Gantry 5

Mission - nichts ausser Kulturarroganz und Kolonialismus?


«Redemptoris Missio» und «Canberra»: Mission als kulturell-religiöse Unterwerfung

Zu Beginn des Jahres 1991 veröffentlichte Papst Johannes Paul II. die neue Missionsenzyklika Redemptoris Missio - römischen Traditionen folgend, nach Festen mit einem entsprechenden Wirk-Inhalt, hier auf die Vigil von Maria Empfängnis, 7. Dezember, (zurück-)datiert - mit der Betonung «der fortdauernden Gültigkeit des missionarischen Auftrages». Darin heisst es: «Der Missionar ist der Mensch der Liebe... Als solcher überwindet er die Grenzen und Trennungen von Rasse, Kaste, Ideologie: Er ist ein Zeichen der Liebe Gottes in der Welt. Und: Der wahre Missionar ist der Heilige. Der Missionar ist der Mensch der Seligpreisungen.» Ich nahm diese 91 Paragraphen auf fast 90 Seiten wie Staub aus einem anderen Weltall wahr. Offensichtlich schreibt hier jemand vom Himmel herab, jedenfalls von jeder Geschichte und Realität entfernt. 2000 Jahre Vor-Fälle berühren die theologisch-überschwenglichen Ein-Fälle nicht: Oben und unten laufen voneinander unberührt, parallel ab.

Im gleichen Jahr 1991 fand in Canberra die 7. Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen «Im Zeichen des Heiligen Geistes» statt. Hilflos, ratlos und verlegen standen die christlichen Vertreterinnen und Vertreter den paar geladenen australischen Ureinwohnerinnen und Ureinwohnern gegenüber: Christinnen und Christen aus aller Welt bekamen ihre kulturelle Zerstörung - fast zoohaft - vordemonstriert zu Gesicht. Gleichzeitig wurde heftig betont, dass der Geist über die ganze Welt wehe. Doch schon in Canberra entstand eine Debatte über Synkretismus und das Recht der Übernahme bestimmter Traditionen." Theologisch, heisst es immer wieder, komme niemand um die Bekehrung herum. Das Christentum sei keine blosse Akkulturation. Bereits Bekehrte und Aussenstehende entscheiden, was auszuwählen und zu behalten sei. Bekehrung ist immer (noch) eine kulturellreligiöse Unterwerfung unter einen Gott, der längst in bestimmten Landen und Nationen, Traditionen und Kulturen sesshaft wurde, sogar direkt an Land und Kapital gebunden.

Auf diese zwei Ereignisse wollen die vier hier besprochenen Bücher von Kepel, Lewis, Paczensky und Mires kaum eine Antwort geben. Doch scheint es nicht einfach Zufall zu sein, sondern im Zeitgeist zu liegen, dass eine sowohl spirituelle als auch kontroverse Auseinandersetzung mit der Mission einsetzt.

 

Gilles Kepel:
Wie Re-Evangelisierung und Kapitalismus verwandt sind

Wie Gilles Kepel, der 1955 geborene Arabist und Soziologe, in seinem Buch «Die Rache Gottes» eindrücklich zeigt, leben wir seit Ende der 70er Jahre in einer Zeit der Re-Evangelisierung. Radikale Juden, Christen und Moslems fordern in ihrer masslosen Übertreibung des Bösen nur noch die bedingungslose Unterwerfung aller Menschen unter Jahwe, Allah oder Christus und die entsprechenden Buch-Offenbarungen. Kepel geht nur auf diese drei Religionen ein. Als Religionssoziologe weiss er, dass frustrierte Hinduisten ebenfalls zu Moscheen- Stürmern «Gottes» werden; dass japanische Religionen Missions-Geschäfte in den USA zu machen beginnen; dass selbst im Buddhismus Missionskampagnen im Gang sind und als Meditationsmethoden vermarktet werden. Zu allen «fundamentalen» Extroversionen parallel geht nach Kepel ein Kapitalismus einher, der sich im Erwerb von Immobilien und Schlössern, alten Hotels und abgelegenen stillen Orten niederschlägt und immer wieder im Erwerb von Land, das «gerettet» und dann später zu Heiligem Land wird.

