Offenheit und Kleinsein
Überlegungen zum Thema «CH - Isolation oder Öffnung?»
A. Thesen zum Grundsätzlichen
1. Offenheit ist eine Haltung, die sich rational und emotional, geistig und körperlich (also auch ökologisch) mit den möglichen Folgen unseres Handelns oder Nichthandeins auseinandersetzt.
Statt stets nur zurückschauen, bewahren wollen und Neues blockieren, wird eine solche Haltung zuerst Hinhören und Umschauen bedeuten; vielfältige Fakten und widersprüchliche Meinungen (nichts bloss Bestätigungen des Geglaubten, Geliebten und Erwarteten) müssen zum Be-Urteilen herbeigetragen werden. Im gängigen Sinn wird heute eine These in die Welt gesetzt, aber dann nicht wie in redlich wissenschaftlicher Methode ohne Vorurteil überprüft, sondern wie bei einem Dogma der Bestätigungs-Beweis eingeholt: Was nicht passt, wird ähnlich wie in der Statistik als «Extremwert» gestrichen und nicht berücksichtigt.
In der Dogmatik ging es im theologischen Beweis genauso: Zuerst wurden die entsprechenden Bibelzitate (jeweils völlig aus dem Kontext gerissen, so wie es Fundamentalisten noch heute belieben zu tun) zusammengesucht, dann die Kirchenväter herbeizitiert (auch hier nur der passende und ohne historischen Hintergrund). Schliesslich müsste die Tradition herhalten, und diese war zum entsprechenden Lehrsatz immer schon das Resultat... Es war ein eingeschlossenes und dogmatisches, eigentlich schon damals mechanistisches Nützlichkeitsdenken.
2. Offenheit bedeutet die Möglichkeit, zwischen vielen, verschiedenen, aber möglichen Positionen aus-wählen zu können: er-messen und ab-wägen, ent-scheiden und be-urteilen. Alle Worte haben dieses essentiell Menschliche im Wort-Stamm enthalten und verweisen die Menschen auf ihr Urteil und nicht auf einen Spruch von oben, sei es von Gott oder vom Staat, von einer Gebotetafel oder einem Gesetzeskodex.
3. Offenheit wird verraten, sobald entweder eine Macht alles letztlich dominiert und diktiert (das kann wiederum ein Gott, ein Staat oder eine Interessenvertretung sein) oder es dank Miss-Information verschleiert. In einer Monokultur gab und gibt es keine Offenheit. Eindeutige Gesetze sind Dogmen genauso wie Glaubenssätze. Monokulturen sind stets geschlossene Systeme. Sie sind jedoch die Schein-Klarheit in Potenz, weil jeder nur das Entweder und das Oder, das Gute oder das Böse, den Tag oder die Nacht ausmachen kann, keine Übergänge (und diese Strecken sind die längsten) kennt, aber selbst vom Hingebeteten nur die Abstraktion meint. (Daher ist für diese Soseinsweise Recherchieren, jedoch selbst Dichtung und erst recht Journalismus so gefährlich. Jedes Konkretisieren bildet eine Gefahr, und jede Form eines Realismus wäre subversiv.)
4. Offenheit dieser Art bringt Widersprüche anders an den Tag als bisher, wo diese stets doch bloss Entweder-oder-Positionen waren. In dieser Offenheit erst wird die Wahl nicht zur Doppelmoral. Vorher hiess es doch: Entweder tut ihr das Gute oder dann seid ihr böse; doch im Alltag müsste «Böses» getan, konnte nicht zugegeben und müsste deshalb verdeckt werden. Daraus entstand die im heutigen System so wohlbekannte Doppelmoral. In diesem System wurde zwar von Widersprüchen geredet, doch es gab sie im befreiten Sinn nicht, sondern nur als Sachzwang und als das Nicht-Gewollte.
5. Offenheit bedeutet nicht im jetzigen Sinn Wachstum und Fortschritt, sondern eben diese abwägende und somit kritische Begleitung dessen, was geschieht oder entschieden, vorgeschlagen oder abgewiesen wird. Das griechische Wort «krinein» heisst ja gerade das Vermögen des Scheidens und Entscheidens, des Trennens und Auseinandernehmens - vor allem Dinge, Kräfte und Mächte, die nicht eo ipso zusammengehören, falsche Bruder- und Schwesterschaften eingegangen sind, Echtes und Schein (Scheinbares) vermischt haben. Nicht umsonst bedeutete es eine befreiende Öffnung, als die Revolution endlich eine gewisse Gewaltentrennung mit sich brachte und der Staat nicht mehr monokulturell einfach alles und dazu noch als Sakral-Akt ausführen konnte. Doch die heutige Zeit kehrt zurück zur Verfilzung. Genau das ist das Wesen der Korruption. Geld hebt die Gewaltentrennung auf und macht Entscheide wieder zu göttlichen Willkürakten oder wird im feudalen Geist verliehen wie ein Lehen an einen treuen Ritter. Offenheit kann es nur dort geben, wo diese Gefahr der falschen Vereinigung, Verschmelzung und (wohl das beste Wort dafür) Verfilzung stets von Dichtem und Journalisten, Cartoonisten und Sprayem begleitet werden darf.
