Die Herausforderung des Islam
Ohne etwas Feuer entsteht keine Wärme
Der Islam... Und schon stecke ich in der Schlinge. Was soll «der Islam» sein, falls er wirklich die letzte, endgültige und alles abschliessende Offenbarung sein will, jedoch jeder Gläubige eine Autorität ist und es über ihm niemanden gibt ausser Allah - kein Apostelkollegium, kein Konzil, keine Kleriker, kein offizielles und oberstes Gremium... Wenn sich jemand so sehr ergibt («Islam»), dass er und Gott, sein Glaube und die Lehre identisch sind, dann ist alles eins und klar. Für den völlig Hingegebenen gibt es da weder etwas zu fragen noch zu deuten. Für den Ungläubigen aber ist alles verwirrend und unbegreifbar. Das jedoch ist genau der springende Punkt des totalen Unterschieds. Für den Aussenstehenden gibt es den Islam nicht, für den Muslim gibt es nur den Islam.
Als westlicher Religionswissenschaftler steht man immer wieder ohnmächtig vor dem Islam. Andere Religionen lassen sich beschreiben, analysieren und debattieren. Man kann - immer im Gegensatz zum Islam - sogar von Gründern und von Menschen absehen und über Hinduismus, Taoismus, Konfuzianismus und Buddhismus abstrakt reden. Beim Islam stösst man stets auf Personen und Völker, auf Konkretes und Kleinigkeiten. «Schwerlich hat bislang eine andere Zivilisation der Geschichte so viel Bedeutung beigemessen wie der Islam», schreibt B. Lewis (6, S. 27). Wie es in der christlichen Dogmatik den Kirchenväterbeweis gibt, so ähnlich wird Geschichte im Islam eingesetzt. Und man stösst an, sodass es einen ärgert. Es stösst auf, dass alles so göttlich und gleichzeitig so menschlich ist. Die Absurdität schwimmend im Meer: für die einen eine Rose, für andere einfach Abfall.
Für mich ist es kein Zufall, dass eine kurze Blütezeit im islamisch-christlichen Dialog in Frankreich um lauter Mystiker herum entstand. Louis Massignon (1883-1962), Pionier der Islamistik, Erzieher einer ganzen Generation, stand in Verbindung mit Jacques Maritain, Etienne Gilson, Teilhard de Chardin oder Paul Claudel und riss andere mit in den Sog der Islamistik: Henry Corbin, den Persienspezialisten, und Titus Burckhardt, den Schweizer Protestanten, der sich zum Islam bekehrte. Zu diesem Feld gehörte Massignons Freund, der in die Wüste zog, das Wortgeplänkel aufgab, schwieg und damit die tiefsinnigste Bewegung für ein gegenseitiges Verständnis einleitete: Charles de Foucauld. Sie alle zusammen haben einen einmaligen kurzen Frühling des Begreifens und Verstehens geschaffen.
Etwas Ähnliches ging von Oxford und Cambridge zur Zeit von Sir Hamilton Gibb, W. C. Smith, J. Spencer Trimingham und W. M. Watt aus. In ihren Artikeln und Büchern spürte man das Feuer, und sie vermochten andere zu entzünden. C. G. Jung entdeckte bei ihnen wichtige Elemente für seine Theorien, und so wirkten einige Ideen sogar in die Schweiz hinein, wo auf den jährlichen Eranos-Tagungen in Ascona die Namen von vielen der Erwähnten (allen voran Henry Corbin) zu finden waren.
Doch das Feuer ist seit den mittleren sechziger Jahren langsam erloschen. Genau zum Zeitpunkt, als das Zweite Vatikanische Konzil mit der Erklärung über das Verhältnis der Kirche zu den nicht-christlichen Religionen «Nostra aetate» nach langer Zeit einen Dialog anspornte, starb eine ganze Schule, die eine Öffnung ermöglicht hatte, weg. Für den Dialog mit dem Islam haben sich bloss noch wenige erwärmt; das Mass an Vorurteilen stieg wieder an. Bei der Ölkrise 1973 fehlten der Welt weitblickende Theologen und Islamisten. Selbst heute mangelt es an grossen Hermeneuten. Im deutschsprachigen Raum mag es Politologen geben, doch die theologischen und religionswissenschaftlichen Deuter und Visionäre fehlen. Es gibt zwar mutige Vorreiter wie Hans Küng und Kardinal Franz König, doch ist keiner von ihnen ein Islamist oder kennt die arabische Sprache. Über östliche Religionen wird wohl viel geschrieben; doch der Islam fehlt dabei meistens. Er passt nirgends hin: Er ist weder östlich noch westlich, weder rational noch mystisch, voller Moscheen ohne Theologen und für den Dialog Geschulte. Auf beiden Seiten bringen Fundamentalisten fromme Menschen durcheinander.