Wir leben in einer Zeit der Re-Missionierung, basierend auf einem Hunger nach Glauben und einem Durst nach der reinen Milch der Wahrheit. Die Zeitlage färbt jedoch - genau wie früher - gewaltig ab. Es kommt nicht alles als Geist von den Höhen herab und geht mit Hosianna-Singen von Engeln einher. Es gibt so etwas wie einen Zeitgeist, der konditioniert oder vorspurt. Ein solches Eingebettetsein in den Zeitgeist arbeiten vor allem Mires und Kepel mit viel Geduld heraus: Wie der religiöse Geist verschiedene historische Subjekte und Objekte prägt und wie sich daraus immer wieder eine Variante der Konquista ergibt.

Parallel zu diesem «Zeit-Geist» vollzieht sich eine Zwei-Teilung: Die einen zweifeln bis an die Grenze des Zynischen; die anderen glauben einfachhin ohne Erklärung, Aufklärung, gesunde Selbst-Kritik und Skepsis. Der eine Teil zweifelt an traditionellen Autoritäten und Institutionen. Für ihn zerfällt bloss Wahn- oder Irr-Glaube. Doch für einen anderen Teil steht hier Substanz zur Debatte. Es gibt unsichere Geister, die diese Auskehr als Abkehr sehen und eine Bekehrung zu etwas einmal Gewesenem wünschen. Sie beklagen den Verlust des Glaubens, ohne zu sehen, dass das meiste dieses in der Vergangenheit so geschätzten Glaubens (und da kommt Paczensky mit seinem «teuren Segen» gerade recht) furchtbar und frevelhaft, unmenschlich und verbrecherisch war.

Einige Kritiker, die als modern und aufgeklärt gelten, gehen des öfteren gegen Fetische vor, ohne den Ur-Fetisch, den Kapitalismus, zu durchleuchten und ohne daher zu merken, wie jede solche Missionierung mit eigenen nationalen, territorialen, ökonomischen oder handelsmässigen Vorteilen einhergeht, und wie daher diese Evangelisierung Kapitalismus erzeugt und umgekehrt. Sollte daher Missionskritik letztlich Kapitalismuskritik sein?

Die gleichen Menschen - so widersprüchlich ist alles - werden in Massen (wie beim Golfkrieg) für Demokratie kämpfen gehen, um am Ende des Krieges wieder Monarchen und Götter einzusetzen. Die Sorge müsste dem immer mehr serbelnden Pflänzchen Aufklärung gelten. Dafür jedoch bleibt wenig Zeit, da ist einfacher Glaube anspruchsloser. Da der heutige Mensch zuviel an Informationen erhält und fortlaufend mit noch mehr überstrahlt wird, bleiben wenige stoisch weise und zurückhaltend. Die Mehrheit oder Masse wird damit verunsichert, d.h. von jemandem (der kein Gott ist) gebraucht oder manipuliert.

Die Radikalforderung der Fundamentalen lautet: bedingungslose Rückkehr zum Glauben an die Autorität und die Wörtlichkeit. Bei einem solchen Verzicht auf eigenes Denken wird eine isolierte Ghetto-Gemeinschaft (Reservat wie bei Lewis) sehr oft als Basisgruppe verbrämt angeboten. In der Dritten Welt wird Armut instrumentalisiert. Wer glaubt, dem wird von der Lebensmittelhilfe gegeben. Neu ist: Wer glaubt, erhält Videos.

