Afrikanische Hexerei - Ist sie verschieden von der europäischen?
Versuch einer Kontextualisierung des Hexenwesens.
Auf dem afrikanischen Kontinent südlich der Sahara haben Hexenglaube und Hexenpraktiken nach Ende des Kolonialismus, seit 1960, massiv zugenommen. Das bestätigen einerseits afrikanische Menschen selbst und das stellen auch Anthropologen und Religionswissenschafter fest.
Ist dies ein Afrika eigenes Phänomen, einmalig und isoliert, oder ist es mit den spätmittelalterlichen Vorgängen in Europa und Neuengland/USA vergleichbar?
Eine wissenschaftliche Vergleichsanalyse wird ermöglicht mit Hilfe des Readers THE WITCHCRAFT, herausgegeben von Darren Oldridge, 2002, zweite und erweiterte Ausgabe 2008.[1] Der Band enthält 38 Beiträge und umfasst alle von der Forschung erfassten Bereiche. Im deutschsprachigen Bereich gibt es die Studie von Johannes Dillinger, Hexen und Magie[2] (2007). Ein weiteres Werk ist hilfreich; es stammt vom Margarethe Ruff[3].
Für Afrika gibt es die vielen zur Kolonialzeit von Ethnologen (etwa Evans-Pritchard oder S.F. Nagel und der Reader von Mary Douglas, 1970) verfassten Studien. Die meisten gehen davon aus, dass Magie, Zauberei und Hexerei afrikanische Religion ausmachen, Produkte prälogischer und irrationaler Mentalität sind oder einer primitiven und/magischen Denkweise angehören; es fällt auf, dass sie kaum den Zusammenhang mit der Ahnenverehrung herstellen und heben das Ganze eher in einen skurrilen Raum ab. Für die heutige Zeit besitzen wir zwei grössere Arbeiten, die eine vom Ethnologen David Signer[4] und eine andere – von einem positiven Standpunkt aus - vom langjährigem Kameruner Missionar und Jesuiten Eric de Rosney[5] . Viel zu reden und schreiben gab der zambische Erzbischof Mgr. Milingo, der scheinbar Teufel und/oder böse Geister austrieb und sich mit Hexerei beschäftigte und zur Sicherheit in den Vatikan nach Rom zwangsversetzt wurde.
Die Zeit der Entkolonisierung Afrikas ist hinsichtlich Magie und Hexerei noch kaum seriös weder historisch noch sozial studiert und beleuchtet worden. Diese kurze Studie meinerseits sei ein Beitrag zum grossen Thema.
Magie und Hexerei im Zusammenhang mit gesellschaftlicher Krise und Politik auf dem afrikanischen Kontinent muss dringend und seriöser als bisher nachgegangen werden. So wie es inzwischen eine gute europäische und amerikanische Hexenforschung gibt, so braucht Afrika eine allseitige Bearbeitung dieser komplexen Problematik.
Vergleichen bedeutet nicht gleichsetzen
Wir müssen uns zum vornherein bewusst sein,
dass Afrikas Denkweise nicht wie die abendländische ist, die Jahrhunderte lang vom Christentum und seinen Werten geformt wurde. Afrikas Menschen agieren abwechslungsweise und gleichzeitig mit verschiedenen Religionssystemen, mit Schamanismus, Naturgeistern und animierter Welt, traditionell und christlich oder islamisch, alt und neu, sakral und säkular; alles überschneidet sich und ist dennoch nicht im westlichen Sinn eklektizistisch; nicht willkürlich, sondern wie ein Instrument oder Werkzeug, das je nach Umstand pragmatisch und im Kontext sinnvoll ist;
dass Afrika keineswegs von dualistischen Denkschemata wie der Westen mit seinem Entweder-oder, Gut-Böse, usw. geprägt ist; afrikanisches Denken tendiert eher zum Parallelismus, zur Gleichzeitigkeit, zur Durchmischung, zum Ineinander und Miteinander, auch als Hybridisierung bezeichnet;
dass im traditionellen Denken Afrikas keine Apokalypse, d.h. ein dramatisches Ende der Welt, mit einem fast theatralischen Untergang, vorhanden ist; man lebt einfach oder in den Tag hinein, ohne sich um Zukunft im westlichen Sinn zu kümmern; (Das indogermanische Futurum existiert in Bantusprachen nicht.)
