich ganz harmlos begonnen. Was ich machte, stand gar nicht auf dem Programm. Aber es hat Eindruck gemacht und war für die USA damals schon sehr neu. Kings Programm hielt ich für sehr oberflächlich und populistisch. King war ein grosser Spiritueller, ein intuitiver, aber kein denkerischer Mensch. Sein Programm war die Gewaltlosigkeit . . .
NW:... immerhin ein hoher Anspruch.
AI Imfeld: Ja sicher, aber du kannst kein historisches Phänomen nur von einer Seite betrachten. Es ging um Bürgerrechte, um Gewaltlosigkeit. Und ich versuchte, die Afrikanität hereinzubringen, weil das Programm ja für afrikanische Menschen bestimmt war. Wenn schon Bürgerrechte, warum waren dann keine Puertoricaner dabei? Kurz und gut, ich habe King vorgeschlagen, in diese Ausbildung afrikanische Geschichte aufzunehmen. King meinte, in den USA interessiere sich niemand für Geschichte, und niemand wäre fähig, sie mitzuteilen. Da habe ich mich dafür angeboten. King war einverstanden.
NW: Was ist dabei herausgekommen?
Eines Deiner Bücher?
AI Imfeld: Ich habe erst 1970 mit Büchern begonnen. Aber natürlich war es eine Vorarbeit, die ich damals leistete. Vor allem habe ich damit begonnen, mich mit afrikanischer Literatur zu befassen. Sie war damals noch überblickbar. Wir haben Chinna Achebe gelesen, den grossen Schriftsteller aus Nigeria. Mit «Things Fall Apart» (Alles fällt auseinander) hatte er 1956 den ersten afrikanischen Roman geschrieben.
US-Major im Vietnamkrieg
NW: Wie aber kam es, dass Du, der Pazifist im Sinne Martin Luther Kings, plötzlich als Major der US-Army in Vietnam dabei warst.
AI Imfeld: Das war kein Widerspruch; denn es ging ja eigentlich um ein Aufklären. Wir wussten in Amerika nicht, was in Vietnam vor sich ging. Es war ein riesiges Tohuwabohu entstanden, vor allem auch unter den jungen Menschen, die durch Losentscheid in diesen Krieg eingezogen wurden, vom Studium weg nach Vietnam mussten.
Ich hatte als drittes Studium die Journalistenschule der Northwestern University in Evanston und Chicago absolviert. Das war die Ausbildungsstätte des Recherchierjournalismus der Washington Post. Gesucht wurde jemand, der etwas von der vietnamesischen Kultur versteht und die amerikanische Seite kennt. Zwei meiner Professoren, die dieser Zeitung eng verbunden waren, meinten, für diese Arbeit gebe es nur einen, AI Imfeld, der eben bei ihnen abschloss, der kenne den Buddhismus und Asien.
Ich bin über Nacht zum amerikanischen Staatsbürger geworden. Das war die Bedingung für diesen Job, der mich ganz in die Nähe des amerikanischen Kommandanten brachte. Du hast Zutritt zu allem, gerade wenn du von der Washington Post kommst. Ich arbeitete drei Türen von General Westmoreland entfernt. Gleichzeitig verfügte ich noch über einen Schweizerpass, mit dem ich nach Nordvietnam und China reisen konnte.
Der «Major» ist so etwas wie bei uns der Feldprediger. Es war bis vor kurzem amerikanische Tradition, dass ein Journalist, der mit dem Heer zieht, einen höheren Grad bekommt. So habe ich das Ganze nur als Formalität betrachtet und auf mich genommen.
NW: Haben Deine Berichte für die Washington Post etwas ausgelöst?
Al Imfeld: Ich bin natürlich nicht der einzige kritische Journalist gewesen. Aber mein zehnseitiger Fortsetzungsbericht um die Jahreswende 1966/67 war damals doch eine kleine Sensation. Er hat das eingeleitet, was später zur Krise in den USA und zur Entscheidung führte, dieses Vietnam endlich aufzugeben.