 

Norman Lewis:
Evangelisation und Markt-Reservate

Da bringt Norman Lewis einiges Licht in sonst unzugängliche lateinamerikanische Reservate hinein, wo die fundamentalistischen Leute vom Summer Institute of Linguistics unermüdlich forschen und missionieren. Es war immer typisch durch alle menschliche Geschichte hindurch, dass sich ausgerechnet radikal Glaubende als die unsichersten «Gläubigen» verhielten, so unsicher, dass sie «die Welt» gigantomanisch überschätzten. Deshalb müssten die Auserwählten von jeder Ansteckungsgefahr abgeschirmt werden. Ausgerechnet diese von Gott Auserwählten werden zu Rassisten, Fremdenhassern, Verächtern der Anderen und in Sachen tolerantes Verhalten jeden Gottes unwürdig. Daher verspricht der Titel «Die Missionare» viel zu viel. Lewis wird selbst das Opfer einer «Sekte», die Begriffe verdreht, und beginnt nun seinerseits die Begriffe «Mission» und «Missionar» zu manipulieren, indem er sie bloss stereotypisiert und nicht weiter analysiert. Aber wer wird diesen «Augenzeugenbericht» lesen: diejenigen, die Bestätigung brauchen? Oder entstand bloss ein Abenteuerbuch?

Lewis klagt (zu Recht wohl) die «Vernichtung anderer Kulturen» an, doch möchte ich etwas über die Fülle, aber auch die Leere, das Sein und das Sterben, das Wesen und den Ungeist dieser Kulturen erfahren. Wie kann denn der Autor sonst wissen, dass diese anscheinend darniederliegende Kultur am Ende und nicht bloss in der «grausamen Phase der Leere vor der Umkehr des Zyklus» (ein Zen-Buddhist in Japan) sich befindet.

Lewis ist einer der besten Reisejournalisten der Sunday Times. Seine Reportagen haben in Brasilien eine Gesetzesänderung bewirkt. Doch hier - beim Buch - fehlt es mir an der Vertiefung und dem sorgfältigen Umgang mit Begriffen (auch das ist Kultur). Bestimmt werden einige mir zurufen: «Die Welt muss all das wissen!» Ich aber möchte, um fair zu bleiben und um Grundlagen für ein Umdenken zu haben, erfahren, warum diese Sprachwissenschaftler so etwas tun und sich dabei Missionare nennen? Braucht etwa ein bestimmter Menschen- oder Volkstyp Kolonien, verkleinert in Reservaten oder gar Lagern? Nötig wäre eine Arbeit, die den Bogen spannte zwischen Ghetto und Reservat, zwischen einem möglichen Anspruch auf Isolation und der Angst vor der Berührung.

 

Gert von Paczensky:
Mission nichts als Kolonialismus

Eine Auseinandersetzung mit Mission ist nach all dem Vorgefallenen dringend notwendig. Viele haben Angst davor und meinen, der sog. Missionsgeist würde dann erlahmen. Bis jedoch ein neuer Sinn gefunden oder ein selbst für Menschen einleuchtender göttlicher Befehl anders in die Tat umgesetzt werden kann, sollte ein Missions-Moratorium gelten.

Paczenskys Buch «Teurer Segen» ist ein Kompendium des Versagens. Er hat unermüdlich Fakten gesammelt. Sein Buch kommt mir vor wie die unendlich vielen gewichtigen Ordner bei einem komplizierten Gerichtsfall. Doch diese Fakten und Ordner erschlagen einen Leser und lassen ihn wie einen Überfallenen auf dem Wege liegen. Zu Klärungen kommen weder Leser noch Autor. Sagte ich vorher, Lewis habe einen Reisebericht geschrieben, so müsste ich dieses Buch als eine Anklageschrift deklarieren.