dass es im afrikanischen Denken von einst weder einen Platz für einen Teufel gab noch direkt und klar von Gott gesprochen wurde: wohl aber kannten Afrikaner neben den Ahnen-Geistern Hunderte von Naturgeistern, Kobolden, Feen und Elfen, Aufhockern und Mahren, Trollen und Chimären, Drei- und Vielbeinern, fantastische Tiere und Vögel, Würmer und Schlangen. Wer sich eine Ahnung von diesem Phänomen über den Weg der modernen afrikanischen Literatur verschaffen möchte, greife zu den Büchern von Ben Okri[6] oder Amos Tutuola[7];
dass es in diesen Denkweisen Afrikas nicht um Fortschritt oder Wachstum, sondern um Fruchtbarkeit, um Nachkommen und Ahnen geht; er/sie/es muss fruchtbar werden und bleiben, muss durch das Zeugen das Leben (nicht die Welt) fortsetzen;
dass südlich der Sahara die eigentlich Handelnden die Ahnen sind; diese sind Verursacher von (bestimmten) Krankheiten und (gewissen) Unglücken;
dass es auf dem afrikanischen Kontinent vor Auftreten des Christentums und Islam (beides monotheistische Religionen) nie zu Religionsverfolgungen gekommen ist. Im Gegensatz dazu folgte auf dem europäischen Kontinent eine Religionsverfolgung der anderen. Den Hexenjagden vorausgegangen waren in Südfrankreich die Sektenverfolgungen der Katharer und Waldenser. Die Katharer, auch Albingenser genannt, von Südfrankreich ausgehend, wurden zwischen 1209 und 1310 in den Albigenserkreuzzügen total vernichtet. Die Waldenser, die für die Laienpredigt eintraten, begründet von Valdes, gest. vor 1218, wurden fast ausgelöscht, bevor sie sich dennoch in Frankreich und Italien, ja, bis Böhmen ausbreiten konnten. In England kam es unter Heinrich VIII. 1531 zum Schisma mit Rom und dann zur grossen Katholikenverfolgung. Im deutschsprachigen Raum brach mit Luther (1510), Zwingli (1519 Bildersturm in Zürich) und Calvin (geb. 1509) die grosse Reformation wie ein reinigendes Gewitter herein. Wiedertäufer, Amische (aus der Täuferbewegung des 16. Jh.s) und Hugenotten (seit 1560 die Bezeichnung für frz. Protestanten) wurden verfolgt und wanderten aus, die einen in die USA, die andern bis nach Südafrika.
Ähnlichkeiten und Parallelen
Und all das vorausgesetzt, gibt es im heutigen afrikanischen und mittelalterlichen Hexenwesen viele Gemeinsamkeiten. Wir befassen uns also mit historischen Perioden, die ähnliche Gegebenheiten aufweisen.
Die klassische Zeit der europäischen Hexenjagden liegt zwischen 1500 und 1700. Im Bereich des heutigen Deutschland setzten die grossen Hexenjagden nach 1560 ein. 1453 endete der Hundertjährige Krieg. 1529 standen die Türken vor Wien. Was gehört zum typischen Hintergrund, der heute in Afrika sich fast wiederholt, jedoch aufgrund anderer Voraussetzungen eine andere Form des Hexenwesens entstehen lässt?
