Gantry 5

Afrika im Umbruch


Verschweigen als «Ablösung des Rufmords»

1960 wird heute in Geschichtsbüchern bereits als «das Jahr Afrikas» bezeichnet. 17 Kolonien wurden damals unabhängig. Afrika stand zum ersten Mal längere Zeit in der westlichen Presse; Afrikas Befreiung und Aufbruch wurden freudig begrüsst. Die schwarzen Menschen auf dem afrikanischen Kontinent erhielten Sympathie- und Solidaritätsbekundungen: «Gut Glück und beste Wünsche für die Zukunft!» Parallel dazu befand sich in den USA die Bürgerrechtsbewegung unter Martin Luther King auf dem Höhepunkt ihrer Erfolge. Es kündigte sich Hoffnung für Schwarze an.

1991 müsste ein anderes Jahr Afrikas sein: Doch wird der Umbruch dieses Mal totgeschwiegen. Kaum wird bei uns ein anderes Afrika wahrgenommen. Diktatoren treten von sich aus zurück. Autokraten werden vom Volk massiv unter Druck gesetzt. Die alte, fast magische Angst vor der Macht scheint verflogen zu sein. Hunderttausende marschieren für Demokratisierung seit Monaten in den Städten Madagaskars und Kameruns, ohne dass von uns wie damals bei der DDR mitgefiebert wird. In mindestens zehn Staaten werden nationale Konferenzen entweder verlangt oder abgehalten, um politische Formen oppositioneller Regierungsbeteiligung zu finden. Die «table ronde» ist bereits ein gängiger Begriff geworden. So auch der Begriff von der toten Stadt, wenn regelmässig, jede Woche einmal, die Hauptstadt lahmgelegt wird, kein Geschäft und Markt offen bleiben, der Verkehr stillsteht und gestreikt wird. Diese Methode ging von Congo aus, griff auf Kamerun über, wurde auf Madagaskar kopiert, in der Côte d'Ivoire und in Togo ausprobiert. Der neue Wind hat starre Fronten sich wandeln lassen: in Äthiopien, wo sogar ein unabhängiges Eritrea möglich wird; in Marokko, wo König Hassan ein Referendum in der Westsahara nicht länger verhindern kann; in Südafrika, wo ein ehrlicher, wenn auch harter Kampf um politische Beteiligung und Abbau der Apartheid im Gang ist. Auch für Angola gab es eine vorläufige Lösung. Verhandlungen für einen Frieden finden in Moçambique statt...

Fast eine Idylle: Der Ex-Diktator der Kapverden, Aristide Pereira, sitzt anfangs August für eine Woche im Unterholz mit der europäischen Kooperative Longo Mai in der Provence beim 2. Treffen des Europäischen Bürgerforums (4.-11. August) zusammen. Fast ovidisch. Doch dafür haben die Medien heute kein Gefühl und Empfinden mehr. Genau das war eine der wichtigen Forderungen von Pereira und anderen afrikanischen Politikern: «Geld ist nicht das Wichtigste. Zuerst brauchen wir euer Interesse, um zu wissen, dass wir noch zur Welt gehören... Zu Veränderungen im Inneren braucht es die Sympathien von aussen.»

Doch bei uns sieht und hört man nichts von diesen wichtigen Vorgängen und dem Ringen, um aus der Verzweiflung herauszukommen. Täglich gibt es auf dem Kontinent und den dazugehörenden Inseln mindestens einen wichtigen oder bedeutsamen Vorgang, den auch wir zur Kenntnis nehmen sollten. Doch das Verschweigen, so der Literaturnobelpreisträger Wole Soyinka Ende Juli, «ist die Ablösung des Rufmords... Du bist - wie an der Börse - einfach nicht mehr kotiert...» Afrikanische Menschen können das Ver-Schweigen nicht verstehen. Soyinka: «Bloss noch Sensationen wie z.B. die Wiedergutmachung, die ohnehin intellektueller Masochismus ist, irrelevantes Geplänkel für uns, werden in Europa zur Kenntnis genommen. Ihr im Westen wie wir in Afrika müssen mehr auf den Boden der Realität heruntersteigen.»