Der grösste Zynismus findet heute dort statt, wo ausgerechnet eine solch kritische Enthüllung als Pornografie und/oder als Brutalo hingestellt wird. Da sind wir mitten drin, denn über unsere Femseher laufen täglich Brutalos und Pomos, doch da sie zu den schützenden Insignien der heutigen Macht gehören, empfindet sie der sozialisierte Bürger und die Bürgerin nicht so: z.B. alle Western mit diesem ewigen Schiessen und Töten und dem üblichen Sieg des Guten; der Männlichkeitswahn (machismo) in den US-Filmen; die Verachtung der Frau, der Schwarzen, der Indianer, der Armen, die stets selbst schuld sind, weil doch jeder sich nach oben durchschiessen darf, solange er den Rechten trifft.
6. Offenheit bedeutet das Denken über sich selbst hinaus und somit (auch) an die Mit- Menschen, an die Mit-Welt, die Natur wie die Kultur, an die Nachbarschaften vor allem und zuerst und dann erst an die Fernsten, um nicht stets am Ende der Welten irrelevant Gutes tun zu wollen. Dieses Denken, das von dem Ich ausgeht, zum Du weitergeht, dann zum Wir und dieses verknüpft mit dem Ihr und Sie und nicht sofort ohne Kontext und Geschichte Kontinente überspringt.
Bei einem derartigen Offenheits-Denken kann es den furchtbaren Geist des Nord- Süd-Abgrunds gar nicht geben. Diese Form der Offenheit kann es wagen zu fordern: global denken - lokal handeln; denn da stimmt es und ist nicht ein Schlag-Wort (Schlag-Worte braucht der Mensch, um böse Geister oder eben Sündenböcke auszutreiben, von dannen zu schlagen).
7. Offenheit ist also ein Denken in Bezügen. Da ein offener Geist viele Varianten und Möglichkeiten vor sich sieht, wird er versuchen, möglichst viele Aspekte oder auch Interessen mit-einzubeziehen. Das bedeutet Rücksichtnahme. Sie ist ein Charakteristikum der Offenheit. Gerade weil z.B. afrikanische Gesellschaften so vernetzt und in dauernden Bezügen - mit vielen Beziehungen - lebten, sind sie offen und können viel, viel offener sein als moderne Wachstumsmonokulturen.
8. Offenheit ist eine Grundbedingung der Demokratie. Diese kann die Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit aller Beteiligten nur respektieren, d.h. auch sie als reife Bürger mit-denken, mit-auswählen, mit-bestimmen und mit-verantworten lassen, wenn die Informationen und Positionen offen auf dem Tisch liegen. Wenn eine Demokratie Zensur, Geheimniskrämerei, Staatsüberwachung der Bürger, Zugangssperre zu den wichtigen Unterlagen veranlasst, so bedeutet dies eindeutig, dass sie nicht offen und folglich keine Demokratie ist. Es gibt nichts, das für den/die Bürger/in zu hoch, komplex oder verwirrend ist - ausser es soll eben vertuscht, zugedeckt und geschwindelt werden. Wer vorgibt, dieses oder jenes sei den Wählern und Wählerinnen vorzuenthalten, putscht sanft, aber permanent in Richtung Diktatur.
9. Offenheit und Demokratie verlangen Transparenz der Wirtschaft, doch genau das hat die Französische Revolution bis heute nicht erreicht. Auf dem wirtschaftlichen Sektor sind die Grenzen geschlossen. Der Arbeiter und der kleine Bürger sind öffentlich mit ihrem genauen Einkommen eingestuft und steuermässig genau belastbar; doch das Einkommen der Unternehmen ist tabu; ihr Besitz ist geheiligt und steht - auch steuerrechtlich - unter Vaterlandsschutz; Familienuntemehmen sind nicht verpflichtet, über ihren Geschäftsbereich zu informieren, obwohl sie schon durch ihre (vielen) Angestellten von öffentlichem Interesse sind. Dank der Börse wurde es ohne weiteres möglich und akzeptiert, dass jährlich ein Bericht erstellt werden muss. Darin wäre schon sehr viel Information vorhanden, Journalisten im Dienst von Öffentlichkeit und Demokratie könnten daraus «Bilder» auch für andere machen, doch die Zeitungen veröffentlichen nur Kurs-Zahlen für Aktionäre; eine Sprache für die Betroffenen und somit AUCH-Beteiligten (und das sind wir in dieser vernetzt-komplexen Industrieund Dienstleistungsgesellschaft ALLE!) haben die Medien nicht entwickelt.