Theologen und Religionswissenschaftler wurden durch Journalisten wie Peter Scholl- Latour oder Gerhard Konzelmann ersetzt. Ihrer Medien-Aufgabe gemäss halten sie sich an Ereignisse, an rasch Vorübergehendes und Ephemeres, an Schatten und Phänomenales. Religion kommt zu kurz; Politik ist alles; doch weiss am Ende der Leser oder Zuhörer nichts, weder vom Innen noch vom Aussen, durcheinander ist alles, wirr, ohne Faden, sinnlos. Zwischen der sachlich mystischen Welt von Foucauld und den banalen Pointillismen von CNN steht einsam Arnold Hottinger. Die Menschen spüren mit seiner Hilfe etwas vom Faszinosum, es springen Funken über, und daher geniesst er viel Sympathie. Erneut ein Beispiel und ein Hinweis: Mit den Zeichen im islamischen Raum umzugehen ist schwer: Der Dialog mit dem Islam ist anders als mit anderen Religionen.
1. Ausgang der Begegnung von Islam und Christentum kann nicht unmittelbar der Dialog oder Disput, sondern nur die gegenseitige Anerkennung und das Aufdecken von Unrecht sein
Gewöhnlich heisst es: «Muslime denken und handeln derart anders als Christen, dass ein Dialog zwischen ihnen unmöglich ist.» Oder: «Die zwei Glaubens-, Denk- und Argumentationsweisen liegen diametral auseinander.»
Zunächst gilt für alle Religionen, dass sie sehr vielschichtig, verwirrend, widersprüchlich sind, sich darin beinahe alles finden oder vermissen lässt und dass sie dennoch klar erfassbare Systeme sind. In einem solch emotionalen Feld findet jeder entweder das, was er mag, oder das, was ihm missfällt. Sowohl für als auch gegen eine Religion gibt es stets genügend Gründe und immer neue Argumente. Statt sofort, direkt und in die Luft hinaus zu argumentieren, gilt es, einander zu respektieren und zu verstehen. Statt sofort miteinander wirr durcheinander zu reden, muss sich zuerst jeder in den anderen hineinversetzen: der Christ in die Position des Muslim, der Araber in den Standpunkt westlicher Menschen. An was leiden die Menschen? Warum haben sie Angst? Wie fühlen sie sich bedroht? Wo geschah ihnen Unrecht durch unseren Glauben, unser System? Solche ehrlichen Fragen decken Ebenen des Unrechts auf und werden zum Beginn von Versöhnung und Frieden.
Statt sofort zu definieren und zu differenzieren, gilt es, Religion zu erkennen und zu begreifen.
2. Man muss genauso zwischen Islam und islamischer Welt wie zwischen Christentum und Westen unterscheiden
Keine Religion erfasst den Menschen total, d.h. zu jeder Zeit und bis ins Innerste. Religion ist immer bloss ein Ideal, ein Weg, den der Mensch mehr oder weniger begeht, von dem er abweicht oder den er überhöht. Je nach Zeit geschieht anderes als Gottes Wille mit Religion in der Geschichte.
Keine Religion, auch keine direkt von Gott geoffenbarte, ist eindeutig, denn jeder Mensch hört - aufgrund seines Erlebten - anderes mit und versteht dieselben Worte gar anders als sein Freund oder Nachbar.
In der islamischen Welt existieren viele Kräfte und Widersprüche, Gedanken und Gruppierungen, Meinungen und Ablehnungen, Strömungen und Ängste. Verallgemeinerungen sind Täuschungen: Sie erklären nichts. Selbst wenn die Lehre einigermassen klar ist, gibt es eine verwirrende Vielfalt konkreter Verwirklichungen oder Deutungen.
Clifford Geertz (4) hat den Islam in Marokko und in Indonesien beobachtet und mit dem interessanten Material das faszinierende Buch «Religiöse Entwicklungen im Islam» geschrieben:
- In Marokko gab es die entscheidende Leitgestalt des Krieger-Heiligen, der entweder Mauern niederriss oder Mauern aufrichtete, eine permanent kreative Spannung zwischen Stadt und Land. «Die gestaltgebenden Impulse für die islamische Zivilisation in Marokko kamen von den Stämmen, und die geistige Prägung, die sie ihr verliehen, überdauerte alle arabisch-spanischen Verfeinerungen, die weltabgeschiedene städtische Religionsgelehrte an einzelnen Orten und für einige chromatische Augenblicke einführen konnten. Der Islam in der Berberei war vor allem ein Islam der Heiligenverehrung und ethischen Strenge, der magischen Kraft und aggressiven Frömmigkeit» (4, S. 26).