 

Summarische Bestandesaufnahme wichtiger Vorgänge

So klein die Staaten Kapverde und Sao Tome & Principe sein mögen, ihre Demokratisierung hat einen Flächenbrand ausgelöst. Selbst wenn es für Europäer unglaubwürdig klingt, auch Pereira, der am 17. Februar friedlich abgewählt wurde, ist überzeugt, dass «es ein wichtiger Ausgangspunkt für den Rest des Kontinents» war.

Das Fieber des Aufstands und der Ausbruch des Volkszorns griffen auf Benin über. Die Kirchen vermittelten und übernahmen aus der DDR die Idee von Treffen am runden Tisch. In dem Moment, da Diktator Matthieu Kérékou sich in die Runde setzte und das Volk nicht mehr frontal wie ein General vor sich hatte, war die Magie der Macht gebrochen. Er erlaubte Wahlen, wurde am 24. März abgewählt und respektierte den Volksentscheid. Der Weltbankbeamte Nicéphore Soglo wurde gewählt. Das Volk wollte keinen Ideologen mehr.

 

Die frankophonen Länder

Das Lauffeuer ging weiter und griff auf die gesamte afrikanische Frankophonie über: Zaire, Zentralafrikanische Republik, Togo, Gabon, Côte d'Ivoire, Kamerun etc. Das Volk wusste jetzt, dass ein Umbruch möglich war: Das war die Botschaft von Kapverde und Benin. So kamen nun in ganz Westafrika Forderungen nach einer Demokratisierung hoch.

Ganz vehement wehte der Wind im Sahel. Dort war im Tschad Ende 1990 eine Puppenregierung zusammengebrochen. Dieses Vorbild - zusammen mit den Signalen von Benin - gab den Massen in Mali den nötigen Ansporn. Seit Oktober 1990 hatten sie die Absetzung des Potentaten Moussa Traoré, eines verlorenen Freundes der DDR und bis in die siebziger Jahre der marxistischen Linken, gefordert. Dieser jedoch gab nicht nach. So müsste er am 26. März blutig gestürzt werden. Doch zur Ruhe ist Mali seither immer noch nicht gekommen: Demokratie kommt nicht über Nacht. Am 15. Juli kam es erneut zu einem Putschversuch. Der neue Präsident Touré wird wirklich bloss ein «Übergang» bleiben.

In den Staaten Niger und Burkina Faso knistert es ganz schön im Gebälk. In Burkina gab Blaise Compaoré dem Druck nach und setzte sich am 11. Juni mit Oppositionsgruppen zusammen. Es kamen mehr, als er erwartet hatte. Um bestimmte Fraktionen auszuschliessen, definierte er selbst, was Opposition sei. Lauter Tricks, mit denen er früher alle leicht ausmanövriert hätte. Der Druck liess jedoch nicht nach. Es brauchte ein neues Zückerchen. Unglaublich: Er entschuldigte sich für den «tragischen Unfall» von Thomas Sankara.

Dieses Beispiel ist typisch für andere hartgesottene Diktatoren und Autokraten, etwa für General Gnassingbe Eyadema in Togo (19 Jahre an der Macht), Präsident Sassou Nguesso in Congo, Präsident Paul Biya in Kamerun und natürlich den ältesten aller Füchse, General Mobutu Sese Seko, der seit 27 Jahren in Zaire seine Macht geniesst. In all diesen Ländern herrscht seit Mai dieses Jahres politische Hektik, teilweise gar Chaos. Das Volk ist aktiv und hält nicht mehr zurück. Die Herrscher sind nervös und versuchen mit viel Verschlagenheit ihre Rettung. Theoretisiert wird kaum. In aller Mund sind dagegen die Chiffren «Opposition», «Demokratie» und «Menschenrechte». Es geht um einen Machtkampf von der Strasse her, wo die Menschen ausgehungert und ausgeblutet sind. Das Magazin «Jeune Afrique» bezeichnet diese Demokratisierungskampagne als nichts anderes denn als eine «Abstimmung mit dem knurrenden Magen» oder an anderer Stelle als «eine Meinungsbefragung derer, die nichts mehr haben» - ein Bild der Verzweiflung.