Missionar wider den Fundamentalismus
NW: Mir fällt auf, dass die Institutionen, in denen Du während Deines bisherigen Lebens tätig gewesen bist, Dich früher oder später als eine Gefährdung ihrer Existenz betrachtet haben. Du wurdest nicht nur in Rom zum Dissidenten, sondern auch in Deinen späteren Engagements als Entwicklungsexperte in Afrika, sei es in Tansania oder in Nairobi. Es ist immer zu Konflikten gekommen, weil Du Dich jedem Dogmatismus, jedem Fundamentalismus, jedem gesicherten Wissen von Wahrheit widersetzt hast. Das ist ein Teil Deiner selbst.
AI Imfeld: Das ist richtig. Ich kann zwar ein lieber Mensch sein und mich anpassen. Aber wenn es um Menschen geht, die durch solche Wahrheitsansprüche verletzt, ausgetrickst und ausgebeutet werden, dann weiss ich, wo ich stehen muss. Das wäre mein einziger Dogmatismus.
NW: «AI, bist du ein Missionar?» fragt Dich Laure Wyss. Du bist es mit einer gewissen Ambivalenz des Begriffs tatsächlich, wenn ich Dich so reden höre. Du bist ein Missionar, aber eben gerade nicht in einem fundamentalistischen, sondern in einem sehr menschlichen Sinne.
AI Imfeld: Wenn Du so willst, ja. Ich habe natürlich einen ganz anderen Bezug zum Wort «Missionar». Nicht so wie viele, die es hassen würden, «Missionar» genannt zu werden. Du kannst mich ruhig so nennen.
NW: Schliesslich bist Du immer noch Mitglied der «Missionsgesellschaft» in Immensee.
AI Imfeld: Das auch. Die Leute fragen mich ausserdem: «Warum bist Du nie aus dieser katholischen Kirche ausgetreten?» Aber was nützt denn austreten? Ich bin doch so oder so drin. Ich ärgere mich auch über einen Papst. Aber ich kann diesem Papstphänomen nicht dadurch entrinnen, dass ich austrete. Wie die Missionsgesellschaft mir damals in New York das Recht zugestand, nach dem Beispiel der französischen Arbeiterpriester zu experimentieren, so hat sie mich auch später immer wieder getragen. Kritisch wurde es erst, als ich wieder in der Schweiz war und mich 1977 an der Diskussion über den Schwangerschaftsabbruch beteiligte.
NW: Du hast damals in der LNN einen Artikel geschrieben. Er stand unter dem provokanten Titel: «Als Priester für die Fristenlösung».
AI Imfeld: Damals hat die Missionsgesellschaft wegen mir Spendengelder in der Höhe von gegen 300’000 Franken verloren. Das führte zu einer Krise. Trotzdem hat die Missionsgesellschaft mich nicht ausgestossen. Das verdient meinen Respekt. Übrigens stehe ich noch heute zu diesem Artikel.
Warner vor Selbstgerechtigkeit
NW: Du bist auch in der Redaktionskommission der Neuen Wege und gibst hier mit Deinen Meinungen immer wieder zu lebhaften Diskussionen Anlass. Ich habe den Eindruck, Dein Verhältnis zum Religiösen Sozialismus sei ebenfalls getragen von dieser Ambivalenz des Missionarischen in Dir.
AI Imfeld: Ich bin wie ein Wachhund, der etwas riecht. Auch wenn es noch gar nichts Gefährliches ist, muss er aufstehen und bereits anfangen zu bellen. Gerade idealistische Bewegungen gleiten sehr oft und rasch in Selbstgerechtigkeit ab. Demgegenüber habe ich beständig meine Befürchtungen. Es ist dann meine Aufgabe zu warnen: «Jetzt seid vorsichtig! Spielt nun nicht die Besseren!»
Ich habe gerade heute das Empfinden, dass wir viel tiefer ansetzen und sehr bescheiden sein müssen. Wir meinten einmal, sehr viel zu wissen. Dabei wissen wir gerade im sozialen Bereich, im religiösen Bereich und im spirituellen Bereich sehr, sehr wenig. Es geht darum, neue Formen zu finden. Diese sehe ich lokalisiert im Kleinen, in der Mitwelt, in überblickbaren Ökosystemen und in Nachbarschaften.