- In der indonesischen Gesellschaft stehen wir ganz anderen Traditionen und Menschen gegenüber. Geertz zeigt eine vor allem bäuerliche, aber keine tribale Gesellschaft, eine Gesellschaft, die zuerst nicht islamisch, sondern hinduistisch war, eine Zivilisation, die auf Fleiss gründete. Der Islam kam als Eroberer nach Marokko; nach Indonesien kam er nicht durch Krieger, sondern durch Händler. Geertz müht sich redlich mit einer Analyse des Zusammenhangs von Religion und Wirklichkeit ab und gewährt viele hilfreiche Ein-Sichten.
3. Der Christ kennt den Islam aus dem Vorurteil und weder aus der Koran-Schrift noch aus der Erfahrung und Tradition
Es gibt eine lange traurige Tradition, über Mohammed und den Islam abscheuliche Geschichten zu erzählen und abschreckende Bilder zu malen. Islam ist in vielen westlichen oder gewöhnlich christlichen Köpfen nichts als Greueltat, assoziiert mit Grausamkeit und Gewalt.
Bild-Ausstrahlungen beginnen mit Dantes «Göttlicher Komödie» (8. Gesang); jene dramatisch furchtbaren Schattenbilder bleiben durchs Mittelalter hindurch bis heute wirksam. Aus diesen Bildern sind Archetypen in unseren Seelen geworden. Zur Reinigung brauchte es eine Kollektiv-Psychoanalyse oder eine Kultur-Archäologie. Cox zeigt einige Bilder auf (3, S. 27-53).
Wort, Bann und Fluch gegen den Islam setzen mit Papst Urban II. zwischen 1088 und 1099 ein. Um innere Einheit wieder zu erreichen, brauchte er einen schrecklichen Feind von aussen. So wurde denn die Grausamkeit des Islam überhöht.
Doch auch auf islamischer Seite wurden in Erzählungen, Legenden und Mythen die Kreuzzüge isoliert und zum Stereotyp versteinert.
4. Viele Volks-Bräuche in der islamischen Welt sind nicht aus dem Koran, sondern aus der Überlieferung zu erklären
Keine heilige Schrift der Welt könnte so offenbart werden, dass jeder Mensch für jede Lage eine Antwort erhielte. So genügt der Koran lange nicht allen Erfordernissen des täglichen Lebens. Wie in den meisten Religionen wurden Traditionen und Gewohnheiten, Worte des Gründers und Vorbilder von Heiligen zur Hilfe geholt. Im Islam gibt es daher die Sunna, die Gewohnheiten des Propheten, und die Hadith, seine gesammelten Worte. Immer Neues spross am Baum, versuchte, vieles möglichst breit einzuschliessen, gab verschiedenen Strömungen ein legitimes Bett. Im 9. Jahrhundert befanden sich bereits Zehntausende von Mohammeds Worten im Umlauf. Bukhari (gest. 870) hat das Hadith-Werk gereinigt und das Glaubwürdige stehenlassen.
Daneben gab es die lmitatio Muhammedi: Es wurde überliefert, wie der Prophet sass oder ging, den Körper handhabte oder sich an- oder auszog. All das wurde nachgeahmt. Doch auch Mohammed stand in einer sehr konkreten Geschichte, die wiederum Traditionen zeugte. All das fasst sich in der Scharia, dem Gesetz, zusammen. Doch auch hier herrscht wieder Hilflosigkeit bei den Nichtgläubigen. Das Zweite Vatikanische Konzil erwähnt das göttliche Gesetz, die Scharia, nicht einmal. Genausowenig wie es Mohammed und den Koran erwähnt. Förmlich fühlt man die Hilflosigkeit der Konzilsväter. Doch wenigstens einen Schlusspunkt und ein Zeichen des guten Willens setzten sie. Die Christen sind herausgefordert; das Suchen miteinander hat noch keinen Morgen erlebt.
Die Behandlung der Frau oder die Beschneidung, die zu Mohammeds Zeit in der arabischen Halbinsel gang und gäbe war, hat auch er unreflektiert übernommen. Die Beschneidung (als ein Beispiel bloss) wurde nirgends im heutigen Sinn befohlen; es gab sie einfach. Ähnlich komplex ist das Verhältnis zur Frau. Manches wird auf Mohammed zurückgeführt, das heutige Quellenaufarbeitung und Geschichtswissenschaft leicht als Fälschung nachweisen können. Wenn gleich Bukhari in seinem Hadith-Werk die verschiedenen Worte Mohammeds kritisch überprüfte, war er doch sehr schwach in der Gewichtung der Worte über die Frau. Scheinbar kamen diesem grossen Geist solche Worte entgegen, und so liess er sie entweder stehen oder aber er glaubte an die Stimme des Meisters. Fatima Mernissi (7), eine marokkanische Soziologin, ist in ihrer unermüdlichen Arbeit über die Stellung der Frauen im Islam wie in der Geschichte der islamischen Welt auch der «Sexualität im vorislamischen Arabien» (7, S. 60-88) nachgegangen. Die Vorurteile fliessen bei Historikern selbst noch heute ein: «Erstaunlich ist, mit welcher Beharrlichkeit moderne arabische Historiker sich weigern, auch nur die Möglichkeit einzuräumen, dass es Praktiken, in denen die sexuelle Selbstbestimmung der Frau zum Ausdruck kam, gegeben haben könnte» (7, S. 61).