 

Die anglophonen Länder

Das Fieber greift auch auf die anglophonen Länder Afrikas über, doch hier ist den Volksbewegungen bis jetzt wenig Erfolg beschieden. Der larmoyante Kenneth Kaunda in Zambia rettet sich immer wieder mit seinen Tränen und den Truppen. Von Kamuzu Banda in Malawi heisst es zynisch im Volk, dass er «das Wunder vollbracht habe, schon auf dieser Welt in die Ewigkeit einzugehen». In Kenya überlebt Präsident Daniel arap Moi mit aller Gewalt: Auf Opposition will er nicht eingehen. Politische Repression und wirtschaftliche Rezession haben ein ehemaliges Musterland (so nannte es der Westen) kaputtgemacht. Selbst in Zimbabwe ist der Heiligenschein von Robert Mugabe am Abblättern. Symbolisch ist etwa, dass Ndabagindi Sithole, der erste aller Befreiungsführer, lange im Gefängnis, dann mit einer ähnlichen Entwicklung wie Savimbi, aus den USA nach Zimbabwe heimkehrt.

Eine eigene Kategorie bilden die Länder Uganda, Tansania, Rwanda und Burundi. Vergangene Bürgerkriege oder eine beinahe totale Verelendung haben den Völkern den Glauben an Politik genommen. Ihr Interesse gilt dem eigenen lokalen Überleben. Politische Parteien im westlichen Sinn sind fast unvorstellbar, es gibt bloss regionale und lokale Interessengruppen. Ein Mehrparteiensystem könnte gar zur Auflösung des jetzt existierenden Nationalstaates führen.

Im anglophonen Westafrika schleppt sich der Demokratisierungsprozess nur sehr mühsam und verwirrend dahin. In Ghana flieht Jerry Rawlings in die Aussenpolitik und besuchte anfangs Juli drei Tage lang Paris. Selbst wenn er sich um interne Reformen bemüht, besitzt er kaum mehr Glaubwürdigkeit bei einem Grossteil der Bevölkerung. In Nigeria will sich die Militärregierung selbst langsam entlassen. Präsident und General Babangida hat wie aus dem Reagenzglas zwei Parteien auf Papier gezaubert: die eine etwas rechts, die andere ein bisschen links, nach dem US-Modell von republikanisch und demokratisch. Eigentlich glaubt niemand an einen Erfolg. Doch fairerweise muss gesagt sein, dass kaum tragbare Gegenvorschläge vorhanden sind. Das Land ist angesichts seiner Grösse und Disparität mit einem westlichen Demokratiemodell nicht zu regieren. Die liberianische Tragödie eines schrecklichen Bürgerkriegs ist noch immer nicht beendet: Zwei Warlords kämpfen um Macht, aber nicht um Demokratie. Zusammen mit Sudan und Somalia müssen diese drei Länder momentan zu den politisch unglücklichsten gezählt werden.

Mauritius verfügt über die einzige länger funktionierende Demokratie. Namibia könnte sich in den Erfolg einreihen. Der Anfang lief ordentlich; doch ist es verfrüht, um zu urteilen. Senegal, Gambia und Botswana geben sich zwar als Mehrparteiensysteme aus, de facto sind aber alle drei von einer Einheitspartei kontrolliert. Andere Parteien haben beim jetzigen System bei Wahlen nie eine Chance.

