MIT EINER UHR KOMMT DIE WELT ZU DIR
Zur Firmung hatte der Götti oder die Gotte eine Uhr zu schenken. Dieses Geschenk gehörte zum Erwachsenwerden. Mit einer Uhr wurde ein Knabe zum Mann. Mit einer Uhr trat er aus der Kindheit heraus. Mit einer Uhr ging es ins Leben hinein.
Zur Zeit des Krieges war das alles nicht so leicht.Wann immer eine Familie - wie so oft unter armen Bergbauern - eine grosse Anzahl Kinder hatte, war es nicht immer leicht, einen Götti oder eine Gotte zu finden. Für den Ältesten ging das noch leicht, doch von Jahr zu Jahr wurde es schwieriger, jemand zu finden. Alle waren zwar sehr stolz, gefragt zu werden. Diese Anfrage bedeute nämlich, dass die Bittenden annahmen, die betreffende Person könne es sich leisten, eine Geschenkuhr zum Firmet zu leisten. Eine solche Anfrage konnten Mann oder Frau stolz machen; es war eine Bestätigung dafür, dass man „etwas“ war. Das war eine sehr ernst Sache; gespielt wurde mit solchen Sachen nicht.
Vater Imfeld sagte eines abends etwa ein halbes Jahr vor der Firmung von Alois: „Heute ist mir beim Melken jemand eingefallen, der für Alois Götti werden könnte. Mutter, was denkst du von Jenny?“ Mutter schien Zweifel zu haben, denn sie sagte vorerst nichts. Sie schwieg und Vater wollte nicht nachbohren und so schwieg er auch. Beide wechselten das Thema, und fuhren mit dem Gespräch über die eben gegrabenen Kartoffeln fort, als ob von nie etwas anderem die Rede gewesen wäre.
Der vorgeschlagene Firmgötti besass eine Garage in Luzern und vertrat zwei englische Autofirmen in der Schweiz. Das war damals etwas fast Unglaubliches und schon deshalb etwas mit hohem Prestige. So kurz nach dem Krieg besassen englische Autos ein märchenhaftes Ansehen. Es hing auch mit den zwei Grossonkeln zusammen, denn jeder von ihnen führte in London ein grosses Hotel.
Alois sass mit der ganzen Familie am Küchentisch. Es war damals selbstverständlich, dass beim Nachtessen alles offen bei Anwesenheit auch aller Kinder besprochen wurde. Alois hatte im Spätsommer Jenny gesehen, als er ins Hinterland gefahren kam. Er lenkte mit Handschuhen sein Auto. So etwas blieb haften, denn für Menschen im Hinterland war das sonderbar. Es fiel mehr auf als sein Auto. Die meisten Näpfler wussten damals noch nicht, dass es zwischen Autos Unterschiede wie zwischen Kühen, Ziegen, Schafen oder Schweinen gab. Das, was Jenny fuhr, war kein Mercedes, kein Lancia, kein VW und auch kein Chevrolet. Es war ein Jaguar. Dieser stoppte damals kurz vor Imfelds Haus. So etwas wurde auf dem Land nie übersehen und die Information ging mit unglaublicher Geschwindigkeit durch das ganze Hinterland. So hatte Alois am anderen Tage von allen Schulgespanen erfahren, dass ein kostbarer, teurer Jaguar bei ihnen zuhause Halt gemacht habe. Ja, ein Jaguar. Jemand Besserer hatte also Imfelds besucht, denn er habe Lederhandschuhe edler Art getragen. Ein besseres Auto musste also mit Handschuhen und nicht mit den Händen direkt gelenkt werden, das war die Schlussfolgerung.
Alois hatte vom Besuch auch nur das Äussere wahrgenommen, denn er war an diesem Nachmittag bei Muffs, um dort Spätweizen herauszulegen; er musste also das gemähte Korn zum Trocknen an der Sonne ausbreiten. Er hatte wie alle anderen Buben vom Feld aus das Auto, den Halt und den Besuch wahrgenommen. Am anderen Tag gings wieder in die Schule und sofort fielen die anderen Buben über ihn her, um herauszufinden, wer dieser geheimnisvolle Besucher gestern war. Sidler Sepp, der immer der Tüchtigste und Gescheiteste sein wollte, hänselte, dass der Imfeld wohl Geld brauche und einen Bankier habe kommen lassen. Alois konnte seelenruhig antworten, dass er doch nichts wisse, da er nicht daheim gewesen sei, aber in diesem Moment ging es ihm plötzlich durch den Kopf, um was es ging. Das hatte bestimmt mit der Firmung zu tun. So träumte er schon beim Nachtessen und vergass, die Suppe auszulöffeln. Mutter musste ihn warnen: „Iss doch!“
Selbst später im Zimmer, konnte er an nichts anderes als an einen Firmgötti mit Jaguar denken. Er schlief schliesslich ein und träumte von einer Jaguar-Uhr zum Firmet.