Paczensky gehört zu den besten deutschen Kolonialismuskennern. Dazu hat er eine glänzende Gabe, ein Sachbuch verständlich zu schreiben. Bereits einmal hat er eine fast enzyklopädische Popularisierung des Kolonialismus im Buch «Die Weissen kommen» vorgelegt. Zusammen mit Herbert Ganslmayr (Völkerkunde Bremen) schrieb er über die kulturelle Ausbeutung der Dritten Welt in «Nofretete will nach Hause». Zum tendenziösen Jubiläum der «Entdeckung» der Neuen Welt deckt er gnadenlos das Werk der lateinamerikanischen Mission auf. Die Schule der «Entdecker» waren die Kreuzzüge. Ihre moralische Botschaft war eine verklemmte Sexualität. Ihr Glaube war nicht nur monoman, sondern pathologisch blind. Die Missionare befanden sich ganz im Schlepptau dieser Entdecker, hinterfragten die Sklaverei nicht grundsätzlich, konnten kein «anderes» dulden und sahen die Rettung in der Gleichmacherei. Gemäss diesem Zeitgeist war es traurige Logik, dass Mission und Kolonialmacht eins wurden.

Die Bilanz ist «verheerend», «furchtbar», «unglaublich» und «traurig», eine Fortsetzung der von Missionaren endlos verursachten Leiden und kulturellen Schäden. Ich könnte zwar Paczensky ganz in Schutz nehmen, spräche er ausschliesslich von Lateinamerika. Doch auch er - wie Lewis - geht mit dem Begriff «Mission» zu einseitig um. Zudem trägt das Buch den Untertitel (für den wohl der Autor nicht viel kann): «Christliche Mission und Kolonialismus».

Paczensky beginnt mit den Kreuzzügen. Zuerst fragt man sich warum? Denn damals begann doch nicht erst das, was wir «Mission» nennen. Kolonialismus gab es schon früher. Auch Hellenen und Römer kolonisierten nicht bloss auf harmlose und humanistische Weise. Für Paczensky bedeuten die Kreuzzüge den abendländisch-christlichen Beginn eines nicht mehr endenden Kolonialismus. In diesem Rahmen nur sieht er Mission. Er theologisiert nicht. Er geht nicht auf die Missionierung des Abendlandes ein, um zu fragen, was denn damals geschah - vor und nach Benedikts Ordensgründung um 530.

Zwei Hinweise nur: Benedikt entwarf mit seinen Mönchsgemeinschaften, den Klöstern und ihren Landwirtschaftsbetrieben, einen ganz besonderen Missionsbegriff. Mit der Formel «ora et labora» (bete und arbeite), d.h. mit der Verbindung von Agrarkultur und Sinngebung, sandte Benedikt seine Mönche zur Erneuerung des damaligen Abendlandes aus. So kamen von Irland her die Mönche zu uns; die Benediktinerklöster wurden Wiegen einer neuen Kultur. Diese Mission kann (noch) nicht als Kulturzerstörung bezeichnet werden. Einige würden es Erneuerung, andere eine neue Sinngebung nennen. Das wäre wichtig zu erwähnen, denn wenn es eine Erneuerung von Mission geben kann, hat man diese theologisch, agrarhistorisch, sozio-kulturell zu hinterfragen.

Schon zu Benedikts Zeiten war Mission ans Mönchtum gebunden. Das hatte mit dem Feudalsystem zu tun. Weltkleriker sollten nicht missionieren, denn sie waren Teil der Einheit von Papst und Kaiser. Die Orden standen ausserhalb dieses mystischen Corpus Kirche-Reich und besässen eine bestimmte Freiheit für Widerspruch und Protest; sie verkörperten innerhalb der katholischen Kirche etwas von Opposition. Ordensleute hatten stets die Narrenfreiheit zum Experiment. Diese Freiheit ist klar erkennbar bei Las Casas. Doch gab es nur ganz wenige mit solchem Mut und Geist. Warum versagte zur Zeit der Konquista dieses System? Paczensky zeigt Versagen über Versagen, und jedes Detail stimmt gewiss. Dennoch bin ich am Ende erschlagen und mutlos. Soll mich alte Schuld von anderen sadistisch zermürben und in dieser Gesellschaft wirkungslos machen?