«Ausgewogenheit» bedeutet in dieser Filzokratie nichts anderes, als dass der Lobbyist genausoviel sagen kann, obwohl er eine ganz andere als staatsbürgerliche Sprache spricht; seine Sprache müsste als eine gemachte und gestylte, als von Verbänden genau gewollte und von Agenturen knapp und nichtssagend vorgegebene dargestellt oder offenbart werden können. Die Frage ist endlich zu stellen: Warum findet nie Offenheit statt und geschieht keine Öffnung, wenn ein Politiker und ein Lobbyist miteinander (scheinbar) diskutieren? Antwort: Das Resultat ist vorgegeben. Ein Abenteuer im alten Sinn des Diskurses kann gar nicht stattfinden - bloss Langeweile. Das Ganze ist zudem so verschlossen und abgesichert, dass es auch keine Dramaturgie mehr besitzt. Offenheit offenbart sich in Sprache. Unsere Zeit ist eine Zeit der Plastikwörter (Uwe Pörksen); Worte sind keine Schlüssel zur Öffnung mehr, sondern Totengräberschaufeln, um alles zuzudecken, oder aber scheinbar wissenschaftliche Begriffe, die nur das Feudalsystem der Universitäten mit ihrer Esoterik der Macht umnebeln.
10. Offenheit verlangt, dass die Mittel Medien) der Veröffentlichung gegeben sind, dass sie funktionieren und nicht wiederum von den an der Geheimhaltung Interessierten kontrolliert werden. Bevor es eine Öffnung gegenüber dieser oder jener Institution, z.B. gegenüber einer EG, braucht, benötigen wir die Offenheit der Information, also mehr Transparenz, damit die Verknüpfungen und Beziehungen, aber auch die INTERESSEN derer, die uns vorgeben, WIR alle brauchten so etwas, eingesehen werden können. Damit würde dann der so Informierte an die Entscheidung herangehen können und sehen, dass diese oder jene Interessen im Moment legitim sind und sie daher auch zugestehen, denn diejenigen, die entscheiden, sind stets Menschen mit ihren Interessen.
B. Konkrete Ein-Sichten zur Schweiz und ihrer Lage
1. Kleinheit ist nicht an und für sich schon etwas Negatives, Schwaches und Besorgniserregendes. Im Gegenteil, Kleinheit ist eine Chance. Doch die Schweiz hat aus vielen Komplexen heraus diese Chance seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr als kreative Politik genutzt. Sie hat sich ihrer Kleinheit sogar geschämt und einen Ersatz mit Firmen und Banken, als Handelsplatz und Steuersitz der Grossen geschaffen. Da sie selbst nicht gross war, wollte sie von Grossen bewundert und bestaunt werden.
2. Diese Kleinheit muss daher definiert, angenommen, zugestanden und geliebt, umhegt und gefördert werden. Wenn sie zum Wesenszug gehören soll/kann, muss sie mit der gewollten Identität übereinstimmen. Weil diese Kleinheit nicht positiv ausdefiniert ist, wird der sogenannte Neutralitätsbegriff zum «Gigampfi»: einmal so, ein andermal anders, auf und ab... Es wird zwar stets von der Bedrohung unserer Kleinheit fabuliert, doch so, dass suggeriert wird, zum Erhalt einer so kleinen Maus brauche es die Elefanten und daher wohnten wir mit ihnen zusammen. Dasselbe passiert im Augenblick erneut angesichts der EG. Nicht dass diese etwas Schlechtes einfachhin wäre. Eine solche Abwehrhaltung kann eben bloss entstehen in einem Entwederoder- Staat, mit einem dauernden Verwirrspiel der Begriffe, je nach Lust und Machtlaune.
3. Kleinheit bedingt ein entsprechendes Handeln. Leicht wird ansonsten Kleinheit entweder zum Bluff oder zur Arroganz. Wenn der Kleine gross tut, gilt er als provokant. Mass halten heisst den Bogen nicht überspannen. Zum Kleinen passt ein Abschreckungssystem schlecht. Überlegenheitsgehabe geziemt sich schon gar nicht. Die beste Sicherheit ist Bescheidenheit und Ehrlichkeit: Gerade dieses Prinzip der Natur hat noch keine Armee der Welt entdeckt. Im Gegenteil, es wird den Bürgern eingeredet, dass Bescheidenheit Tod bedeute.