Natürlich sind diese Formen gleichzeitig mit der grossen Welt verbunden. Aber ich hasse es, wenn die Leute sagen, wir sollten jetzt etwas tun für Tschetschenien oder für Ruanda. Im Moment haben wir gegen 80 Konflikte in der Welt. Da ist es durchaus zufällig, dass wir nur von diesen beiden etwas hören. Von Liberia hören wir überhaupt nichts, obwohl es dort genauso schlimm ist wie in Ruanda. Und dieselben, die etwas tun wollen, sagen gleichzeitig, wir dürften uns nicht einmischen, wir sollten nicht den alten Missionar oder Kolonialisten spielen, sondern die Leute selbständig werden lassen.
Bewohner des Zürcher Stadtkreises 5
NW: Aber hat dieser Rückzug auf die kleinen Gemeinschaften nicht auch etwas mit Resignation zu tun
AI Imfeld: Bei mir sicher nicht. Ich bin und bleibe ja weltverbunden. Aber es ist kein Zufall, dass ich hier in Zürich an der Konradstrasse wohne, seit ich aus Tansania zurückgekehrt bin und Bern als Wohnort für mich nicht mehr in Frage kam, weil ich auch vom i3w (Informationsdienst Dritte Welt - Red.) sanft entlassen wurde...
NW: Aus welchem Grund?
AI Imfeld: Die Arbeitsgemeinschaft war nicht ganz zu Unrecht der Meinung, dass ich mich für Administration wenig eigne. Abgelehnt wurde aber auch mein Modell, dass wir uns in die Aufgaben teilen und untereinander rotieren sollten, dass die Sekretärin genauso wichtig sei wie ich und dass jeder nach fünf Jahren wieder einen Einsatz in der Dritten Welt leisten müsste. Noch in Tansania erhielt ich einen netten Brief: Da ich ja so genial veranlagt sei, würde ich sicher etwas finden, ich müsse nicht mehr zurückkommen...
NW: Doch nun zurück hierher an die Konradstrasse im Zürcher Stadtkreis 5, den Du bewusst als Deinen Wohnort gewählt hast. Warum?
AI Imfeld: Der Kreis 5 ist schon immer ein Gemisch von Völkerschaften gewesen. Schon lange vor der Drogenszene hatten wir mindestens 60 verschiedene Nationalitäten allein in diesem Quartier. Messerstechereien am Freitagabend gab es hier seit eh und je. Leicht war es nie, hier zu wohnen. Gleichzeitig habe ich immense Sympathie zu den Dirnen und den ausgestossenen Frauen in diesem Milieu. Ich betreue schwarze Gogo-Girls und deren Umfeld. Ich liebe dieses Quartier und brauche es wie ein Künstler.
Was mich stört und in Konflikte bringt, ist eine links-grüne Politik, die versuchen will, das Quartier von diesem Milieu zu reinigen. Plötzlich sollen wir hier kein Nachtleben mehr haben, sondern Wohnraum. Dadurch ist auch die Szene der Fremden hier eine andere geworden. Hier hat die Politik, wenn auch unbewusst, schwere Fehler gemacht. Ich ärgere mich, wenn ein sozialdemokratischer Bezirksanwalt in den Kreisen 4 und 5 den Moralisten spielt, schlimmer noch als ein Pfarrer um 1930 im Luzerner Hinterland.
Von hier aus habe ich meine weltweiten Verbindungen. Ich muss zum Beispiel Schwarze aus Ghana, die ich betreue, auch wieder zurückführen können. Hier sind sie nur für eine bestimmte Zeit. Es gibt zum Beispiel eine Tradition der afrikanischen Frauen, für einige Zeit ins Ausland zu gehen und dort Geld zu verdienen, zum Teil eben auch in der Prostitution. Das hat überhaupt nichts mit Degradierung der Frau zu tun. Wenn sie das Geld verdient haben, kehren sie zurück, zum Beispiel als die grossen Mammy’s in Westafrika.