Für seine Eltern war es nicht leicht, Jenny anzugehen. Mutter und Vater waren scheu. Mutter meinte, Vater müsse das tun. Und Vater sagte: „Nein, Du kennst ihn; er ist eingeheiratet und somit weit aussen mit dir verwandt. Er stammt aus deiner Linie. Du musst ihn angehen, so will es unsere Tradition.“
Mutter gab zurück: „Aber ich bin eine arme Bauersfrau. Er ist ein besserer Herr, der nicht auf Leute, wie mich hört. Und stell dir doch vor, wie wir den hier bewirten sollen?“ Es war damals der Brauch, dass nach der Firmung in der Kirche danach zuhause beim Göttikind gespeist wurde.
Vater meinte: „Auch ich bin ein kleiner Bauer. Komm aus den Bergen. War ein Älpler. Stinke nach Vieh. Aber du, Mutter, du bist mit ihm verwandt.“
Mutter wich aus und kam nochmals aufs Essen zurück: „Und stell Dir vor, was ich für diesen Götti hier bei uns zum Firmet kochen soll!“
Als an einem Dienstag Vater Imfeld nach Luzern auf den Wochenmarkt fuhr, ging er anschliessend zur Garage von Jenny. Da sah er ihn hemdsärmlig an der Arbeit, in blauem Überkleid, beschmutzt, mit Öl verschmiert. Als er Vater Imfeld in die Garage kommen sah, lächelte er ihm zu, begann seine Hände mit Stoff zu reinigen, gab ihm die Hand und schon sprang der Funken über. Von diesem Augenblick an hatten beide grossen Respekt voreinander und konnten meisterhafz miteinander scherzen.
Jenny wusste ganz genau, was Imfeld zu ihm führte. Und er sagte es ihm auch. „Eigentlich wollte ich mich als Götti anbieten. Aber so etwas tut man einfach nicht.. Ja, ich gebe zu, deshalb fuhr ich ins Hinterland und sagte kurz Guten Tag.“
Also wurde Jenny Firmgötti von Alois. Der Firmet selbst war einmalig. Er fuhr mit dem Jaguar am grossen Tag auf dem kleinen Bauernhof vor. Alois vorne und hinten die Eltern, so fuhren sie zur Kirche. Und das 1944! Alois war so stolz. Er getraute sich nicht, sich umzuschauen und zu seinen Schulkameraden zu schielen. Es war jeweils das einzige Mal im Jahr, dass ein Erwachsener neben dem Firmling in den ersten Reihen, ganz vorne, sass. Es war auch kaum möglich, denn Jenny und der kleine Alois wurden in die erste Bank eingewiesen. Umschauen war immer etwas Sündhaftes in der Kirche gewesen: ned umeluege! hiess es. Umeluege war eine Sünde des ersten Gebots.
Andere waren, wie es in jener Zeit bei ganz grossen Festen üblich war, mit dem Brek hergefahren worden. Imfelds Alois war der einzige, der im Auto vorfuhr. Für Alois war das wichtiger als der ganze Firmet.
Nach dem Mittagessen mit Pastetchen, aus luftigem Blätterteig und mit Fleischkügelchen, das Lieblingsgericht von Alois, stand der Jenny auf und ging hinaus zum Auto, dem er ein paar lange Skis entnahm, um damit ins Haus zu kommen. Wollte er etwa gar statt einer Uhr Skis zur Firmung schenken? Die Skis waren so lang, dass Alois sie unmöglich beherrschen konnte. Erst später, als es längst zu spät war, erfuhr er, dass es Langlaufskis waren. Aber wer kannte damals Langlauf? Sicher niemand im Napfgebiet! Alois war natürlich stolz auf diese grossen Skis, wenn er auch innerlich ganz unglücklich blieb, denn er konnte einfach nicht damit abfahren, stürzte und machte sich vor den anderen Buben lächerlich. Manchmal dachte Alois daran, dass Gott eben Stolz straft. Gerade wegen dieser Skis lernte er nie richtig Skifahren. Die Strafe Gottes währte lange.