Manches ist in die «Gewohnheiten» (=Sunna) eingeflossen, das orts- und zeitbedingt war. Es müsste daher unter Menschen zu Streit um die Sunna kommen, wenn sie nicht zu einem Mittel des Kolonialismus oder der kulturellen Abwürgung und Unterdrückung werden sollte. Denn schliesslich konnte Arabien nicht der Nabel der Welt sein.
So werden verschiedene Formen und Lebensweisen des Islam gefunden, ohne dass die eine auf die andere verachtend herunterschauen könnte. Doch zu inneren Auseinandersetzungen kam es immer wieder. Islam bewahrt nicht etwa notwendigerweise vor Rassismus, Diskriminierung und Verachtung. Afrikaner könnten auch davon erzählen. Bereits im alten Mali-Reich unternahm Kaiser Kankan Mussa um 1324 die glanzvolle Wallfahrt nach Mekka, auch um den Arabern zu zeigen, dass die malischen Völker nicht «Allahs unfähig» sind und es nicht stimmt, dass «das gemeine Volk die hehre Lehre Allahs nicht verstehen kann».
5. Es gibt radikal nur einen Gott, nämlich Allah, jedoch viele Vorstellungen seiner Wirksamkeit in dieser Welt
Die einen Menschen nahmen das Praktische, das die Macht Ordnende und Erhaltende, wahr, andere waren vom Heiligen betroffen, unterwarfen sich ihm und gingen mit ausgezogenen Sandalen (Sure 20,12) einen sufitisch- mystischen Weg; die einen zogen in alle Welt, andere mehr ins dunkle Innere; die einen schrieben Allah atmend nach, die anderen bauten Monumente; einige begannen ein gewaltiges Gebäude von Recht abzuleiten, um Gerechtigkeit überall walten zu sehen, andere stammelten Koran-Silben bloss zum Hüten des Viehs, seiner Beruhigung und seines Wohlergehens wegen.
Genauso wie Geertz den kreativen Unterschied zwischen Marokko und Indonesien zeigt, so ging Uwe Topper «nur» den «Sufis und Heiligen im Maghreb» (11) nach, von den Anfängen im 8. Jahrhundert bis in die neueste Zeit, einer Mystik im Spannungsfeld zwischen Orient und Abendland. Immer wieder muss der Sozialwissenschaftler mit der Vielfalt fertig werden. Topper: «Die verwirrende Vielfalt der sufischen Wege hatte zur Folge, dass manche Erscheinung zum Sufismus gerechnet wird, die eigentlich - wenn es dafür eine andere soziologische Grundlage gegeben hätte - einen von der Mystik getrennten Bereich bildete. Hierzu gehören einerseits die volkstümlichen Riten an den Gräbern der hl. Scheichs, andererseits die Riten der Magie, Traumathurgie und Schicksalsbefragung...» Die religiösen Meister besässen einen sehr grossen Freiraum: Die sufischen Ideale wurden recht spontan entwickelt. «Heute spielt sich ähnlich frisches Erleben nur noch an den Rändern der islamischen Zivilisation ab», schreibt Topper (11, S. 25).
6. Wenn es im Christentum heisst, dass Gott Mensch geworden ist, dann kann es im Islam heissen: Allah wurde Schrift
Dreiundzwanzig Jahre lang soll der Engel Gabriel Mohammed, der nicht lesen und schreiben konnte, Offenbarungen übermittelt haben. Mohammed war nur der Empfänger dieser Offenbarungen, aufgezeichnet wurden sie von seinem Sekretär, dem er sie diktierte. Er war sich bewusst, dass Satan irgend einen Irrtum in seine Vorlesung einstreuen könnte.
P. N. Waage schreibt: «Und ungeachtet des chronologischen Chaos ist dieses Buch für die Muslims noch immer, was es auch für Muhammed war: die Offenbarung Allahs, Gottes eigene Schrift. Man könnte gewissermassen sagen, dass im Islam Gottes Wort, der Logos, Schrift geworden ist und nicht wie im Christentum Fleisch» (12, S. 84 und 97). Daher sei es eigentlich falsch, den Koran mit dem Evangelium zu vergleichen; man müsse das Buch Christus selbst gegenüberstellen.