Hier seien bloss einige Gemeinsamkeiten erwähnt:
man befindet sich in einer historischen Übergangszeit, time of transition. Übergänge sind stets turbulent bis chaotisch: Das Alte stimmt nicht mehr, das Neue ist nebulös. Das Feudalzeitalter geht zu Ende; das ausschliesslich hierarchische Denken geht sehr langsam über ins demokratische. Das Volk konnte mehr sagen oder mitreden, ist jedoch nicht darauf vorbereitet worden;
man nähert sich mühsam Volksbewegungen und Formen einer Demokratisierung, sodass Hexerei gar vom amerikanischen Sozialwissenschaftler Eric Midelfort als ein „Epiphänomen der Demokratisierung“ bezeichnet wurde, denn diese löste die „demonization of the world“[8] ab;
man agierte in einer Werteunsicherheit; alles, was vorher ins Sakrale integriert war, teilt sich in sacred und secular oder profane auf: langsam wird das römische Recht der allmächtigen Kirche abgelöst durch kaiserliches, monarchisches und nationales Recht (der Papst wird 1309 durch Frankreich von Rom nach Avignon zwangsversetzt; das byzantinisch orthodoxe Konstantinopel wird 1453 von den Türken eingenommen; 1531 bricht Heinrich VIII. in England die Autorität des Papstes):
es existiert kein allgemein gültiges Rechtssystem mehr, das Sicherheit gegeben hätte; Recht wird lokalisiert und somit stark privatisiert, d.h. es fällt aufs Volk zurück, Manipulationen, Verhetzung und Verketzerung, kurz, Massenhysterie nahmen erschreckend zu;
es kommt daher zum Willkür - Recht von unten, meist mit Berufung auf „unsere Tradition“; Menschen, die entweder schwach (Frauen) oder randständig (Lesben, Homosexuelle, geistig Behinderte) lebten, konnten leicht grundlos verdächtigt werden. Eine besondere, meist etwas abweichende Lebensweise liess Menschen aus diesen Randgruppen allzu leicht als gefährlich erscheinen; sie wurden angeklagt, ohne dass sie sich verteidigen konnten; sie kommen vor Gericht; Lynchjustiz nimmt mehr und mehr überhand; Missgunst und Neid grassieren oder schwellen an und können leicht entflammt werden, Gefühle der Rache kommen hoch; Menschen greifen zu ihrer Verteidigung und Abwehr zum Schadenzauber oder voodoo-ähnlichen Praktiken (in der Karibik oder in Afrika);
1022 wurde in Orléans nachweislich der erste Häretiker verbrannt; Historiker spekulieren darüber, ob diese Verbrennung später zum Vorbild oder Modell der ersten
historisch belegten Hexenexekutionen von 1375 wird; diese Hexenhatz dauerte dann über 400 Jahre hinweg, und es wurden sicher, weil in kirchlichen, klösterlichen und fürstlichen Akten belegt, 50'000 Hexen (wahrscheinlich aber ist die Dunkelziffer erheblich höher) verbrannt;
Hexenkraft ist mehr als Häresie: sie betrifft die physische und nicht die spirituelle Welt. Warum wurde Hexerei zum Verbrechen? Diese Frage ist eigentlich nicht geklärt.
es waren Zeiten der Kriege und Katastrophen, von Hungersnot und Pest (heute, vor allem in Afrika, Aids), und man suchte einen Weg der Erklärung, da man nach der scholastischen Denkweise der Dominikaner (Thomas von Aquin, 1225-1274) nicht mehr einfach alles direkt Gott zuschieben konnte; es war eine Zeit der Sündenböcke und Rationalisierungen, d.h. verzweifelten Erklärungsversuche, Projektionen statt Begründungen;
auffallend ist, dass es in Zentraleuropa „eine kleine Eiszeit“ gab: nach 1560 spielte knapp 50 Jahre das Wetter verrückt: zu kalte Winter, zu nasse Sommer, Stürme, Überschwemmungen, etc. gefolgt von lokalen Hungersnöten; das Wetter verhielt sich nicht mehr „naturgerecht“. Menschen sahen das Ende der Welt vor sich. Aber das Unnatürliche musste doch Gründe haben; man fand die Verursacher in Hexen und/oder Besessenheit durch den Teufel.[9]
Einige Bischöfe und Priester waren überzeugt, dass eine radikale Säuberung vorgenommen werden musste, um diese Welt wieder in Ordnung zu bringen. Die Hexen waren wie Opfergaben oder Menschenopfer der Versöhnung mit dem Himmel. In Predigten jener Zeit entdeckt man diese Formulierung „das Übel an der Wurzel packen und ausrotten“ radikal und total. Die Denkweise ist natürlich wirr und verrückt, vor allem, wenn es noch weitergeht, etwa dass unbedingt jemand geopfert werden muss (und dafür sicher auch in den Himmel kommt; man denke an die fundamentalistischen Selbstmörder im Islam); es existierte darüber hinaus noch die Idee der Stellvertretung, d.h. irgend jemand musste geopfert werden; es mussten gar nicht unbedingt Schuldige sein; man berief sich sogar auf Jesus und seine unschuldigen Opferung zur Erlösung der Menschheit;