4. Kleinheit bedingt die Kunst der Self-Reliance, und das heisst: möglichst auf den eigenen Beinen gehen, zuerst das Eigene einsetzen, dann mit den Nachbarn sich verbinden, um mit ihnen zusammen zur Absicherung des nächsten Nachbarsystems weiterzugehen. Das heisst aber auch: auf zwei Beinen gehen und schliesslich auf allen Beinen der Gemeinschaft zusammen. Das ergibt viele Stand-Punkte. Wie oben dargelegt, bedeutet das keine Doppelmoral, sondern Dasein und Sosein aus dem Kontext heraus. Gerechtigkeit wird immer wieder neu geschaffen. Die Anwendung von Gesetzen wird menschlich (nicht wie jetzt, wo es immer mehr vorkommt, dass ein Gesetz längst seinen Sinn und Zweck verloren hat, aber in bestimmten Lagen macht-voll und gnaden-los über alle Köpfe hinweg eingesetzt wird; die Richter erst noch mit Bedauern feststellen, dass sie wegen des Gesetzes gar keine andere Wahl haben...), und das Ganze darf sich human nennen.
5. Das wäre die Grundlage der Neutralität, die letztlich einfach eine Absage ans Blockdenken oder ein Nein zu jedem eindeutig definierten Freund-Feind-Verhältnis meint. Also, wie etwa bis anhin: Als Guter kannst du nur auf seiten der Amerikaner sein; wer auf der anderen Seite denkt und lebt, kann nur Kommunist und schlecht sein. Diese Politik-Wissenschaft haben wir nun durch Jahrzehnte hindurch und sogar an der ETH betrieben. Falls Neutralität weiterhin dieses perfide Doppelleben bedeutet, ist sie schiere Machtpolitik.
Übrigens ist auch Spionage nur in einem klar zu definierenden Freund-Feind-Territorium möglich. Es ist für schweizerische Offenheit nicht untypisch, dass der recherchierende Journalist eher dem Spion als dem Aufklärer beigesellt wird.
Auf zwei Beinen gehen ist nicht eine doppelte Moral, sondern ein Bemühen um Ganzheit (dazu gehören bereits die zwei Beine!) und ein ehrliches Ringen und Suchen in vernetzten Denksystemen. Ganz einfach beginnt es damit, dass es nicht nur einen Standpunkt, etwa den des Mannes, des Weissen, des Westlers, des Katholiken usw. gibt; dass ich mich in alle diese Positionen und auch Interessen versetzen sollte, dann abwägen, um einen Entscheid für heute zu treffen unter Einbezug - wie zu Beginn dargelegt - der langfristigen möglichen Auswirkungen. Da diese Entscheide nicht mehr wie einst scheinbaren Ewigkeitswert haben, sind sie korrigierbar; damit kommen wir endlich zu der Grundlage der Humanität, die schlicht und einfach heisst: DER MENSCH STEHT ÜBER DEM GESETZ.
6. Ein Kleinsystem vermag viel leichter und eher als andere Systeme Veränderungen und Vorgänge wahrzunehmen. Wer offen und klein ist, registriert Signale. Politiker tun das nicht mehr, da sie in der Abwehr- Haltung leben: «Was kann ich tun, um das oder jenes zu verhindern, zu verbergen, zu vertuschen?» Der Politiker denkt sofort an Gegen-Massnahmen. Der Reporter hingegen ist jemand, der wahr-nimmt, hinhört, Neues findet. Neugierde beseelt ihn. Informationshungrig geht er in die Welt. Warum sollen in einem Kleinstaat alle Deutungen im Sinne des Grossstaates sein, warum muss CH den USA hinterherlaufen und immer erst Jahre zu spät merken, was schon längst hätte HIER geschehen und verwirklicht werden können. Beispiele: Warum ist Aubert so unbeschwert nach Rumänien zu einem grässlichen Diktator gereist? Oder warum anno dazumal ein Bundesrat Brugger zum Schah nach Persien, ohne über Menschenrechte zu reden, wozu er selbstbewusst sagen konnte: «Ich bin Wirtschafts-, nicht Aussenminister!» (TA, 18. 7. 77). - Aber so reden ja auch Bankdirektoren: Sie seien nicht Politiker und Polizisten...