Die Uhr, die eigentlich das Wichtigste beim Firmet war, ging also ob der Skis fast unter. Erst nach dem Mittagskaffee, solange spannte er seinen Göttibub auf die Folter, sagte Jenny, der stolze Garagier, dass er natürlich auch eine Uhr gekauft habe, aber es sei keine teure, denn es habe keinen Sinn, jetzt, da bald andere Zeiten kommen würden. Er glaube nämlich an das baldige Ende des Kriegs. Dann ging das hohe politische Gespräch an jenem Firmtag los. Jenny war über seinen Autohandel mit England tief und emotional verbunden. Da die Briten unter Churchill zu den Alliierten gehörten, war Jenny eines baldigen Endes dieses schrecklichen Krieges gewiss.
Jenny sprach den ganzen Nachmittag, auch nach dem Kaffee, über Weltpolitik. Alle von Imfelds, als eine Ausname auch Mutter, aber besonders Vater und Grossvater und sogar der jüngere Bruder Werner hörten ihm mehr als einem Prediger zu. Nur die Schwestern waren zum Abwaschen in die Küche gegangen. Mutter musste sie nicht einmal schicken.
Götti Jenny beteuerte mehre Male, dass er auf die Briten setze. Die Amerikaner, so meinte er, würden „in Europa einfach das Geschäft suchen“. Von den Franzosen hielt er nichts.
Alois wurde mehr und mehr überzeugt, dass allein durch das Zuhören dieser Weltanalyse er an diesem Nachmittag erwachsener wurde. War es der Heilige Geist der Firmung oder waren es die Worte von Jenny? Oder hätte Alois Jenny ohne den Heiligen Geist vom morgen in der Kirche gar nicht verstanden? Hatte also doch der Geist bei Alois alles geöffnet?
Ja, Alois kam sich an jenem Nachmittag gross und erwachsen vor. Er durfte bei der Weltpolitik dabei sein. Seine Uhr erinnerte ihn später, an jedem Sonntag, an dem er sie tragen durfte, an das. Die Uhr wurde ihm eine Brücke zur Welt. Die Uhr führte ihn in andere Welten und neue Zeiten, die da auf der Welt kommen sollten.
Alois trug, wie es damals üblich war, die Firmuhr nur am Sonntag, wenn er zur Kirche ging. Schon zum Mittagessen wurde sie abgezogen und in die Schublade des Stubenbüffets gelegt, immer in die kleine Schachtel, mit dem weichen weisslichen Papier.
Die Uhr war ein Zeichen, das Sonntag für Sonntag Alois etwas weiter ins Weltgeschehen hineinnahm. Als Alois 1947 zum Studium ging, begleitete ihn diese Firmuhr. Von da an nahm er sie nicht mehr ab. Wenn immer er Geschichte studierte, schaute er auf die Uhr und meinte, auf dem Weg zu einer neuen Zeit zu sein.
Damals durften Studenten keine Zeitungen lesen. Der Präfekt schnitt höchstens etwas für sie Wichtiges aus und hängte es ans Brett. Alois konnte solche Geheimnistuerei mit der Zeitung nicht verstehen, schaute einfach auf die Uhr und wartete mit ihr auf eine andere Zeit.
Bei der Matura, ausgerechnet in diesem Augenblick, blieb die Firmuhr stehen. Der Uhrmacher meinte, er könne sie flicken, aber ewig würde sie bestimmt nicht halten. Sie wurde repariert. Die Uhr lief weiter. Während der ganzen Priesterseminarzeit lief sie, denn man war ja total von der Welt abgeschnitten, und daher, so dachte Alois, hatte sie es nicht anstrengend. Nur einmal pro Woche, am Sonntag, durften die Seminaristen nach dem Hauptgottesdienst bis zum Mittagessen ein paar aufgelegte Zeitungen lesen. Die Uhr konnte da nicht viel Welt aufzeigen. Sie konnte eigentlich schlafen.
1960 war die Uhr am Ende. Es gab keine Reparatur mehr. Für Alois war es klar, das war ein Zeichen und ab jetzt kommt etwas Neues. Er erinnert sich daran, dass es im Radio bei den Nachrichten hiess, das Ende des Kolonialismus sei angebrochen. Eine neue Zeit käme und bald würden „unsere Uhren“ anders laufen.
Zufällig fragte ihn der Firmgötti, bevor er nach den USA zum Weiterstudium wegfuhr, ob er ihm etwas schenken könnte. Alois sagte, dass er eine billige Uhr gut gebrauchen könnte. Jenny kaufte eine und schenkte sie ihm.
Die damals gekaufte Uhr wurde Alois in Afrika, genauer gesagt, in Rhodesien, dem heutigen Zimbabwe, gestohlen. Erst in diesem Moment war für Alois der Firmtag zuende. Afrika hatte ihm die alte Zeit gestohlen.
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Al Imfeld©
Nov. 1997 1. Fassung