sowohl im europäischen Mittelalter als auch in Afrika unter dem Kolonialismus hatte eine moderne Medizin eingesetzt, die durch Krieg und Krisen entweder ganz zerstört oder verknappt wurde, sodass wieder zur – inzwischen ziemlich verfallenen – traditionellen Medizin – mit den witchdoctors wie die Europäer, incl. Ethnologen, sie nannten - gegriffen wird. Scharlatanerie und Ausbeutung der Patienten sind heute allgegenwärtig. Kranke werden ausgebeutet; Familien müssen ihr Letztes hergeben. In Afrika bringt AIDS alles durcheinander: Es ist eine „mittelalterliche Lage“;
diffuse Angst geht um; Erklärungsnot herrscht; Führung sowohl vom Staat als auch durch die Kirchen (katholisch und protestantisch) fehlt; Es gibt sowohl ein Machtvakuum als auch eine theologische Krise; Der Dominikanerorden (OP, 1216 gegründet), der vor allem für eine seriöse philosophische und theologische Universitätsausbildung gegründet worden war und die Scholastik anführte, hatte nach unten keine Wirkung. Das erkannte später, in der Gegenreformation, Ignatius von Loyola, der den Jesuitenorden (SJ) 1534 gründete und der sich intensiv der Bildung durch seine Gymnasien, annahm;
wie einst Sekten im Mittelalter nehmen im modernen Afrika unabhängige christliche Kirchen, die IACs, zu. Führend sind die über zehntausend Pfingstbewegungen, die Geistbeschwörungskirchen, die Heilungs- und Wunder-Bewegungen;
auch der Islam zersplittert in fundamentalistische Rechthaberei und sufitische Bruderschaften, in sich gegenseitig verdächtigende Rechtsschulen.
Afrika wird nach der Kolonialzeit vom Chaos überrannt wie Europa im Spätmittelalter. Das koloniale Recht verschwand mit der Unabhängigkeit, doch die neuen Regierungen hatten sich keine Zeit genommen, ein nationales Recht zu schaffen. Das Volk greift wieder auf die heute meist korrupten Chiefs zurück. Der nigerianische Schriftsteller Chinua Achebe charakterisiert die Lage treffend mit Things Fall Apart, Titel seines bekanntesten Romans. Und wenn alles zerfällt, dann kommt die Zeit der Hexen.
Im heutigen Afrika ist also das Vertrauen sowohl in die Chiefs als auch in die Nganga (= traditionelle Heiler, von Europäern witchdoctors genannt) angeschlagen. Es regiert die Willkür der Diktatoren, des Militärs und der Polizei.
Dennoch - was ist anders in Afrika?
Afrika kennt die Grossfamilie, die in Zeiten der Not sich mehr und mehr verkeilt und Einzelnen darin kaum einen Freiheitsraum gewährt. Diese Familie ist nicht mehr der alte Schutz, sondern das Gefängnis der Gegenwart. In Europa hingegen waren Dörfer und Pfarreien durch das Christentum geprägt durchmischt.
Daher versuchen viele vom Land wegzugehen – entweder in die Stadt oder ins Ausland, also weg von der Grossfamilienerpressung. Afrika migriert und wird zur grossen Exodus-Gesellschaft. Eine vergleichbare Lage entstand in Europa erst mit der Industrialisierung.
Die alte afrikanische Familiengebundenheit bleibt dennoch und verstärkt sich sogar im Ausland. Alle schicken Geld aus der Fremde. Keiner und keine entgeht, denn diese Tat ist nicht nur ein Muss sondern auch ein Fluch der Tradition. Im Europa des Spätmittelalters lebte man von der Subsistenz; das Geld spielte noch längst nicht die Rolle wie heute; auch in Afrika existiert nun neben der Subsistenz auch eine Geldwirtschaft.
Da die afrikanischen Auswanderer ihren sozialen Glauben mitnehmen und dieser sich in der Fremde sogar reaktiviert und verstärkt, nehmen sie auch den Geisterglauben mit. So entsteht ein Mechanismus der Erpressung. Wer die Grossfamilie zuhause nicht unterstützt, kommt fast notgedrungen in den Bann der Hexerei. Ging es im abendländischen Mittelalter vielleicht um Glauben (durcheinander gebracht, in dem alles Platz fand), geht es im Afrika von heute um Geld und Überleben.
In Afrika südlich der Sahara kommen noch die Ahnen und ihr Wesen hinzu; diese Ahnen leben weiter, solange jemand an sie denkt; sobald die Lebenden sie zu vergessen beginnen, erinnern sie lebende Verwandte der Grossfamilie mit schädigenden Eingriffen an ihre Existenz im Hintergrund, indem sie allerhand Quälendes oder Unangenehmes aufkommen lassen. Kommt etwa Krankheit daher, denkt der Afrikaner an die Ahnen und man fragt sich: „Wer rührt sich da?“ oder „Wen habe ich vergessen?“ etc.