Weltweite Verbindungen habe ich aber auch durch die Hilfswerke. Ich habe also überhaupt nicht resigniert, bin aber sehr zurückhaltend, bin es immer schon gewesen, gerade auch gegenüber der Hilfe. Es wird viel zu viel geholfen. Und hier kommt eben auch wieder die Erfahrung der armen Imfeld’s aus dem Napfgebiet zum Tragen. Meine 84jährige Mutter sagt heute noch, wenn sie diese Hilfsappelle hört: «Uns hat niemand geholfen.» Sie meint das durchaus positiv und meint: «AI, denk mal zurück. Wäre es besser gekommen, wenn man uns geholfen hätte?» Sicher nicht. Wir haben gelernt, uns selbst zu wehren und auf niemanden zu hoffen - ausser auf eine bestimmte Nachbarschaft.
Als die Japaner nach dem Erdbeben in Kobe diesen Hilfstross aus dem Ausland nicht hereingelassen haben, bin ich ganz glücklich gewesen. In diesem trockenen, kühlen, distanzierten Japan haben die Leute plötzlich einander zu helfen begonnen. Es sind Kräfte aufgebrochen, die sich bei einer massiven Hilfe durch das Ausland gar nicht hätten entfalten können. Genau das ist es, was Afrika zum Teil kaputtgemacht hat: die Hilfe durch das Ausland.
NW: Aber doch nicht nur die Hilfe. Der Kontinent wurde und wird ja auch ausgebeutet. Es kommt weniger darauf an, zu helfen, es kommt darauf an, weniger zu intervenieren, weniger auszubeuten, weniger Kulturen zu zerstören. Das war doch der Ansatz von AI Imfeld bei i3w.
Al Imfeld: Sicher war das der Ansatz. Ich wollte jetzt aber nur über die Hilfe reden. Ich meine nicht nur die Hilfswerke, sondern die ganze Staatsgläubigkeit im heutigen Afrika. Mit der Erlangung der Unabhängigkeit dachten die Menschen, jetzt sei es Sache des Staates, etwas zu tun. Es ist das ganz grosse Problem eines Mandela in Südafrika, dass die Leute glauben, jetzt sei einer der Ihren an der Macht, damit sollte ihnen der Reichtum wie von selbst zufliessen. Diese Einstellung ist in Afrika sehr präsent. Als Simbabwe 1980 unabhängig wurde, haben die Leuten die ersten drei bis vier Wochen die Hände in den Schoss gelegt und nur noch getanzt. Sie waren überzeugt, dass jetzt alles von oben käme.
Getragen von einem Gott, der Mensch geworden ist
NW: Wenn Du Dich auf den überschaubaren Bereich der kleineren Gemeinschaften zurücknimmst, dann hat das für Dich zwar nichts mit Resignation zu tun. Wie aber steht es um die Vision? Gibt es sie noch für AI Imfeld?
AI Imfeld: «Vision», das weisst Du, ist ein Wort, das ich zwar brauche - zum Beispiel in meinem Buch «Vision und Waffe» -, das aber für mich sehr zweideutig ist. Wenn nicht zuerst im zwischenmenschlichen Bereich gedacht, sondern dieser übersprungen wird, wenn man meint, man könne mit einer Vision das jetzt notwendige karge Nachdenken überspringen, dann gehen Visionen in Illusionen über. Wir sind in einer Zeit, in der wir uns sehr bescheiden müssen. Ich bewege mich im Kleinen, das sich aber weltweit ausstreckt.
Wir müssen Sachen hinterfragen, die im ersten Moment als Katastrophe erscheinen. Das Erdbeben im japanischen Kobe zum Beispiel ist in diesem Sinn keine Katastrophe, sondern eine Katharsis. Das japanische Volk muss plötzlich erkennen, dass man nicht zweistöckige Autobahnen in ein solches Gebiet hineinbauen kann, dass man überhaupt nicht alles kann, sondern wieder zur zenbuddhistischen und taoistischen Mentalität zurückkehren muss, wo es möglich ist, im Kleinen Welten zu gestalten, sei es mit Blumenstecken oder Bäumchenzüchten, sei es mit Meditationsgärten wie in Kyoto. Darum ist dieses Erdbeben für mich keine Katastrophe, sondern ein Ruf zur Besinnung. Es braucht diese Unglücksfälle, damit der Mensch überhaupt zu fragen beginnt. Sonst zerstört er sich selbst.