7. Es erstaunt immer wieder an der Schweiz, dass sie aus ihrer Kleinheit nichts macht und höchstens Bedauern hat, weil sie klein sei... Immer erliegt sie der Versuchung, sich den Grossen anzuschliessen; zwar vorher lange hin und her zu werweissen, um schlussendlich im Sinne eines Geschäftemachers mit von der Partie zu sein.
Jetzt, da im Osten ein ungeheurer Aufbruch stattfindet, ist man hier in der Schweiz ratlos. Am gleichen Tag als die Berliner Mauer zu bröckeln begann, wurde gar in Steinhausen Stacheldraht (anscheinend zum Schutz - genauso räsonierte Ulbricht einst) um ein Asylantenlager gelegt. - Oder zur gleichen Zeit, als in der GSoA-Initiative der Volkswille manifest wurde, tat das Parlament mit einem höheren Rüstungskredit gar das Gegenteil, und selbst die Zivildienstfrage wurde wie von Diktatoren angegangen. Statt Offenheit erfährt Bürger/in Politiker als Trotzli. Im Osten wird von einem Parlament auf der Strasse geredet, und hier wird darüber gestaunt. Doch Demonstrationen werden bei uns als suspekt verfolgt, mit Tränengas begleitet, provoziert und in Tumulte verwandelt, um sagen zu können, dass diese Bürger der Strasse nicht reif sind. - Oder im Osten werden die Stasi-Archive vom Volk gestürmt, derweil bei uns die jahrzehntelang gelagerten Stasiakten zum Vorschein kommen und kaum jemand aufschreit und diese lächerlichen, aber doch tragischen Akten definitiv versiegelt. Nein, sie werden entschuldigt. Auf Geschichte wird gar nicht zurückgeschaut: auf die Führung dieses Bundesamtes der Justiz etwa (und nur als EIN Beispiel) unter Kurt Furgler.
8. Symbol des Niedergangs einer Identität der Kleinheit und damit politischer Kultur ist Frau Kopp. Da ging es nicht mehr um eine politisch kleine, aber demokratische, föderalistische Schweiz, sondern um Interessen des Kapitals. Da wurde endlich manifest, was längst die Presse hätte klarlegen müssen: dass Lobbys Parteien zerfressen und auffressen. Es fand genau das statt, was die BRD unter dem Flick-Skandal erfuhr. Die alten Unterschiede zwischen Partei (=politische Philosophie) und Verband (=Interessenvertretung) sind nicht mehr da. Eine Auto-Partei wäre noch vor einiger Zeit einfach undenkbar gewesen, weil ein Aspekt allein (Monokultur) gar keine Partei begründen kann. Deshalb ist keine Offenheit und somit auch kein Bedürfnis nach Politik im demokratischen Geiste mehr vorhanden. - Symbol eines AUFSTANDES und neuer Formen der Politik war die GSoA-Initiative. Doch die Macht versuchte, jede Öffnung zu verteufeln und alle Löcher sofort wieder zu stopfen.
9. Nur wer eine offene und transparente Politik macht, ist moralisch und wird das Volk hinter sich haben. Jede andere Form ist eine Verbands- und Stellvertreter- Politik, wo die Interessierten auf ihre Lobbys und das Geld vertrauen und damit gar nicht eine grosse Stimmbeteiligung brauchen.
10. Im Grunde wird statt offen noch stets mit Abschreckung politisiert. Es kommt einem so wie in ururalten Vorzeiten vor, als mit möglichst viel Lärm oder Gestank oder mit Masken Geister vertrieben werden müssten. Statt eine informative Zeitung gab es die Schreck-Maske: Doch so viel weiter gekommen sind wir kaum.
C. Zehn wunde Punkte von Kleinlichkeit und Verschlossenheit
1. Die Schweiz zelebriert sich als Sonderfall und weiss nicht, dass dies eine Form der Apartheid und gewollter Homelandisierung ist. Entsprechend handelt sie denn auch gegenüber Fremden. Sie muss sich gegenüber den eindringenden Armen schützen, denn dieses Bantustan ist ein Land für den Stamm der Banken. Wer verschliesst heute die Schweiz, wenn nicht die Banken? Doch auch: Wer verschmiert das Ansehen der Schweiz am meisten, wenn nicht die Banken? Eine rein egoistisch-gierige Interpretation von Geld-Freiheit und Geheimhaltung macht aus der Schweiz einen Magneten für Halunken und Gauner, wo sie ihre Drogenund Waffengelder deponieren, wo Diktatoren und korrupte Politiker ihre Fluchtgelder hinbringen. Das kann doch längst nicht mehr nur eine linke Verteufelung sein; denn zuviel ist geschehen und jedesmal, wenn ein korruptes Regime fällt, kommen Schweizer Konten ins Gerede.