Die Schrift ist derart wichtig, dass sie im Islam fast das Bild verdrängt hat. Was in anderen Religionen mit Symbolen, mit Kunst und Musik entweder erweckt oder ausgedrückt wird, vermittelt der Islam durch das Wort und die Schrift. Die kalligraphische Wiedergabe von Korantexten erreichte eine unvorstellbare Feinheit und Dichte: Sie wurde zur Votivkunst. Die verbale Rezitation, aber auch Mitteilung nimmt einen einzigartigen Platz ein. Sie ersetzt einen Teil der Musik.
Die islamische Kultur fand ihren Ausdruck in drei Sprachen, der arabischen, persischen und türkischen, die in ganz Südwestasien und Nordafrika vorherrschend waren. Auch wenn sie einander fernstanden, so haben sie kulturell zusammengefunden, einander belehnt, sich politisch durchmischt und denkerisch vereint. Daraus entstand eine neue Sprache. Auf diese muss bei einem Dialog Rücksicht genommen werden. Um sich einzuüben, kann Bernard Lewis' Essay über «Die politische Sprache des Islam» (6) gelesen werden. Lewis gehört zu den anfangs erwähnten Grossen der angloamerikanischen Islamistik, dem es gelingt, mit Wort- Deutungen mitten in den Vulkan mit den explosiven Eruptionen einzuführen.
Das Orale ist jedoch trotz der Schrift überall noch da. Es gibt denn auch die Schrift- und die Alltagssprache. In dieser Umgebung spielt Literatur eine wichtige Rolle. Hier hat aber auch das Gerücht seinen Platz. Unter vier Augen wird etwas gesagt und verbreitet sich in Windeseile. Bei dieser Überlieferung und Verbreitung sind Frauen zentral.
Welche Bedeutung das islamische Bilderverbot auf Psychologie, Erkenntnisvorgänge und einen Religionsdialog hat, wurde bis heute nicht ausgelotet. Vielleicht sind wegen des Bildermangels die Worte umso plastischer und dramatischer? Flüche aus diesem Bereich führen schon fast ein Eigenleben.
7. Der Islam ist genauso wenig neu wie das Christentum, das aus dem Judentum erwuchs. Der Islam ist ein Kind beider
Mohammed kannte sowohl das Christentum als auch das Judentum aus der alltäglichen Erfahrung. Theoretische Auseinandersetzungen mit den Schriften oder in theologischen Disputen fanden nie statt. Mohammed erlebte beide Religionen als korrupt, voller Spaltung und Überwucherung, beide mit irdischen Machtgelüsten und visionären Wahnvorstellungen. Das Christentum war seit Konstantin dem Grossen eine sakrale Ideologie geworden. Christus war als Pantokrator in weite Ferne gerückt. Im unendlich langen Homoiousios-Streit um Gleichheit von Vater und Sohn verschwand eine göttliche Verwandtschaft im Chaos der Zeit. (Etwas Zeit-Geschichte durch die Hintertür erhalten wir von Michel Clévenot: immer aus fünf- bis sechsseitigen Sequenzen, vergnügliche Meisterstücke.)
Der Islam trat (auch) mit dem Anspruch einer Korrektur des Christentums an. Die ersten Muslime klagten die Christen offen dessen an, was sie aus Jesu Verkündigung gemacht hatten. Der Islam wollte klar die Endgültigkeit des Christentums überbieten und die Geschichte des Christentums korrigieren. Hans Zirker schreibt in seiner Untersuchung über «Theologische Verwandtschaft und Konkurrenz» (13), dass auf diesem Hintergrund der Islam eine «wirkungsgeschichtliche Folge des Christentums» sei.
Die einander Nahen oder die auseinander Hervorgegangenen setzen sich nach oder befeinden sich. So hat sich das Christentum gegenüber dem Islam ähnlich wie das Judentum gegenüber dem Christentum verhalten. Beide duldeten keine Fortsetzung, Erweiterung oder neue Elemente. Sie verfeindeten sich bitter. Eine solche Geschichte und eine derartige Sprache erschweren eine wechselseitige Kommunikation zwischen den drei monotheistischen Religionen.
Diese Nähe und Wirkungsgeschichte müssen mutig, radikal und ehrlich hervorgeholt werden. Ein Dialog mit dem Islam darf nicht mehr länger unter den mit den nichtchristlichen Religionen eingereiht werden. Wir haben davon auszugehen, dass «unser und euer Gott ist einer» (Sure 29,46).
