Max Frisch
Persönlich und exemplarisch
Einfach MF nannte ich ihn; er mich AI: wie zwei Amerikaner untereinander. Im amerikanischen Sinn der Verkürzung? Wohl eher als Initiierte, die nachher im Anderen nicht die Distanz, sondern die Rückseite sehen. Wie erwartungsvoll Eingeweihte und kurz darauf Ernüchterte. Frevler, die auch Initiationen zurückbuchstabieren. Zweifler, die nach jeder Einweihung in sowohl angstvoll als auch mit Spannung erwartetes Anderes zu fragen beginnen, wo denn nun - ausser in der Ein-Bildung oder im Glauben - dieses Andere wohl war? Anders - nur wegen einer ritenhaften Auftürmung in Geschichts- und Gebetbüchern? Anders - nur weil andere (auch) ihre Reiche haben wollen? Anders - so wie es beständig neue Staaten, neue Schweizen, neue USAs gibt, damit sich das bereits grausam Gewöhnliche wiederhole? Das Andere nichts als der reale Vorhof einer Danteschen Hölle? Das Andere so stets gleich, dass es keinen Unterschied zwischen dem Fichenstaat Schweiz und dem Reagan-Bush-West gibt? Oder doch das Andere als unser Reich der Mythen; Akazien westwärts gesehen?
MF trat 1953 in mein Leben ein, als ich ungefragt und daher unerlaubt (so war es damals) ins Stück «Don Juan oder Die Liebe zur Geometrie» ging und dann im Geist des Schuldbekenntnisses im schulinternen Bulletin der Marianischen Kongregation meinen ersten Artikel schrieb. Was ich schrieb, weiss ich nicht mehr. Das Entscheidende jedoch ist, dass ich mich daran erinnere und ich bis heute - ungefragt-ungesagt - MF als meinen geistigen Vater sehe. Sein Leben lang gelang es ihm, andere zum Reden und Schreiben zu bringen; sie anzuspornen oder herauszufordern, sich selbst auszudrücken, statt unterdrückt oder verknorzt als Kropf oder Krüppel zu erdulden. Daher hat sich MF wie einst im Mythos Brot und Fisch vermehrt und ist bis heute eine Welt mit vielen Biographien. Er stiess an, und was er alles angestossen hat, wird nie zu erfahren sein. Doch genau das wird sein Weiterleben ausmachen. Er lebte in der Zeit, wo Menschen erfahren müssten, was atomare Verstrahlung über Generationen hinweg anrichten kann. MF wird auch über Jahrtausende hinweg ausstrahlen, jedoch positiv, da er so vieles angelegt hat. Niemand sehe hinter MF bloss ein literarisches Werk. MF ist eine Chiffre. Weil er vielschichtig und vieldeutig lebte, wird er in Tausenden von erdgeschichtlichen Schichten weit übers Holozän hinaus leben und immer wieder neu gedeutet werden dürfen.
Er kam und trank mit anderen zusammen. Er zeigte sich, um jemand zu finden, mit dem er diskutieren konnte. Er stieg ein und ging zusammen ein Stück des Weges. Er stieg herab zu den Ich-bins. Fragend. Neu fragend. Nachfragend. Hinterfragend. Doch nicht zu Tode oder bis zur Verzweiflung fragend. Einmal müsste die Frage in Leben umgesetzt und darin ausprobiert werden. Er führte lebendig die Aufklärung weiter. Er führte sie sokratisch weiter und vermehrte sich in den geistig gezeugten Mit- und Weiterfragenden.
- Es ist exemplarisch, dass er sich mit Verve hinter die Gründung der «WoZ» (Wochenzeitung) vor genau zehn Jahren stellte, und es ist daher nicht zufällig, dass in dieser «WoZ» am 15. März sein vorderhand letzter, von ihm diktierter und erst am Tag darauf (wegen Erschöpfung) signierter Text steht.
- Es ist exemplarisch, wie er mit der «GSoA» (Gruppe Schweiz ohne Armee) war und dieser Bewegung seinen Geist einhauchte, ohne sie zu seinem Kind zu machen, wie er als ein Symbol dazwischenstand, ohne andere Zeichen zu vereinnahmen, und wie er etwas von seinem Erbe der «GSoA» veräusserte und das «Palaver» entstehen liess, an dem sich die Literaturwelt bis zum Tode störte und schämte.