2. Die Schweiz sonnt sich in ihrer Qualität bereits solange, dass die Wirklichkeit längst einer Wüste gewichen ist. Die eindrücklichste und auch schmerzlichste Erfahrung eines Aberglaubens machten die Uhrenateliers und Maschinenindustrien. Es fehlte an Innovation und Flexibilität, weil man sich einbildete, dass des Schweizers Qualität, einmalig und uneinholbar sei. - Dazu hat der Dünkel einer ETH-Ausbildung erheblich beigetragen. Alle, die durch diese Institution gingen, waren der Überzeugung, Welteinzigartiges gelehrt zu bekommen. Und weil man so gut und qualitätsreich war, wurde abgeschottet: Diplome von aussen galten nicht viel. Damit konnte die Zulassung dirigiert werden. Freizügigkeit der Lehre war beschränkt. - Von der ETH ging dieses Denken an alle Universitäten der Schweiz über, denn ihre Abschlüsse sind so viel besser, dass die anderer Länder nicht anerkannt werden. Dass gerade die Intellektuellen die perfidesten Verschlussmaschinen mit ihren Verbänden (vor allem meine ich diejenigen der Mediziner und Anwälte) aufgebaut haben und somit zu den Protektionisten und damit auch - leider - zu den subtilen Wegbereitem von Fremdenhass werden, stimmt nachdenklich. - Den Dünkel des Besserseins haben in der Schweiz alle Berufsverbände. Auch die Arbeiter wurden ins Verteidigungssystem der Abwehr gegenüber allem, was von aussen kommt, eingespannt.
3. Die Schweiz betreibt nicht nur einen rührseligen, sondern einen geradezu geschmacklosen Patriotismus: Dieser wirkt unecht und meist peinlich (inkl. die Alphombläserei und das Fahnenschwingen, sowohl die Ländler-/Älplermusik als auch ganz konkret die Landeshymne), weil er auf einem veralteten Nationalismus fusst. Da ist die Schweiz im Wirtschaftsbereich eines der internationalsten Länder und spielt voll auf «global», doch in politischen Belangen geht manches wie in einer Blasmusik oder Älplerchilbi weiterhin vor sich. Die gleichen Wirtschaftsbosse und Manager, die im Geldbereich global denken, tun zuhause an einer militärischen Front als Kader so, als ob es eine Nation zu verteidigen gäbe. Wer nachdenkt, weiss, dass es um eine neue Sicherheit wie bei einer Versicherung geht, längst nicht mehr um eine Nation mit Menschen, sondern um einen Finanzplatz Schweiz.
Auf verschiedenen anderen Ebenen wird bereits sehr flott mit einem neuen Souveränitätsverständnis umgegangen, doch in militärischen Belangen wird geredet und sogar gehandelt, als ob... Was heisst diese Lamentation, dass die Schweiz Souveränität aufgeben müsse? Was heisst eigentlich Souveränität? Genau das nämlich, was alle Exkolonien meinen und nicht mehr erreichen können, weil da viele andere Abhängigkeiten vorhanden sind. Einbusse an Souveränität bedeutet primär entweder eine Verminderung oder aber eine Verweigerung der wirtschaftlichen Mit-Sprache, Mit- Bestimmung und Mit-Verantwortung. Kleine Länder seien bedroht, wird vorgeheult, doch historische Beweise sind dafür kaum zu erbringen. Wie der Harvard-Historiker Kennedy darlegt, kam und kommt die Gefahr stets von innen, von Eliten, kleinen Cliquen und bestimmten Händlern.
Nicht mehr die Nation hält heutige Menschen zusammen, sondern der Konsum. In seinem etwas resignativen Jahresrückblick schrieb der alte, aber immer noch glänzende politische Kommentator Anthony Burgess im «Observer»: «Wir alle sind heute unausgesprochen der Doktrin des Konsumerismus . . . verpflichtet.» Dies sei die letzte noch existierende Ideologie. In Zukunft würden - wie bereits in Osteuropa sichtbar geworden - Menschen nicht mehr für eine Nation, sondern für einen bestimmten Konsum kämpfen. Statt eines Wohlfahrtstaats entsteht ein Konsumstaat.