8. Der Islam ist wie jede Grossreligion ein Gemisch. Er müsste es sein, wenn er eine Antwort für Ost und West und eine Erneuerung des Judentums und des Christentums sein wollte
Der arabische Raum war ohnehin schon ein Schmelztiegel. Alle und alles vermischten sich hier im Laufe des Zusammenlebens. «Letztlich wurden alle zusammen ethnisch arabisiert», schreibt Nairn Stifan Ateek (1), der palästinensisch-christliche Befreiungstheologe. Arabisch ist nicht nur islamisch; arabisch sind auch Christen und Juden geworden. Doch - so Ateek - haben sich «religiöse Extremisten... der Stereotypisierung Gottes schuldig gemacht». Wenn es jedoch auf irgendeinem Platz dieser Welt zu einem Dialog kommen muss, dann in diesem Halbmond zwischen Persien, Arabien, Libanon, Israel und Palästina.
Wenn auch vieles mit Hilfe eines Dialogs analysiert und eingesehen werden kann, so hat der Dialog klar seine Grenzen im politisch-wirtschaftlichen Bereich. So müsste es letztlich keinen grossen Streit zwischen Islam und Judentum angesichts des identischen Gottesbildes und der Annahme aller Propheten (inkl. Jesus) geben. Der Streit geht hier eindeutig um Land; dieser Streit ist nicht religiös; er kann nur politisch gelöst werden. Das sind die Grenzen des Dialogs.
Wahrscheinlich ist sehr viel Konfliktstoff zwischen Islam und Westen nicht primär religiös begründet; er betrifft Macht-Wunden - herrührend von der Zeit der Kreuzzüge bis zum Kolonialismus. Imperialismus muss weg; Zeichen der Gerechtigkeit müssen her. Erst mit einer solchen Einstellung kommen wir mit viel Geduld zum gegenseitigen Vertrauen. Es wäre ein Traum, wenn es endlich bei den Muslimen nicht mehr heissen müsste: «Das Völkerrecht ist blond und blauäugig.»
Doch wie bei jeder ernsthaften Auseinandersetzung müssen beide Seiten ihre blauen Augen sehen. Auch der Islam hat im Fortgang der Geschichte Religion zu Imperialismus missbraucht. Auch islamische Araber haben etwa auf dem schwarzafrikanischen Kontinent Sklaven gejagt und sie schon seit dem 10. Jahrhundert bis nach China verkauft; und ebenso existierte auf dem afrikanischen Kontinent ein arabischer Kolonialismus. Gerade wo die Theologie eigentlich keine Trennung zwischen Kirche und Staat, zwischen regnum und sacerdotium zulässt, genau da muss mit besonderer Vorsicht in fremdes Land gegangen werden. Religion muss in der heutigen Welt radikal auch vor theologischem Missbrauch geschützt werden.
9. Wenn es schon nur einen Gott und keinen ausser Allah gibt, dann müssen immer wieder die ihn langsam ersetzenden Autoritäten entthront werden. Islam heisst Ergebung - und zwar für alle
Islam muss wieder alle alttestamentlichen Propheten ernst nehmen, denn diese sind im Koran integriert. Prophetisch bedeutet weder nationalistisch noch kolonialistisch. Der Prophet steht zum Knecht Gottes und tritt für die Gerechtigkeit ein. Vom Propheten fühlt sich das Volk nicht bedroht.
Mohammed kann mit Paulus verglichen werden: beide sind Apostel und Reformer; beide waren für die Heiden Propheten.
10. Der Islam begann als Befreiungstheologie. Doch wie jede Religion konnte auch er der Versuchung der weltlichen Macht nicht widerstehen
Christentum und Islam waren zu Beginn Religionen geknechteter Menschen und Völker, Religionen der Armen. Auf der Ebene dieses Selbstverständnisses könnten sich die zwei Religionen wieder finden. Um diesen Schritt zu vermögen, müssen sie in ihren Köpfen die Vorurteile langsam zerbrechen und zermahlen.
Kaum jemand wird den Islam als solchen, sondern genauso wie im Christentum die Gläubigen anklagen, entweder sich um die Religion nicht gekümmert oder sie missbraucht zu haben. Islamische wie christliche Religion spielten ein Doppelspiel. Man kann wohl weder dem Christentum noch dem Islam direkte Kolonisation vorwerfen, doch instrumental waren sie beide. Hier teilen sie miteinander ein schönes Stück der menschlichen Geschichte.
Niemand darf scheinheilig sich zurücklehnen. In Afrika etwa betrieb der Islam eine Handels-Kolonisation; der Sklavenhandel ging keineswegs an den Arabern, die islamisch waren, vorbei. Afrikas Inneres war seit dem 8. Jahrhundert voll von den arabischen Händlern abgeschirmt; sie kontrollierten den Kontinent, und sie kollaborierten mit den Europäern, die sich Christen nannten. Erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts entstand der Land-Kolonialismus.