Der afrikanische Mensch steht also doppelt oder von zwei Seiten unter Druck, entweder durch Ahnen oder durch die Grossfamilie. In diesen Bereichen spielt sich Hexerei ab. Weil afrikanische Menschen in ihrem System noch immer zuhause sind, wirken sich ihr traditioneller Glaube und damit verbunden ihre Einbildung aus. Daraus entsteht ein psychologischer Mechanismus, wobei der sog. Hexen-Einfluss selbst in der Ferne wirkt. Menschen erleiden Lähmungen oder werden krank auf geheimnisvolle Weise. Sie meinen und glauben fest daran, dass sie bewitched wurden und werden, und zwar von Familienmitgliedern und Verwandten.
Diese Form der Hexerei wird zur sozialen Kontrolle innerhalb der Grossfamilie. Witchcraft in dieser Form wirkt nicht – wie im Abendland des Mittelalters – auf andere oder fremde Familien. Im mittelalterlichen Dorf gab es natürlich auch eine strikte soziale Kontrolle, doch war diese nicht an Verwandtschaft gebunden.
Der heutige Hexenkult in Afrika überträgt sich mehr und mehr auf alle Bereiche des Lebens. So entsteht eine Form der Verhexung in der heutigen Politik. Witchcraft wurde in allen Befreiungsbewegungen eingesetzt. Mit witchcraft wird in der staatlichen Einheitspartei operiert. Wer daran glaubt, ist beeinflussbar und manipulierbar.
Hexerei und Magie spielen auf dem afrikanischen Kontinent im modernen Sport eine wichtige Rolle. Man versucht etwa, den Torhüter zu bezaubern oder zu verhexen; Spieler haben Angst bewitched zu werden.
Kurz und schlecht: Hexerei beginnt auf dem Kontinent alle Bereiche des Lebens zu erfassen. Mit dem mittelalterlichen abendländischen Hexenwahn hat jedoch das Ganze wenig zu tun. Man müsste es eher in den Bereich der Magie einreihen.
Südafrika ist anders wegen der Misch- und Apartheidkultur
In Südafrika der Apartheid und auch jetzt nach der Unabhängigkeit spielen Magie und Hexerei sowohl auf dem Land als auch in den Townships eine erschreckend grosse Rolle. In diesem Raum vermischen sich hugenottische und britische Traditionen noch aus dem Mittelalter mit afrikanischen und christlichen Denkweisen. Es fällt auf, dass es nach dem schwedischen Religionswissenschaftler B.G. Sundkler (Bantu Prophets, 1950) gegen 1000 christlich-afrikanische Abspaltungen, die sog. unabhängigen afrikanischen Kirchen (IAC). gibt; 10'000 waren es 2008 in Gesamtafrika.. Ein Grund ist bestimmt, dass Menschen eine neue Gemeinschaft suchen, der Ausschliesslichkeit ihrer Grossfamilie entrinnen wollen und neue „Kräfte“ suchen.
Während der langen Apartheidzeit, die 1947 strikte einsetzte und bis 1989 politisch dauerte, waren die Schwarzen, Bantu genannt, hilflos. Begreiflich, dass sie nach allen Arten von Kräften suchten und zu praktizieren begannen. Ihre Lage war vergleichbar mit Haiti, wo Voodoo ob der Ohnmacht aber auch wegen der Wut im Bauch zu florieren begann. In dieser Zeit begann sich Schadenzauber auszubreiten, aber auch traditionelle Ritualmorde bekamen einen neuen Sinn.
Im südlichen Afrika wird klar zwischen herbalists und witchdoctoris unterschieden. Die vielen Unterscheidungen vom Gris-Gris (alle Arten von Abwehr- und Schutzmitteln) bis zum
Muti (Schwarze Magie Instrumentarien) sind zu einer Exklusivwissenschaft geworden. Kaum ein Weisser vermag da dahinter zu kommen.
Wahrscheinlich dem christlichen Einfluss zuzuschreiben sind die vielen Formen von Besessenheit, von der direkten Teufelsbesessenheit bis zu den In - Besitznahmen durch Ahnen und anderen Geistern. Traditionell waren es frei schwebende Geister, die von Menschen Besitz ergriffen, Geister, die einen ORT haben mussten.