4. Was macht in der Schweiz den Rechtsstaat immer unglaubwürdiger, wenn nicht das Gesetz im Dienste der Macht- und Geld-Interessen statt der bürgerlichen Rechte und der Menschlichkeit? Wenn ein Gesetz nur noch auf Interessen basiert und solche bloss schützt, kann nicht mehr von Rechtsstaatlichkeit, sondern muss von modernem Rechtspiratentum gesprochen werden. Die grösste Verschlossenheit im Empfinden der Bürger kommt heute vom Recht und von den Gesetzen her: Ohne Anwalt kann keiner mehr - ohne betrogen zu werden - eine Steuererklärung machen.
5. Auch in der Schweiz finden massenweise Menschenrechtsverletzungen statt. Vor allem im Sozialsektor in bezug auf alte und junge Menschen, auf Frauen und Behinderte, auf Andersdenkende und Spinner (auch diese sollen akzeptiert werden!), auf Fremde und Kunstschaffende. Warum müssen für gesetzlich mögliche Leistungen so demütigende Schuld-Befragungen gemacht werden, wenn nicht zum Schutz des Geldes? Die Versicherungen und allen voran die halbstaatliche IV tangieren mit ihren unmenschlichen Verzögerungen, wenn's ans Zahlen geht (aber gnadegott wenn der/die Bürger/in auch bloss eine Woche im Zahlungsverzug ist), ganz erheblich den sensiblen Bereich der Menschenrechte. Das Thema Armut in der Schweiz ist tabu; Armut gibt es strukturell nur in Entwicklungsländern, bei uns ist jeder selber schuld: Genau das ist eine Attacke auf die Würde der Menschen.
6. Die Schweiz ist stolz auf ihre Verwirklichung von Grund- und Naturrechten im Sinne der Französischen Revolution. Doch die drei Grundforderungen sind eingeschlossen worden. Freiheit wurde umgemünzt in Kapitalismus. Die Gleichheit wurde in Lohnprozente umgesetzt. Von der Brüderlichkeit - gar nicht zu reden von der Schwesterlichkeit - spürt der Einzelmensch im schweizerischen Staatsgebilde wenig. Da die Schweiz glaubt, Feinde seien notwendig, biedert sie sich nicht mit Menschen anderer Nation an. Sie lässt sie auf ein Bürgerrecht und somit auch auf das Recht politischer Betätigung über ein Jahrzehnt (12 Jahre) warten. Und selbst dann hat fast nur der wohlhabende eine Chance (wenn etwa in Zürich eine Einbürgerung 12000 Franken kostet). So kann immer wieder leicht gesagt werden, dass die Schweiz prozentual eine der höchsten Ausländerzahlen habe, weil eben kaum aus Ausländem Mit-Schweizer oder Brüder (gar Genossen) werden. Mit Solidarität über unsere Grenzen hinweg tun sich Schweizer staatsmässig schwer; als Ersatz gibt es Kirchen und Hilfswerke, die mit dieser strikten Rollenteilung nicht immer sehr glücklich sind, denn statt Mit- Menschen existieren Schubladen.
7. In der Schweiz selbst muss klarer unterschieden und weniger mit Ober- oder Allgemeinbegriffen Einheit vorgetäuscht werden. Als ein Beispiel stehe hier der Bauernverband. Stets wird undifferenziert von Landwirtschaft geredet und nie unterschieden zwischen Bauern, Landwirten und Agrobusiness (das Letzte ist abstrakt, ein Unternehmen, Konglomerat oder gar Multi). Diese Unklarheit verschliesst eine offene Auseinandersetzung. Sofort sieht ein kritisches Argument so aus, als ob es gegen die wirklichen Bauern und Landwirte ginge; doch anteilmässig macht im «Bauernverband» Agrobusiness über 80 Prozent aus. Und im Verborgenen müssen die Kleinen die Geschäfte der Grossen ausbaden. Das ist ein gefährliches Versteckspiel und verhindert jegliche Solidarität, aber auch die sachliche Lösung agrarischer Fragen.