- Es ist exemplarisch, dass er fast wie ein Aktionskünstler oder tastend im Geist der Arte Povera zum Boykott der offiziellen 700-Jahr-Feier stand. Und wie er für diese Lauterkeit geplagt wurde! Die Offiziellen müssen in ihm den Ursprung des ganzen schweizerischen Übels, aller Schatten und Flechten gesehen haben; und so wollten sie ihn unbedingt zur Kirche und an den Altar bringen. Wahrscheinlich wäre es ihnen eine grosse Genugtuung gewesen, wenn sie MF zu Fall, entweder ins Zelt oder aufs Rütli gebracht hätten. Der Sündenbock, der stellvertretend für alle anderen vertrieben oder geopfert werden muss. So begriffen ihn einige. Für andere stand er (ebenfalls) als ein Symbol der wie demokratisch bestimmten oder abgeordneten Stellvertretung. So akzeptierte sich auch MF; er begriff sich oft bloss als ein «Bin», stellvertretend oder exemplarisch. So ist es wie ein Vermächtnis, wenn im erwähnten letzten Brief steht: «Oder dürfte es auch ein Flüchtling sein, der unser Land hat verlassen müssen?»
Nur der Mensch geht wirklich mit anderen Menschen denselben Weg zusammen, der sich der anderen weder schämt noch das Gefühl der Herablassung oder der Selbstaufgabe hat. Er war Demokrat. Er mag als ein im schweizerischen Rahmen erneuerter Alexis de Tocqueville gesehen werden.
Entdecken wird ihn wohl erst eine kommende Generation als neuen Ahnen der meisterhaften Verbindung von Politik und Poesie (auch wenn er nie ein Gedicht schrieb), von wieder erweckter oraler Literatur, die immer spärlicher in eine geschriebene übergeht, und von einem Fragen, das zunächst und lange Zeit ein mündliches Fragen bleibt, bis es schliesslich zu einem Text wird, der wiederum zu einem neuen Convivium oder Theater-Spectaculum führt.
Dabeisein, mit anderen zusammensitzen, so die Nacht gemeinsam erleben, von einem anderen Morgen träumen... War das Illusion? Gibt es kein anderes Morgen, keine andere Schweiz, keine Schweiz ohne Armee? Gibt es nur eine Wiederkehr des Gleichen? Doch wenn schon, dann versuchte MF mit immenser Kraft und Phantasie wie ein Architekt ein neues Gleiches zu kreieren, in der ab und zu verzweifelten und dann wieder paradoxen Hoffnung, dass wenn dem Gleichen ein anderes Gleiches entgegenstellt werde, sich etwas anderes herausstellen müsse.
Da stossen wir auf das Geheimnis jeder kreativen Arbeit, die etwas von Sisyphus und etwas von Phönix gleichzeitig hat, von ewiger Wiederkehr desselben und doch einer dem Schicksal gestohlenen Unterbrechung bei momentaner Mitmenschlichkeit. Diese schöpferische Tat entstammt manchmal der Verzweiflung und dem Leiden, selten und gnadenhaft ab und zu den winzigen Weilen von Gemeinsamkeit und etwas Glück. Da sind wir auch an der Urquelle von MFs schriftstellerischer und konvivialer Tätigkeit, die 1976 mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet wurde, und zwar für sein Bemühen um eine menschenwürdige Welt. Dass er dafür beim schweizerischen Staatsschutz wie ein Verräter registriert und über Jahrzehnte hinweg überwacht wurde, das traf ihn tief, verletzte ihn und liess ihn nach Gründen fragen, die dazu führen, dass sein Persönliches zum Exemplarischen wird. Daher stehen hinter MF alle Fried-Suchenden, aber noch nicht Fried-Fertigen.
Da Unfriede das Gewöhnliche ist, Politik nichts anderes als organisierte Unzufriedenheit und die Heimat des Bürgerblocks, symbolisch gesagt, das Schützenhaus, müsste es diesen für viele unverständlichen Widerstand der Politiker gegen MF geben. Wie kaum einer hat er den Schweizer entlarvt, den Bürger am Nerv seiner Ein-Bildungen getroffen, die Leere Potemkinscher Dörfer offengelegt und so am eingebildeten und im Glauben zum Schein gewordenen Sein gerührt. Für die wenigen Mit-Fragenden bedeutete das Trost und Stärkung. MF war eine Instanz. MF ist für Afrika der Alte unter dem Baobab, für Indien ein Buddha unter dem Baum, für Japan ein Zen-Meister im Garten, für Abendländer ein neuer Sokrates, und wie «Stiller» übersetzt und heimisch in etwa 30 Sprachen und Kulturen.
MF war in einem etwas Persönliches und Exemplarisches: So wie es nur Künstlern gelingt, Dichtern und Architekten, Bildhauern und Malern, sokratischen Philosophen und Avilaschen Mystikerinnen. MF steht - in unsere Kultur endlich Afrika hereinholend - für ein afrikanisches Palaver... der Anlass persönlich, das Ende ein Sprichwort.
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Al Imfeld© Neue Wege 1991 Heft 5