Im südlichen Afrika erschrecken auch die vielen Kleinkindentführungen und die Ermordung von Kindern, die dann in einzelne Teile zerlegt und im Fruchtbarkeitszauber eingesetzt werden
Vielleicht liegt es auch an der freien und breit gestreuten Presse Südafrikas, dass fast täglich über Fälle von Witchcraft und Ritualmorden berichtet wird. Wie Verkehrsunfälle gehören solche Vorkommnisse oder Verbrechen zum Alltag.
Da AIDS im südlichen Afrika grassiert, werden die skurrilsten Mittel und Praktiken zur Prävention und Heilung versucht.
Magische und aussersinnliche Praktiken bei den Yoruba
Damit man nicht in moderner Witchcraft total untergeht, verweise ich kurz und knapp auf die vielen Formen der Hellseherei in Westafrika, vor allem aber auf die ausgeklügelte Praxis des Auswerfens von Wurfhölzern bei den Yoruba.
Wie alle Menschen auf dieser Welt lieben auch die Afrikaner die Vorausschau und das Lesen von Knochen oder Steinen oder Blumen oder Gräsern – immer in der Hoffnung letztlich etwas Wünschenswertes oder Gutes bestätigt zu erhalten. Orakeln wird heiss geliebt.
Interessant ist, dass die Afrikaner südlich der Sahara kaum Mond und Sterne zum Wahrsagen benutzen. Wir kennen bis heute (ausser im islamischen Raum um Timbuktu) keinen afrikanischen Keppler und Galilei
Hexen, ein je anderes Phänomen – je nach Ort und Zeit
Der vorausgehende Teil weist darauf hin, dass das Hexenphänomen ein sehr vielschichtiges und komplexes Ereignis oder Faktum ist. Es könnte leicht sein, dass Hexerei immer wieder anders zum Vorschein kommt. Fragwürdig bloss, wenn eine bestimmte Form in einer Kultur, zu einer bestimmten Zeit und in einem definierbaren Raum, einfach in andere Kulturen übertragen wird.
Ist etwa Hexerei in anderen Kulturen und zu anderen Zeiten variierbar? Ist es einfach eine Variante des Sündenbocksyndroms oder auch der Verschwörungshysterie? Betroffen sind immer wieder andere Volks- und Menschengruppen. Ich gebe drei Beispiele aus der Woche im Juli 2009, als ich diese Analyse schrieb.
- Chinas Minderheitenpolitik ist offensichtlich gescheitert; doch schuld ist nicht die Regierung, sondern – wie China es selbst bezeichnet – die „drei Kräfte des Bösen“, die ethnische Unruhen leicht erklären sollen, Extremismus, Separatismus und Terrorismus.
- Saudiarabien sei frei von Terroristen, heisst es Ende Juli 2009. Nach dem 12. Sept. 2001 gab es einen crackdown im Land; seit 2001 seien im Land 9000 Verdächtigte aus Sicherheitsgründen festgenommen worden; 3106 angebliche Terroristen wurden in Haft behalten, keine formelle Anklage, bloss Verdacht, einige hingerichtet oder in Umerziehungsanstalten gesteckt. Menschenrechtsorganisationen – allen voran Amnesty International - klagen Saudiarabien des terror trial abuses an.
- Zur gleichen Zeit 2009 führt die türkische Regierung einen gross angelegten Prozess gegen Staatsverschwörer, die scheinmbar putschen wollten. Die Angeklagten passen nicht ganz ins gängige Islam-Schema der Türkei. Es handelt sich eher um Liberale, um solche, die eine strikte Trennung zwischen Religion und Politik fordern.
„Hexenverfolgungen“ scheinen Varianten von Machtkämpfen und Politverfolgungen zu werden. Aber waren sie das versteckt nicht schon eh und je? Oder sollte man Hexerei eher als Formen der Magie erklären? Denn erstens gehört etwas Magie zur Alltagskultur. Hexerei wäre dann einfach eine angenommene oder geglaubte Fertigkeit, andere durch die Macht der Dämonen oder des Teufels (im westlichen Verständnis) zu schädigen.
Nichts verschwindet ganz, auch nicht durch eine Bekehrung. Die Volkskultur bewahrt schamanistische und animistische Elemente, alle Arten magischer Praktiken für den Alltag.
Die Volksmagie ist so vielschichtig wie die Lebenswelt, deren Teil sie war und ist. Es gibt keinen Lebensbereich (ob religiös oder nicht), der völlig frei von Magie wäre.