 

Vorläufige Analyse des Wandels
Folgen eines bipolaren Weltsystems

Afrikas Einparteiengebilde sind zum Teil die Folge eines bipolaren Weltsystems gewesen. Ein afrikanisches Land hatte sich zwischen Ost und West zu entscheiden. Pluralismus wäre vom Westen als Instabilität gedeutet worden. Mit dem Ende des Kalten Krieges ist für Afrika eine Lockerung und damit eine Chance eingetreten. Die Veränderung auf Weltebene ermöglicht Veränderungen auf dem Kontinent. Doch es fehlen denkerische Aufarbeitungen und Vertiefungen; es fehlen Erfahrungen. 30 Jahre lang wurde bloss mit Slogans gegen den Westen oder gegen den Osten und dem Gejammer über den Kolonialismus PseudoPolitik gemacht. So war eigentlich nur Negatives die Klammer der Einheit, allerdings auch die Klammer der Einheitspartei und Diktatur.

Symptomatisch war die Rolle Südafrikas als Sündenbock bei der gesamten Politik der Organisation für Afrikanische Einheit (OAU). Noch der jüngsten Konferenz (3.-6. Juni) in Nigerias neuer Hauptstadt Abuja gab das Südafrikathema die Klammer, nahm die meiste Zeit weg, und alle taten sich schwer, von alten Klischees wegzukommen. Über die gegenwärtigen Umbruchprobleme wurde nicht diskutiert, denn zuviele unter den anwesenden Staatschefs stehen vor dem Fall. Biya, Eyadema und Rawlings verliessen die Konferenz vorzeitig, weil zuhause das Volk rebellierte. Dabei wäre der neue Ersatz-Tagungs-Ort anstelle des eben von den Widerstandstruppen gegen Miriam Mengistu eingenommenen Addis Abeba sehr symbolträchtig gewesen. Zwei An-Zeichen einer neuen Zeit konnten dennoch en miniature beobachtet werden. Zum ersten Mal kamen nur noch zwei in Uniform, nämlich Rawlings und Babangida. Der Mann aus Mali kam als einziger zu Fuss vom Hotel zur Konferenz.

Die seit 1957 entstandenen Nationalstaaten Afrikas stehen wieder am Anfang. Fragen kommen auf, ob in der Kolonialzeit künstlich zusammengewürfelte Gebilde als Nationen im Geist des 19. Jahrhunderts noch eine Überlebensmöglichkeit haben. Vielleicht muss sachlicher einfach nach einem föderativen Staatsgebilde und nicht mehr nach einer verordneten Nationalstaatlichkeit gesucht werden. Das nation-building im traditionell betriebenen Sinn steht am Ende.

 

Widersprüche zwischen Kultur und Ökonomie

Alleingelassen von aller Welt (wie ausgerechnet die Politiker klagen) und mit einer neuen Generation voller Fragen und Wünsche ist die verhängnisvolle alte Einheit am Ende. Der Politologie-Professor Ali Mazrui (10 Jahre an der Makarere-Universität in Uganda und 15 Jahre an der Universität Michigan, USA) wagte anfangs Juli in Nigeria eine Analyse der «afrikanischen Krankheit» und meinte, dass die Politik sich zu sehr an «kultureller Ideologie (z.B. ethnische oder rassische Identität, religiöse Zugehörigkeit, afrikanischer Nationalismus)» orientiert und dabei nie auf Klassen und Wirtschaft aufgebaut habe. «Afrikas Politik muss sich mehr an wirtschaftlichen statt an kulturellen Leitideen orientieren.» Er verweist auf die Tatsache, dass aus Schwarzafrika einige brillante Beamte und Funktionäre stammen, die in multilateralen Organisationen der UNO oder der Weltbank, aber auch auf Entwicklungsbanken mit viel Erfolg arbeiten. Vielleicht konnten sie das, meint er, weil sie notwendigerweise den «Kulturraum» verlassen und wirtschaftlich sich orientieren müssten. «Afrikas Politiker haben auf kulturelle Signale geantwortet, nicht aber auf wirtschaftliche. Als Beispiel möchte ich Odinga Oginga (Kenya) oder Obafemi Awolowo (Nigeria) nennen.» Odinga als Luo hat sich gegen Kenyatta, den Kikuyu, gestellt und ging dafür ins Gefängnis. Ähnlich in Nigeria der Yoruba Awolowo. Doch beide sind Tribalisten, d.h. einseitige Nationalisten. Und das bedeutet im westlichen Sinn keine eigentliche Oppositionspolitik.