 

Fernando Mires:
zuerst alle Heiden (mit Land) erobern, um später zu missionieren, oder Konquista als irdische Schutz-Eroberung?

Das zweibändige Werk des im Exil lebenden Chilenen Fernando Mires befasst sich mit dem gleichen Stoff wie Paczensky und ist dennoch anders. Es stützt sich auf dieselbe Tragödie und die gleichen Fakten, dennoch kommt es mir menschlicher und hoffnungsvoller vor. Obwohl beide Bände zusammengehören, kann jeder für sich allein gelesen werden. «Im Namen des Kreuzes» legt Zeitgeschichte offen, zeigt widersprüchliche Entwicklungen auf: eine langsam einsetzende Kapitalakkumulation für die Industrialisierung, die Schwäche des Bürgertums, ein Adel, der nach neuer Sinngebung sucht, ein Klerus, der sich vereinnahmt vorkommt, mystische Ausbruchversuche, die Erweiterung des Menschenbildes, die Sklavereidebatte, der Beginn des Völkerrechts (ausführlich über Las Casas und de Vitoria). - «Die Kolonisierung der Seelen» handelt direkt über Mission und Konquista.

Mit der Reformation entstanden andere Ströme und Beweggründe von Mission. Die Bibel und das Buch wurden wichtig. Lesen und Rechnen prägten von nun an die Welt. Mission geriet immer mehr von den Mönchshänden in die der Buchhalter. Waren in den Klöstern Choräle und Fresken ein integraler Bestandteil der Spiritualität und somit auch einer Mission, wurde nun nur noch gelehrt (und geheilt): das Kloster durch die Schule und das Spital ersetzt. Dazu hatte auch der «Laie» Zugang, der gewöhnliche Christ, der Kleinbürger und damit eben auch der Chauvinist - um für seinen Himmel oder seine Nation zu missionieren.

Auch Missionare (schon ein Paulus) waren Gestörte und sogar selbst Zerstörte. Sie waren stets Abbilder der anderen Menschen, die so oder so auch die Welt durchquert und zu erobern versucht hätten. Es gab kleine und grosse Alexander und Napoleone und dazwischen die Missionare: Dieses sehr schmale Dazwischen muss erfragt werden.

Kolumbus und die Konquistadoren eroberten und plünderten eine neue Welt im Glauben, dass Heiden noch keine Menschen seien. Die Eroberer waren - Dante ist davon ein Abbild - von abstrusen Himmels- und Höllenvorstellungen geprägt. Vorrang schien für einige die Idee zu haben, alle müssten wenigstens vor der ewigen Hölle gerettet werden; dafür wurde eine zeitliche Hölle in Kauf genommen. Bald eroberte eine Wahnidee diese Gemüter: Die Welt sollte vor England und (später im Zeitalter der Gegenreformation) vor den Protestanten beschützt werden. Zuerst Kahlschlag, um dann zu kultivieren, das schien in den Köpfen herumzuspuken.

Solche analytischen Überlegungen und Querverbindungen finde ich bei Paczensky kaum. In diese Lücke springt der chilenische Politologe (und Theologe) Fernando Mires. Zuerst ging er nur dem Genozid an den Indianern nach, um dann in «Die Kolonisierung der Seelen» das Geschehene «historisch zu verstehen». Mires geht dem «Seinsgrund» nach, auf dem solche Grausamkeit erwachsen konnte.

In 17 Thesen wird die ehrliche Analyse zusammengefasst. Es zeigt sich erneut, wie kleine Teilchen oder Atome einander anstossen, etwas in Bewegung bringen, das am Schluss etwas ganz anderes wird, als was es zuerst intendiert wurde. These 10 verweist auf einen solchen fast unglaublichen Widerspruch: «Der Aufstieg der Indiobesitzer zur herrschenden Kolonialklasse sowie ihre politische Übereinstimmung und Interessengemeinschaft mit Teilen der Kirche liessen eine wirkliche Theologie der Versklavung entstehen.» Und These 12: «Die Theologie der Versklavung und die Theologie der Befreiung der Indios bildeten nur die beiden extremen Pole einer grösseren Auseinandersetzung...»