Ich bin überzeugt,
- wir haben diese Fragen zu berücksichtigen, um der afrikanischen Witchcraft etwas näher zu kommen;
- wir Westler haben uns in Wissenschaft und Theologie viel mehr um Zwischenräume und Zwischenwelten zu kümmern. Es kann doch nicht sein, dass die Menschen aller Kontinente an Formen von Geistern glauben und nichts dahinter steckte. Oder sind es bloss populistische Ahnungen, ein zeichenhaftes Ringen um Deutungen von momentan unerklärlicher Phänome?
- wir haben religionswissenschaftlich und theologisch Erklärungen von Ahnen, armen Seelen, Engeln und Dämonen nachzugehen. Die Gegenwartssprache erfasst solche Welten entweder nicht oder dann diffus und verwirrend.
Man soll nicht Kurzschlüssen zum Opfer fallen
Vom Klima bis zur Bevölkerungsexplosion (etwa im Spätmittelalter und im heutigen Afrika), von Religion bis zur Politik wird alles zur Erklärung beigezogen. Jeder dieser Faktoren mag zu einer gewissen Zeit und in einem bestimmten Raum entweder mehr oder anders mitgespielt und mitgewirkt haben.
Immer wieder wurde in neuester Zeit unterstellt, dass die Hexe ein weibliches Phänomen sei. Die Forschung hat diese Annahme nicht nachweisen können. Alle erwähnten Forscher stellen fest: Misogynie als treibende Kraft einer Hexenkultur ist nicht nachweisbar. Rund 6000 Männer fielen Hexenprozessen ebenfalls zum Opfer (etwa 12% vom Total).
Es kamen auch nicht vor allem Hebammen unter Verdacht und Anklage; die Hebammen kamen eher hinzu, weil Kinder kurz nach der Geburt starben und man den Tod nicht erklären konnte.
Genauso wenig kann die Hexenverfolgung dem Katholizismus allein zum Vorwurf gemacht werden, denn es gab Hinrichtungen bei allen christlichen Denominationen.
Hexerei sollte keinesfalls idealisiert werden; es ist stets gefährlich, sich auf Messers Schneide zu bewegen; es besteht Gefahr, dass Spielereien leicht ins gefährliche Gegenteil kippen. So ist es riskant, die Hexenbewegung als Frauenemanzipation zu charakterisieren oder als
esoterische Tradition aus den alten Ägypten oder Vorderasien hinzustellen; auch eine Idyllisierung der Hexensabbate ist kaum gerechtfertigt, denn die meisten historisch erwähnten
Zeremonielle waren Hirngespinste mit skurrilen Vorstellungen, Bilder einer verklemmten Sexualität oder reine Phantasmagorien. Auch Witwenverbrennungen in anderen Kulturen haben einen anderen Hintergrund als Hexerei. Manches kommt also höchstens als Begleiterscheinung mit dazu. Diese Autoren erfassen historische Ereignisse sehr oft selektiv oder gar als Alibi; Geschichte jedoch besteht aus Tausenden von Teilchen; ein Fakt allein macht keine Historie aus.
Fragen, die sich ergeben oder denen man nachgehen müsste
- Wo handelt es sich um Fehlvergleiche und Zufälligkeiten?
- Wo berühren sich westliche und afrikanische Hexerei?
- Ist das Wort oder der Begriff zur Kolonialzeit für Afrika aus Europa einfach übertragen worden, ohne auf den Kontext oder eine andere Bedeutung zu achten?
- Gibt es je nach Kultur, Geschichte, sozialen Systemen oder bestimmten Gegenden (Berge, Wüstenzonen, Wälder) verschiedene Hexenformen? In Afrika wäre das Gefäss die Grossfamilie; in Europa fanden die Hexenverfolgungen innerhalb von Kirche und Staat statt.
- Ist der Begriff witchcraft überhaupt ein korrekter Begriff oder ein Topos für Bilder aus verschiedenen Kultur- und Denkwelten?
- Hat man aus der Welt der Religion und Theologie herauszutreten, um zum Kern oder einem anderen Kern vorzustossen?
- Ist im Westen die Hexenzeit vorbei? Was bedeutete die Verdächtigung, ein Kommunist zu sein, im Kalten Krieg? Was ist die heutige Terroristenhatz anderes als eine Form der Hexenjagd? Da kann der Staat sogar so weit gehen, alle Rechte auszusetzen, mit Folter Geständnisse zu erzwingen – wie einst im Spätmittelalter bis in die Neuzeit.