Ich bin also nicht der Pessimist wie viele. Ich bin viel eher Optimist, gerade weil ich aus dem Hinterland komme, wo wir vernetzt zu einer Grossfamilie durch viel, sehr viel Kleinarbeit fast Wunder wirken konnten.
NW: Es fällt mir auf, dass Du mit einem gewissen Gleichmut die schlimmsten Dinge durchhalten, ertragen und auch noch ins Positive wenden kannst. Das hat vielleicht weniger mit Vision, aber es hat auf jeden Fall mit einer Spiritualität zu tun, die Dir eigen ist.
AI Imfeld: Das hat schon mit einer Spiritualität zu tun, die ich natürlich nicht so gerne immer und überall offenlege. Es hat mit einer Spiritualität der Erdhaftigkeit zu tun. Ich glaube nicht an ein Jenseits. Es interessiert mich überhaupt nicht, was nachher kommt. Wenn ich sterbe, dann sterbe ich. Aber bis dorthin will ich leben. Darum stört mich auch eine gewisse Hyperaskese. Engagement ja, aber ich kann auch fröhlich sein und Feste feiern, essen und trinken. Selbst wenn mir die Ärzte sagen, das sei nicht gut für mich, warum soll ich es nicht trotzdem tun? Das ist auch Teil meiner Spiritualität.
Ich kann an keinen Gott glauben, der nur das Christentum und nicht die Vielfalt der Religionen zulassen wollte. Als ob es Gottes Wille seit Jahrtausenden wäre, dass eine einzige wahre Religion die andern bekämpfen sollte. Von mir aus gesehen ist selbst der Islam eine Sekte - eine Abspaltung - der jüdisch-christlichen Überlieferung. Er ist genau in diesem alexandrinischen Raum entstanden, wo alles ohnehin schon brodelte. Das wäre eine ganz interessante neue These, Thema einer weiteren Dissertation.
NW: Aber weshalb spricht denn AI Imfeld überhaupt noch von Gott?
AI Imfeld: Für mich ist Gott Mensch geworden. Hier treffe ich mich mit den Religiös-Sozialen. Diese Inkarnation bedeutet auch eine Verdemütigung, ein Absteigen Gottes ins Kleine und Ohnmächtige. Aber er ist unter uns, auch wenn ich mit Dir zusammensitze. Was das dann ist, Jahwe oder sein Sohn als Mittler zum Beispiel, interessiert mich nicht. Man kann und darf das alles glauben, aber es ist nicht mein Thema. Entscheidend ist das Miteinander. In dem Sinne ist der Geist, der lebendig macht, wichtiger...
NW:... als die Reflexion über das, was er sein könnte?
AI Imfeld: Ja. Sobald ein Fest entsteht, eine Stimmung, in der Du den Frieden spürst, merkst Du doch, dass es irgend etwas gibt, das über dem alltäglichen Menschlichen ist. Ich möchte es als göttlich bezeichnen.
NW: AI, ich danke Dir für dieses schöne, mich zuversichtlich stimmende Gespräch und wünsche Dir über Deinen 60. Geburtstag hinaus viele weitere gute Begegnungen, fruchtbare Arbeit im Kleinen, das Nachdenken über den weltweiten Kontext und noch manches Wort für Menschen, die sich von Dir anregen und ermutigen lassen.
Wer ins Elend hinein bloss Geld oder Projekte und keine neuen Ideen und Ansätze zu einer Spiritualität bringt, hilft nicht. Wer zu Verelendeten geht, muss als Mensch und Kleiner kommen. Er muss selbst arm und klein werden.
(AI Imfeld, Von der Machbarkeit zur Spiritualität der Entwicklung, in: ORDENSNACHRICHTEN 1987, S. 359)
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Al Imfeld© Neue Wege© 1995 Heft 3