NOTIZ
diese Geschichte ist wirklich passier. Sie wurde erlebt und mir erzählt von einer schwarzen in Zürich verheirateten Frau. Sie kam nach Europa und erlebte von Frühjahr bis Herbst wöchentlich ihr vis-à-vis auf dem Balkon. Es war nicht mehr zu ertragen. Ihr und anderen ‘SCHWARZEN’ sei diese Fantasia gewidmet.
DER HERR AUF DEM BALKON
Morgen zügeln wir.
Die endlose Balkongeschichte
vom Monsieur Vis-à-vis
konnte ich nicht mehr ertragen
mein Arzt dachte,
es wäre ratsam
vom Balkon vis-à-vis
aus Gesundheitsgründen wegzuziehen;
ich sei in Gefahr,
verschiedene Ordnungen
vom Balkon aus
zum Balkon hin
miteinander
durcheinander
zu vermischen.
Dieser Herr dort drüben auf dem Balkon
postiert sich nonchalant
jeden Sonntag
auf seinem Balkon
pfeiferauchend
wie ein Gott
entweder machtvoll stehend oder prätentiös liegend
auf dem Balkon
er verfolgt mich schon in meine Träume hinein.
Ich sage euch,
kein Sonntag jahrein-jahraus
nach jedem langen Winter
ohne diesen pfeifenrauchenden Herrn auf dem Balkon
Habe ich dort
auf dem Balkon
jeden Sonntag
Gott vis-à-vis?
Oder ist das die Maske
eines Diktators
am Geländer des Balkons
vis-à-vis?
Oder ist dieser Balkon
meine Sonntagsprojektion
aus meinem seelischen Untergrund
mit Gott und Mann
auf dem Balkon?
Jeden Sonntag pfeiferauchend
fliegt in Schwaden er
vom Balkon aus
in die Lüfte
mit der NZZ in Händen
die Zeitung als Segel
dorthin
wo die Masse
Ordnung braucht
vom Balkon aus
wie aus dem Himmelsfenster
klickfick
ein paar Tafeln mit Gesetzen
aus dem NZZ Schokoladenstaat.
Dieser Balkon vis-à-vis
und dazu in mir,
über mir die Himmel,
von allen Felsvorsprüngen
in meinen Träumen
Balkone aller Art
bis zum byzantinischen
mit Baldachinen überdacht
die Pfeife als Weihrauchfass
die NZZ zum roten Teppich verwandelt
der Mann, der Tyrann,
Gott der Nacht
der Balkon
lässt mich nicht mehr los.
Sonntag ist's.
Wie kommt er heute wohl daher
der Herr vom Balkon?
Im Bademantel
als Sieger muskelprotzig
nach dem Boxmatch der Woche
in Siegespose
voll und schwer -
ob ihn der Balkon noch trägt?
Schau da, pfeiferauchend
in Shorts und Polohemd
tropisch
Muss er wohl
vom Balkon aus
heute
südliche Sklaven segnen?
Er winkt nach unten
dort gängelt seine Frau
den Pudel
zum ordentlichen Pissen
ihn an der Leine führend
vom Balkon aus
ist der Herr zufrieden
über Hunde, Katzen und Frau
Ich hör ihn dirigieren:
"Pass gut auf,
lass ihn nicht los,
auf seinem Kirchgang,
und nachher
gib ihm, wenn er brav ist,
die Sonntagsfroliks!"
Ich seh ihn auf dem Balkon,
mit den Wolken fliegend
pfeiferauchend,
den Herrn des Balkons
Den Herrn mit dem Balkon
vom Balkon aus
gestikulierend:
"Ihr verdammten Massen
da unten
Ordnung muss sein!"
Derweil der Herr paffend
auf dem Balkon
in die Welt vertieft
als Master zufrieden denkt,
dass die Welt in Ordnung ist,
solange es vom Balkon aus
noch Herrschaft gibt...
Balkon der Thron
ohne Balkon kein Herr
ob pfeiferauchend oder nicht
männlich und weiss,
es ist der Balkon,
dieser Balkon, der mich erobert
durch alle Fasern balkonfährt
mich erschaudern lässt
von Sinnen bringt.