 

Zehn Überlegungen und weitere Fragen

  1. Wir haben inzwischen soviele Bestandesaufnahmen und immer noch fast gar keine Erklärungen. Paczensky trägt das Material aus aller Welt zusammen; Lewis sieht die isolierte Vernichtung einer Kultur. Mires versucht, die Geschichte zu verstehen. Ansatz seiner Erklärung ist der Übergang von einer «ursprünglichen Kapitalakkumulation» zu einer «Dauerakkumulation», d.h. zu Wachstum, Fortschritt und Entwicklung, weiter und weiter zu mehr und immer mehr - ob auf Erden oder in den Himmeln. Kepel sieht ähnliche Ansätze in einem religiös verbrämten Gewinn (Geld, Land und Macht) zur Bestätigung entweder eines ethnozentrischen Glaubens als Welt-Wahrheit und Ansatz zu einer Neuen Weltordnung oder aber als ein kaltblütiges Versteckspiel von Machtgelüsten.
     
  2. Die Lage von heute mag beweisen, dass jede Bekehrung etwas mit einem Ja oder Wagnis zum Fremden, Unbekannten und Anderen zu tun hat. Viele der sog. Fundamentalisten haben Angst davor. Sie wollen beim Status quo bleiben, beim Eigenen, und propagieren dieses daher als das Ursprüngliche, das Echte und Eigentliche - vor allem wenn es noch etwas zurückversetzt und verklärt wird. Damit haben sie einen Vorwand, um sich nicht (mehr) bekehren oder anpassen zu müssen.
     
  3. Die Studie von Mires macht klar, dass die meisten Menschen Opfer eines bestimmten «Zeitgeistes» werden. Dieser schmiedet ein Volk. Volk Gottes und Kirche fliessen gefährlich ineinander über. Wir sehen es heute in der Volkskirche, wo die einen darauf beharren, dass diese als Ganzes - und somit auch mit Kapitalisten und Reichen - ernstgenommen und respektiert werden müsse, denn Sünder machten die Mehrheit aus. Mit scheinbar demokratischen Forderungen wird dauernd Kritik erstickt. Wie soll sich da einer erdreisten, gegen die Mehrheit zu predigen und anzugehen? Solcherart war eine Konquista möglich und unter damaligen Bedingungen kaum in Frage zu stellen.
     
  4. Bestimmte Gewalten-, aber auch Ideen- Trennungen sind heilsam und notwendig. «Der Teig» muss auseinandergenommen werden können. Dazu braucht es sowohl eine kritische Theologie als auch eine Opposition. Damit jedoch ist noch kaum eine Kirche fertiggeworden. Erst recht nicht, wenn die Forderung nach kritischen Laien und einer unabhängigen - auch theologischen - Medienarbeit geht. Noch heute gibt es ganz sublime Inquisitionen, die Warnern sogar aus Gründen einer demokratischen Mehrheit oder aus geistigen Einschaltquotenregulativen keinen Platz geben. So verkam Mission, und so wird die Kirche weiterwursteln mit der Mehrheit - ohne demokratisch zu sein.
     
  5. Der Zeitgeist erschwert, gerade weil man Teil ist und hat, eine klare Distanzierung von ungerechten Verhaltensweisen. Mires beschreibt, wie selbst ein Las Casas und seine Nachfolger nur für eine andere Form der Sklaverei, nicht aber gegen sie insgesamt waren. Etwa genauso verhielten sich in Südafrika die Liberalen, die Apartheid bloss modifizieren oder reformieren, aber nicht radikal abschaffen wollten. Vielleicht müsste ein ehrlicher Christ heute radikal gegen alle bisherigen Formen der Mission und nicht bloss für eine andere Art sein. «Entwicklungshilfe - ja oder nein?» ist ein ähnliches Dilemma, das sich wohl erst später beantworten lässt. Diese Haltung macht demütig und zurückhaltend.
     