Zu ähnlichen Erkenntnissen kommt Adebayo Adedeji, der nach 16 Jahren eben als afrikanischer Exekutiv-Sekretär der UNO-Wirtschaftskommission (UNEC) in Pension geht. Er stellt fest, dass nach seiner langen Erfahrung «afrikanische Politiker glaubten, ohne Wirtschaft Politik zu machen», und selbst Entwicklungspolitik sei stets nur ideologisch als «kolonialer Sühneakt» verstanden worden. Er als scharfer Kritiker der Strukturanpassungsprogramme des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank gibt Afrikas Politikern oder Regierungen viel Schuld: «Sie waren unfähig, die Interessen des Volkes wirtschaftlich zu vertreten. Es fehlte ihnen jegliche ökonomische Einsicht... Sie handelten meist emotional und ideologisch, jedoch kaum faktisch und schon gar nicht argumentativ.»

Etwas von diesen Widersprüchen zwischen «Kultur» und «Ökonomie» kommt bestens an den Tag in zwei Büchern aus Ghana: Der bekannte Dichter und heutige Diplomat Kofi Awoonor geht in seinem Buch «A Political History of Ghana» (Accra 1990) die Probleme kulturell und spirituell an. Er verteidigt Rawlings und ist skeptisch gegenüber «westlicher Demokratie». Er plädiert für die Wiedereinführung und Erneuerung der politischen Traditionen seines Landes. Der 1951 geborene Ökonom Ebenezer Mireku geht viel realistischer an die Fragen heran. In seinem Buch «Which Way Ghana?» (Accra 1991) verteidigt er zwar ebenfalls das reiche kulturelle Erbe Ghanas, geisselt den westlichen Materialismus und einen unbrauchbaren rein quantitativen Entwicklungsbegriff, doch fordert er mehr Flexibilität, Variation der Traditionen, Experimente mit der traditionellen Grossfamilie in Wirtschaftsverbänden, dabei jedoch mehr wirtschaftliche Freiheit des einzelnen, Initiative, die nicht dauernd von Verwandten zunichte gemacht werden kann, Disziplin, ein Lernen von Planung und Management. Das Buch ist eine faszinierende Fundgrube und eine erste seriöse politökonomische Auseinandersetzung. Beide Bücher stehen für eine Selbstbesinnung.

Auch in Nigeria gibt es in der reichhaltigen Presse neue Stimmen, die die eigenen Leute herausfordern. Zwei wichtige Stimmen sind der Schriftsteller, TV-Produzent und All-round-business-Man Ken Saro-Wiwa und der Historiker und Journalist Naiwu Osahon, der zur zynischen Überzeugung gelangt: «We love being slaves». Afrikas Menschen haben sich derart ans Sklavendasein assimiliert, dass sie keine Initiative mehr entwickeln, Herren nachrennen, Götter in den Himmeln hoch über sich verehren... Beide beteuern, dass Wirtschaft nicht mit Deklarationen, sondern mit Handlungen zu tun habe. Ohne Privatinitiative sei auch keine Demokratie möglich. Beide glauben, die Ursache der Krankheit Afrikas im Mangel an Einzelinitiative und (somit) im Fehlen eines Mittelstandes zu sehen. Es sei auch nicht zufällig, dass überall in Afrika das Militär so geliebt werde - ganz anders als beim Volk in Lateinamerika. «Afrikaner handeln mit Vorliebe auf Befehl; sie sind es inzwischen gewohnt, nur auf Druckknopf hin zu reagieren» (Osahon).