Sonntag erneut:
heute hört er
vom Balkon aus
die news am Radio
und objektiv das Wetter
der metereologischen Zentrale;
zündet sich die Pfeife an
mit teurem Sonntagstabak
aus den Plantagen;
freut sich
weil die Welt
in Ordnung ist,
solange die Massen sich fügen
- wie die NZZ berichtet -
vom Balkon aus.
Jeden Sonntag wie die Kirche
dieser Balkon mit dem pfeiferauchenden Herrn,
der längst wie Rost
die Fantasie erobert hat:
die ganze Zeit
in meinem Kopf
wie ein Wahn
dieser Herr
auf dem Balkon
Balkon wird fast alles
und bloss noch seh ich Balkon
mit der Pose der Macht.
Und immer tiefer geht es
in meinen Träumen, Hirngespinsten
hin zu den Traumata
meiner afrikanischer Vorfahren
der Sklaverei.
Genau dieser Herr ein Schatten
vom Balkon aus,
im Balkon,
lauter Balkon
im Gegensatz meine Welt,
er noch heute schreiend
segnend
befehlend:
"Ordnung muss sein!"
Jeden Sonntag -
vom Balkon aus
die Welt,
meine Welt,
mein Wahn.
In mir im Kopf:
Balkone,
Herren pfeiferauchend
auf Balkonen
über allem Dunkel
in aller Welt.
In mir wirbelt alles durcheinander
und ich beginne zu spinnen
über diesen Balkon hinaus
Herren und Macht
pfeiferauchend
auf Balkonen überall.
Bis plötzlich
im Alptraum meiner Gedanken
ein Föhnsturm daherrast,
und reisst den Balkon weg
frech und frevlerisch,
fegt ihn durch turbulente Lüfte,
pfeiferauchend
hinterlässt der Herr
in Ordnungspose wütende Wolken.
Dahin, dorthin
bis der Balkon
an einer Felswand zerschellt.
Das Ende des Balkons?
Doch der Balkon bleibt
als Adlerhorst kleben -
bereits mit denselben Befehlen.
Ich wache auf
erschrocken und erschöpft,
bin zurück bei meinem Vis-à-vis,
dem Herr auf dem Balkon,
der seiner Frau in der Küche jetzt zuruft:
"Wann ist der Sonntagsbraten
endlich gar?
Kannst du denn nicht besser planen?
Es kommt regnen.
Und ich auf dem Balkon!
Mach mal schon!"
Ruhig, wie ein Herr
über alle Welten
sitzt auf seinem Balkon
pfeifenrauchend,
als ob die Welt in Ordnung ist
durch seine NZZ Insignien
und der wohligen Sonntagsmacht.
Da tritt seine Frau
mit einem Cinzano
zum Apero hinzu
ganz kurz:
ein Bild,
das gar nicht passt
auf den Balkon
zu zweit.
Wieder gehen meine Gedanken durch
mit Mann und Frau
auf dem Balkon
für das er nicht gebaut ist.
Eine Schreckensvision:
apokalyptische Reiter
aus den Balkonen
am Himmel,
zum Untergang
Cinzano trinkend -
geht der Balkon,
verrückt,
gesponnen,
fliegt in die Tiefe
mit Mann und Frau
zu zweit
und dem Cinzano
wie Weihwasser
zum Grabessegen
einer untergehenden Welt.
Dieser Balkon
lässt mich nicht mehr los.
Derweil andere
in die Kirche gehen
um die Botschaft der Ordnung
von der Kanzel herunter zu hören,
seh ich jeden Sonntag
zum Balkon hinüber
meine alte Sklaverei
und seh durch ihn hindurch
meine Geschichte
wie vis-à-vis
Balkon, Balkon, Balkon
Im Bann des Balkons
höre und sehe ich sie -
meine Geschichte
wie die Maus vor dem offenen Schlund
sich von der Schlange
auffressen lässt.
Morgen zügeln wir.
&&&
Al Imfeld, 05 71