  6. Wir können jedoch auch gegen zuvieles sein und daher nichts erreichen. Dieser Fundamentalismus, der das Kind mit dem Bad ausschüttet, gibt sich radikal und revolutionär, doch bloss in Worten. Gerade weil die Wirklichkeit ein sehr vielschichtiges Geflecht von Tausenden von Konkomitanten ist, breitet die Alles-oder-nichts-Forderung nur einen weiteren Schleier über die Abfolge eines Geschehens. Jedes Unrecht ist - fast wie zu seiner geschickten Abwehr - umrahmt mit anderen, nicht verwerflichen Werten. Als Beispiel kann Sklaverei gelten. Mit ihrer Abschaffung verschwindet weder das Dienen noch die Arbeit. Wer im heutigen Kontext gegen Apartheid ist, muss nicht auch schon für eine Verschmelzung der Kulturen sein; selbst die alte Frage nach welchem Nebeneinander ist nicht beantwortet. Oder wo genau lag der Wurm im Jesuiten-Experiment mit dem Indianerstaat von Paraguay?
     
  7. Zu allen Zeiten der uns bekannten Geschichte gab es Kolonialismus und Mission. Sie sind nicht einfach christliche oder westliche Ereignisse. Das Alte Testament ist voll von Kolonialismus. Selbst wenn die Idee von der Verheissung eines Gelobten Landes eine andere als die daraus resultierende menschliche Vorstellung war, liegt darin dennoch der Keim des Kolonialismus. Jedes Wegziehen von zuhause zu anderen Menschen, ob für Jakobs Söhne oder Buddhas Mönche, ist der Anfang von Mission. Wo immer jemand in die Fremde geht und dort zum Glauben von zuhause steht, geschieht ein Aufeinanderprall von Ideen, der nicht immer harmonisch verlaufen kann. In der Konfrontation entsteht die Frage nach einem möglichen falschen Fundament bei sich selbst. Konfrontation führt zu Konversion. Die Aufgabe eines Glaubens - selbst wenn er falsch war - führt zu Einstürzen und Tragödien.
     
  8. Immer ging und geht es bei Mission um Heiden, die letztlich Unkulturelle, A-Historische, Prä-Logische, Un-Gläubige, Fremde, Barbaren, Primitive und Unterentwickelte waren und sind. Daraus haben sich stets grauenhafte Tragödien ergeben. Dieses Urteil über andere Menschen führte permanent zu kleinen und grossen Genoziden. Mission war meist eine Projektion in die Ferne, ein Kultivieren und Zähmen dieser Fremden und Gottlosen. Doch gibt es den gottlosen Menschen überhaupt? Wurde Mission zuhause nicht politisch-religiös als eine Bestätigung des eigenen Auserwähltseins hochstilisiert und machtpolitisch instrumentalisiert? Genauso wie es heute sowohl beim Papst als auch bei den amerikanischen Missionaren passiert. Ist Mission einfach eine versteckte Treibjagd nach Sündenböcken und damit die Auslagerung des eigenen Versagens? Der/die/das Fremde ist das Böse, der/die/das Bedrohende, der/die/ das Gott-nicht-Untertane. Können wir weiterhin bei einem solch implizierten Verständnis von Mission, bei der Mission überhaupt, noch bleiben? War Mission nicht stets nur eine Gleichmacherei (sogar bis auf die Ebene des Bösen)? Wie aber behandeln wir solches heute, wo Vielfalt überhandgenommen hat und nach dem Recht auf Verschiedenheit und eigene Identität gerufen wird? Kann man statt von der Einswerdung in der Verschmelzung vom Mosaik als Bild ausgehen?
     