Die heute sowohl dem Islam als auch dem Christentum einzig akzeptable Grundlage und Gemeinsamkeit im Dialog mit Völkern und Kulturen Afrikas und teilweise Asiens ist neben ihrem EINEN GOTT seine GERECHTIGKEIT und sein VERSTÄNDNIS. Die Glaubenden haben sie sich zu eigen zu machen: das ist die neue Mystik.
Jede Religion, die zum Terror wird, zur Rache aufruft, Mord, Totschlag und Krieg unterstützt oder schürt, verliert ihren Anspruch, eine Religion zu sein, gibt den Anspruch auf Ganzheit auf und ist nicht weiter fähig, Widersprüche zu ertragen. Damit wird sie sektenhaft, täuscht Harmonie vor, wo es keine gibt, teilt, entzweit, richtet und verdammt, bevor Barmherzigkeit eine Chance gehabt hat. Solch eine Religion macht sich selbst zum Gott und wird daher letztlich gotteslästerlich, zynisch und gottlos. Welche Worte auch immer einmal gebraucht wurden und was immer sie noch bedeuten konnten, wenn sie «heiligen Hass» oder «heiligen Krieg» meinten, half keine Exegese des Versteckens mehr; sie konnten fürderhin weder mit dem Wesen des Islam noch des Christentums etwas zu tun haben.
11. Islamische Tradition kennt und pflegt vier tiefe Anliegen: Frieden, Ruhe, Harmonie und Sachlichkeit. Dazu im Gegensatz stehen politische Bewegungen und/oder Fundamentalisten, die wütend, voller Frust und Hass, blind, hasserfüllt und rachsüchtig sind
Seyyed Hossein Nasr, Iraner, anglo-amerikanischer Islamist, stellte in achtzehn Kapiteln einige seiner Aufsätze, die stets um den traditionellen Islam in der modernen Welt kreisen, zusammen. Die Lektüre des Bandes «Traditional Islam in the Modern World» (Kegan Paul, London-New York 1987) ist ein Genuss. Ein Beitrag zeigt etwa, wie Islam sich in der Geschichte immer wieder mit vier Tendenzen auseinandersetzen müsste: mit Messianismus und Modernismus, mit dem oftmals verlorenen und verträumten traditionellen Islam und einem ungeduldigen, zornigen, einseitigen und ahistorischen Fundamentalismus.
Der Dialog mit dem Fundamentalismus ist unmöglich. Dieser ist keine theologischreligiöse Auseinandersetzung, sondern die Folge von politisch-wirtschaftlichen und sozio-kulturellen Missständen. Sehr oft bleibt der Fundamentalismus der einzige Fluchtort. Ab und zu kann es vorkommen, dass man sich mit dem Modernismus statt dem Fundamentalismus auseinandersetzen müsste; vor allem dann, wenn dieser die Folge einer unheiligen Modernisierung ist. Oft ist der Fundamentalismus bloss eine Instrumentalisierung von Machthabern, und selbst die Scharia wird zum Machtinstrument. Und noch eine Form dieses Fundamentalismus muss erwähnt sein: D. Khalid, ein Muslim und Entwicklungswissenschaftler, vergleicht den Islamismus (dieser sei das bessere Wort als Fundamentalismus) mit dem Nationalkatholizismus in Spanien und Portugal und schreibt ganz klar, dass «der Islamismus eine für die islamischen Länder spezifische Ausformung des Faschismus darstellt» (in seinem Aufsatz: Re-Islamisierung und Entwicklungspolitik, Weltforum, München 1982).
12. Wie die lange Geschichte ahnen lässt, kann mit dem Islam nicht einfach abstrakt dialogisiert werden. Debatten, Diskurse und Dialoge haben wenig und manche fast zum Verzweifeln gebracht. Es ging jedoch immer wieder, wenn zusammen etwas unternommen oder getan wurde
Ich denke an einige Beispiele: In Indien zur Zeit des Grossmogul Akbar, während der Hochblüte zwischen 1542-1605, wurde nichts von einem Menschen allein geschrieben und gebaut, gemalt und gedichtet, immer waren zwei religiöse Vertreter daran mitbeteiligt. In einigen Gegenden und Städten Andalusiens - vor allem um und in Granada bis 1492 - arbeiteten Muslime, Juden und Christen im Geist brüderlicher Toleranz zusammen; es wurde gemeinsam gebaut, geforscht und gelebt. Ähnlich verhielt es sich in der französischen Kolonialzeit im Sudan - vom Begründer der Weissen Väter, Kardinal Lavigerie, bis zur schönsten Blüte mit Charles de Foucauld.