 

Woher kommen die Demokratinnen und Demokraten?

Hinter der Demokratiebewegung im heutigen Afrika stehen verschiedene Kräfte:

  1. Durch die ganze Geschichte hindurch haben Dichter und Schriftsteller die Ideen der Menschenrechte und der Demokratie aufrechterhalten. Als zentrale Gestalten - und stellvertretend für viele andere - seien genannt: Wole Soyinka, Nadine Gordimer, Breyten Breytenbach, Ama Ata Aidoo, auf ihre Art und als Symbolgestalten auch Ngugi wa Thiong'o und Mongo Beti.
     
  2. Als erstaunlichste Kraft in der Vermittlung erweisen sich die christlichen Kirchen. Fast alle katholischen nationalen Bischofskonferenzen haben seit 1989 einen «politischen» Hirtenbrief veröffentlicht. Kenner meinen, alles zusammengenommen zeichne sich darin eine erfreuliche Modellentwicklung des politischen, ökonomischen und kulturellen Zusammenlebens ab. Die nationalen Kirchenräte, die in Afrika fast selbstverständlich ökumenisch zusammengesetzt sind, haben die «tables rondes» organisiert, haben vermittelt und Ideen entwickelt. Die Kirchen waren der Schlüssel zur Veränderung von Benin bis zur Zentralafrikanischen Republik, von Madagaskar und Kenya bis Kamerun und sogar Mali. Warum ausgerechnet die christlichen Kirchen? Weil sie gelernt haben, zwischen zwei Welten zu stehen, behauptet der schwarze Erzbischof von Jaunde.
     
  3. Ganz schwach in dieser Bewegung steht die Gewerkschaftsbewegung da, denn sie ist zu eng mit dem Einparteienstaat verknüpft gewesen. Im soeben in Botswana zu Ende gegangenen Kongress afrikanischer Gewerkschaften wurde sehr viel Selbstkritik geübt und eine radikale Trennung zwischen Regierung und Gewerkschaften verlangt.
     
  4. Aus den afrikanischen Genossenschaftsbewegungen kommen relativ wenig Impulse. Es zeigt sich erneut, dass die Idee Afrika viel zu wenig angepasst und eher eine Mittelklasseangelegenheit war. Wer Geld zu verlieren hat, bleibt beim Status quo, auch wenn er ihn nicht liebt.
     
  5. Aus dem Hintergrund treten sehr stark die Frauen hervor - in Westafrika vor allem die Marktfrauen. In Ghana wurde eben wieder einmal darauf verwiesen, wie Kwame Nkrumah den Marktfrauen den kapitalistischen Geist austreiben wollte und dabei schmählich gescheitert ist. In Westafrika haben diese Frauen untereinander regen Austausch. Sie fliegen zu den Märkten in den verschiedenen Ländern zum Einkauf. Dabei werden sie zu Trägerinnen von Informationen.
     
  6. Wichtig sind selbstverständlich auch die Studenten, denen es schlecht geht, die hoffnungslos vor der Zukunft stehen, voller Frustration sind, aber auch nicht ernst genommen werden. Sie protestieren und lösen etwas aus. Doch meistens werden sie heimgeschickt und leben dann verstreut auf dem Lande.
     
  7. Die Medien spielen ausser in Nigeria keine wichtige Rolle. Fernsehen und Radio sind ohnehin in staatlicher Hand. Für Zeitungen und Magazine fehlt das Geld. Wichtig jedoch sind die in Paris und London publizierten Zeitschriften («Jeune Afrique» und mehr noch «West Africa»). Anstelle der Medien vermitteln Gedichte und Protestmusik den Geist des Aufstands. Der Einfluss z.B. von Bob Marley und Fela Kuti lässt sich nicht genau ermessen, aber ist wohl enorm wichtig unter einer jüngeren Generation.

 

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Al Imfeld©    Neue Wege    1991    Heft 10