  9. Gerade in der Jetzt-Zeit mit der totalen und weltweiten Hilflosigkeit dem Fremden und Anderen gegenüber darf die Frage gestellt werden, ob Mission essentiell etwas mit Überwindung von Fremdenhass zu tun haben könnte. Wenn Mission gar etwas mit Fernweh oder dem Wunsch des Ausbrechens zu tun hat, wie kann dieses menschliche (Grund-) Bedürfnis heute befriedigt werden?
     
  10. Denken wir auch daran, dass ausgerechnet die sozial ärmsten und verelendetsten Gebiete Europas (Elsass, Irland, Baskenland, Süditalien, Schweiz, Tirol) bei den Katholiken ein enormes Missionarspotential ausmachten; dass dem Missionar ein ehrenvolles Auswandern ermöglicht wurde; dass es für Frauen jahrhundertelang oft keine andere Wahl ausser Hexe oder Missionarin gab; dass gerade auch der kleine Mensch mit Hilfe der Mission sich ins Abenteuer und Heldentum einlassen konnte; dass Mission immer wieder jeden Formalismus von Zunft und Universität durchbrach und dass sie Hoffnungslosen eine Chance gab; dass sie ein Ausbruch aus der engen sozialen Kontrolle war; und dass sie kleine Geister auch in der Ferne nicht (oder nur selten) in grosse zu verwandeln vermochte.

Denker und Dichter, Theologen und Philosophen, Politiker und Wähler sollen von allen Seiten her an die Mission herangehen und fragen: Wozu hat sie (uns) gedient? Was würde uns ohne sie fehlen? Warum missionieren alle Buchreligionen? Warum will Gottesglaube zur Weltreligion werden?

Solche (kühnen) Überlegungen fehlen uns heute. Etwas muss anstelle von Mission gesetzt werden, wenn das Kind nicht mit dem Bade ausgeschüttet werden soll und wenn historisch lang andauernde Verhaltensweisen auf bestimmte menschliche Bedürfnisse verweisen. Doch was? Hier beginnt für mich die bescheidene Suche nach dem Sinn der Mission - auch im Geiste Gottes.

 

Diskutierte Literatur:

  • Giles Kepel, Die Rache Gottes. Radikale Moslems, Christen und Juden auf dem Vormarsch. Piper, München-Zürich 1991. 316 S.
  • Norman Lewis, Die Missionare. Über die Vernichtung anderer Kulturen. Ein Augenzeugenbericht. Klett-Cotta, Stuttgart 1991. 262 S.
  • Fernando Mires, Die Kolonisierung der Seelen. Mission und Konquista in Spanisch-Amerika. Edition Exodus, Luzern 1991. 264 S. Vom gleichen Autor im gleichen Verlag erschien kurz zuvor: Im Namen des Kreuzes. Der Genozid an den Indianern während der spanischen Eroberung: theologische und politische Diskussionen. 253 S.
  • Gert v. Paczensky, Teurer Segen. Christliche Mission und Kolonialismus. Albrecht Knaus Verlag, München 1991. 544 S.

 

Zusätzlich:

  • Horst Goldstein (Hg.), Der gekreuzigte Kontinent. 500 Jahre Evangelisierung Lateinamerikas. Eine Anhörung von Ureinwohnern Mexikos. Peter Hammer Verlag, Wuppertal 1991. 95 S.

 

Dokumente:

  • Enzyklika Redemptoris Missio, 7. Dezember 1990. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Kaiserstr. 163, 5300 Bonn 1.
  • Im Zeichen des Heiligen Geistes. Bericht aus Canberra 91. Offizieller Bericht des ÖRK. Verlag Otto Lembeck, Frankfurt 1991.

 

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Al Imfeld©    Neue Wege    1992    Heft 4