Arabische Denker haben dem Westen griechische Wissenschaft, Bildung und Philosophie im Mittelalter vermittelt. Die Blüte der Scholastik unter Thomas von Aquin wäre ohne die arabische Vermittlung unmöglich gewesen. Islamische Denker des Mittelalters waren weltoffen und realitätsbezogen, von einem einmaligen Erkenntnisdrang erfasst, klebten weder an Dogmen des Koran noch an einer religiösen Überlieferung. Sie halfen mit, die abendländische Aufklärung einzuleiten.
Ernest Gellner, Professor der Anthropologie in Cambridge, einer der grossen Deuter der islamischen Welt, sieht des «Islam Krise» in der Auseinandersetzung mit der Moderne begründet. Eine Religion der Ganzheit wird immer weniger vom Rand her mit nomadisierenden und tribalistischen Elementen durchsetzt und belebt. (Man vergleiche die spannende Studie von Topper und weiss, was Gellner meint.) Islam wird immer mehr zur Stadt- und Schriftreligion. Gellner: «Der städtische Schriftgelehrte siegt über den anarchischen Heiligen und verdrängt ihn... Islam kennt keinen Klerus, besitzt nur wenig authentische Rituale, ist im Kern sehr egalitär: er steht jedem offen. Doch nun kommen die modernen Gelehrten und Intellektuellen, die vom Ansatz dieser Wissenschaft her teilen und trennen, segmentieren und partikulieren müssen. Sie tun das vorderhand technokratisch versteckt, doch steht immer die Angst einer Verweltlichung oder Verwestlichung vor der Tür.» Gellner glaubt jedoch an die Modernisierung des Islam, denn «dieser versteht sich auch mit einer modernen Gesellschaft». Den Weg der Säkularisierung müsse er nicht genauso gehen wie der Westen. Doch auf eine so lebendige Auseinandersetzung sieht er zu wenig Menschen auf beiden Seiten vorbereitet. Der islamische Professor Elmandjara schrieb in einem Aufsatz über «Die Verehrung des Erbes und reaktionäre Bewegungen»: «Die Überreste der Vergangenheit sollen bewahrt, verstanden und geehrt, aber niemals angebetet werden... Das einzige heilige Erbe ist die Zukunft.»
Literatur
Folgende deutschsprachige Bücher (alle noch im Buchhandel) können empfohlen werden (man beachte die Grosszahl der Übersetzungen):
- Nairn Stifan Ateek: Recht, nichts als Recht! Entwurf einer palästinensisch-christlichen Theologie. Aus dem Amerikanischen. Edition Exodus, Brig-Luzem 1990.
- Michel Clévenot: Das Auftauchen des Islam. Geschichte des Christentums im VI.-VIII. Jahrhundert. Aus dem Französischen. Edition Exodus, Brig-Luzem 1990.
- Harvey Cox: Göttliche Spiele. Meine Erfahrungen mit den Religionen. Aus dem Amerikanischen. Herder, Freiburg 1989.
- Clifford Geertz: Religiöse Entwicklungen im Islam. Beobachtet in Marokko und Indonesien. Aus dem Amerikanischen. Suhrkamp, Frankfurt 1988.
- Adel Th. Khoury: Was ist los in der islamischen Welt? Die Konflikte verstehen. Herder, Freiburg 1991 (2. Aufl.).
- Bernard Lewis: Die politische Sprache des Islam. Aus dem Amerikanischen. Rotbuch Rationen, Berlin 1991 (2. Aufl.).
- Fatima Mernissi: Geschlecht, Ideologie, Islam. Aus dem Französischen. Frauenbuchverlag, München 1987.
- Annemarie Schimmel: Der Islam, Eine Einführung. Ph. Reclam jun., Stuttgart 1990.
- Annemarie Schimmel: Mystische Dimension des Islam. Die Geschichte des Sufismus. Aus dem Amerikanischen. Diederichs, Köln 1985.
- Bassam Tibi: Die Krise des modernen Islams. Eine vorindustrielle Kultur im wissenschaftlich-technischen Zeitalter. Suhrkamp TB Wissenschaft, Frankfurt 1991.
- Uwe Topper: Sufis und Heilige im Maghreb. Diederichs Gelbe Reihe, München 1984/1991.
- Peter N. Waage: Wenn Kulturen kollidieren. Islam und Europa - Das Phänomen Salman Rushdie. Aus dem Norwegischen. Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 1991.
- Hans Zirker: Christentum und Islam. Theologische Verwandtschaft und Konkurrenz. Patmos, Düsseldorf 1989.
&&&
Al Imfeld© Neue Wege 1992 Heft 2