8. In einer Direktdemokratie, als die sich die Schweiz versteht, hätten Gewerkschaften schon längst ihre besondere Rolle definieren müssen: Sie haben äusserlich ein «internationales» Modell übernommen und sich je nach Nutzen einen verbalen Internationalismus überstülpt, ohne die germanisch-alpinen, föderativ-demokratischen Traditionen bewusster in den schweizerischen Kontext einzubauen. - Die Gewerkschaftsbewegung steht heute vor ähnlichen Konstellationen wie einst die Bauern mit ihren Verbänden. Genauso wie die Bauern schmelzen auch die Arbeiter im Industriebereich dahin. Die Prognose ist, dass schon bald der Anteil der traditionellen Arbeiter an den Beschäftigten auf fünf Prozent zusammenschrumpfen wird. Die Gewerkschaftsbewegung hat also neue Modelle der Solidarität für Arbeitende, auch und prioritär im Dienstleistungssektor, auszuprobieren. Wie gewinnt sie die im heutigen Kontext Arbeitenden, ohne dass diese sagen, sie seien doch keine simplen Arbeiter und müssten gar vorbildhaft etwas Besseres sein? Dieses Sich-Absetzen von den Arbeitern ist verheerend. So schliessen sich die Angestellten eher Verbänden an, die Lobbys ihrer Arbeitgeber sind. Doch daran sind wohl die Gewerkschaften nicht ganz unschuldig: Längst hätten sie eine Doppelstrategie entwickeln müssen, um den traditionellen Arbeitern zu sagen, dass auch die neuen Arbeiter mit Krawatte nicht besser dran sind und ebenfalls kämpfen müssen; und um auch den Diensfleistlern zu sagen, dass Arbeit im Übergewand oder mit weissem Kragen an der Schreibmaschine oder am PC genauso Arbeit ist und genauso Marktwert wie die eines Maurers oder Schreiners hat.
Gewerkschaften können in der heutigen Wirtschaft nicht mehr nur national handeln. Sie müssten primär für alle Arbeitenden einstehen, vor allem für die Rechte der sogenannten Ausländer, Gast- oder Wanderarbeiter. Gewerkschaften müssten Druck machen, dass in jeder multinationalen Firma weltweit die Errichtung einer Gewerkschaft zum Grundrecht der Beschäftigten gehört. Ohne eine solche Zusicherung dürfte keine öffentliche Exportrisikogarantie übernommen werden. - Ab und zu muss man sich doch fragen: Geht es bloss noch um ein paar Lohnprozente und um den Teuerungsausgleich? Gerade die Gewerkschaften müssten ein Hort der Menschenrechte und ihrer konkreten Anwendung in allen Betrieben werden. Die Gewerkschaften sind am meisten betroffen vom perfiden Verwirrspiel der Wirtschaft, die einmal die nationalistische Geige spielt und dann den Mund voll nimmt mit «transnational» und «global». Sie könnten weltweit sagen, dass die Nationen ein Relikt des 19. Jahrhunderts sind.
9. Die Schweiz benötigt dringend eine Öffnung dem Weiblichen und den Frauen gegenüber. Mit Quoten allein ist es nicht getan. Aber auch nicht mit einer Gleichschaltung. Es geht überhaupt nicht darum, dass Frauen auch in der Armee und der Polizei, der Feuerwehr und dem Schützenverein zugelassen werden. Es geht primär um die Schaffung neuer, sinnvoller Vereine mit anderen Zielen als der Zelebration der Macht und Stärke, der Männlichkeit und des Heroentums. Niemand lächle daher über eine lange, mühsame und gemeinsam zu vollziehende Umschichtung von Vereinen, von Kirchen, von Sprache, von Theologie usw. Wahrscheinlich geht es miteinander in Richtung einer erneuerten Subsistenz, wie die Bielefelder Frauen Bennholdt-Thomsen und Mies von Werlhof theoretisch vorausahnen und dafür ihre Universitätsposten wie Verräterinnen verlassen müssten.
10. Immer verschlossen war das Land Schweiz Künstlern gegenüber. Mit «derartigen Menschen» kam sie stets erst postum zurecht. Dazu schreibe ich gar nicht viel, denn jede/r kennt mindestens eine Tragödie oder auch Komödie selbst. - Da wir gerade die Vorgänge im Osten bestaunen, möchte ich als Vision fragen: Können wir uns in dieser Schweiz nach dem Beispiel der Tschechoslowakei einen Dichter, Dramatiker und Schriftsteller wie Max Frisch als Staatspräsidenten vorstellen? Gut, liesse sich einwenden, wir kennen keine Präsidenten, und wenn er schon will, kann er sich der nächsten Wahl ins Parlament stellen. Doch mir geht es um solche Zeichen. Warum weiss keiner meiner Bekannten aus fünf Kantonen einen Gemeindepräsidenten aufzuzählen, der Künstler ist? Wie verschlossen und kleinlich wir doch in der Schweiz geworden sind, zeigt die Aussage eines Stadtpräsidenten: «Ohne Recht studiert zu haben, kann wohl immer weniger jemand eine verantwortungsvolle Stellung in einer Kommune übernehmen.» Dass dieser Mann daraus auch noch den Schluss zieht, das sei «eine positive Folge des Rechtsstaats», zeigt die Absurdität einer kafkaesk geworden «Schloss»-Schweiz auf.
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Al Imfeld© Neue Wege 1990 Heft 7-8