- Gibt es also weltweit immer wieder neue Formen der Hexerei und Hexenverfolgungen? Fällt nicht auch der Holocaust unter dieses Raster? Oder folgt die Roma- und Sinti- Diskriminierung nicht dem Hexen-Muster?
- Sind die Amerikaner noch nicht hinweg über ihren Hexen-Komplex von Salem in Massachusetts? Man denke bloss an Ku-Klux-Klan oder Verfolgungen durch die Mafia, an J. McCarthy, den Kommunistenjäger der 50er Jahre oder Fox-TV der Gegenwart, u.a.
- Oder sind im Afrika von heute Diktatoren mit ihrer Geheimpolizei die Hexenjäger? Hat, was in der Grossfamilie Hexerei, nicht viel mehr mit Daseinsnot und sozialer Kontrolle zu tun?
- Sind nicht verschiedene Rechtsparteien heute ein Pflaster für neue Hexenjagden, gerichtet gegen Ausländer, besonders gegen Schwarze, Araber, u.a.
- Sind Menschenrechts- und Journalistenmorde –ob in Tschetschenien oder in Kenya - nicht auch Varianten einer Hexenjagd? Wobei bei all dem das Wort Hexe der falsche Begriff ist, denn es geht immer um Kämpfe im Alltag; selbst unter gewöhnlichen Menschen kommen Verdächtigungen vor, alle möchten auch etwas mehr Mitbeteiligung, etwas mehr Respekt und Achtung; niemand möchte verachtet werden, auch nicht der aus dem gewöhnlichen Volk.
Verkürzt sei gesagt: Hexenglaube wie Hexenverfolgungen sind primär gesellschaftliche und nur zufällig religiöse Phänomene, stets die Gesellschaft und den Zeitgeist widerspiegelnd. Das Abendland operiert mit dem Abbild; Afrika mit dem Ebenbild, resp. der Entsprechung.
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Al Imfeld, Ende Juli 2009
[1] Routledge, Taylor & Francis Group, London & New York. 404 p.
[2] Untertitel: Eine historische Einführung. Im Campus Verlag, Frankfurt/New York 2007. 197 S. Dillinger geht im Aufbau des Buchs fast gleich wie der Reader von Oldridge vor; eigentlich hätte er ihn kennen können, aber erwähnt wird die 1. Auflage von 2002 nicht.
[3] Zauberpraktiken und Lebenshilfe. Magie im Alltag vom Mittelalter bis heute. Campus, Frankfurt/New York 2003. 345 S.
[4] David Signer, Die Ökonomie der Hexerei, oder Warum es in Afrika keine Wolkenkratzer gibt. Trickster im P. Hammer Verlag, Wuppertal 2005
[5]Eric de Rosney, L’Afrique des Guérisons, dt. Heilkunst in Afrika : Mythos, Handwerk und Wissen. Unionsverlag TB 245, Zürich 2002 (früher bei P. Hammer Verlag)
[6] Die hungrige Strasse. Roman. dtv München 2000
[7] Mein Leben im Busch der Geister. Berlin 1991. Und sein Klassiker: Der Palmweintrinker. Unionsverlag TB, Zürich 1994
[8] Im Reader von Oldridge S. 2o4
[9] Unglaubliches geschah in Bezug auf Hexen in dieser Zeit. Deutschland war von einem Wahn erfasst. Ein paar Beispiele. Zwischen 1587-93 wurden in der Erzdiözese Trier 368 Hexen aus 22 Dörfern verrannt. 2 Dörfer hatten 1585 nur mehr einen weiblichen Bewohner. – Rund um das Kloster Quedlinburg wurden an einem einzigen Tag 1589 133 Hexen exekutiert. – Rund um die Abtei Fulda gab es zwischen 1603-05 205 Opfer. – Die Fürstprobstei Ellwangen veranlasste zwischen 1611-18 390 Hexenverbrennungen. - Der Prinz-Bischof von Würzburg liess in den 1620er Jahren 900 Hexen hinrichten, darunter seinen eigenen Neffen, 19 katholische Priester und mehrere kleine Kinder, die von den verurteilten Priestern getauft wurden. - Der Prinz-Bischof von Eichstatt liess allein 1629 244 Hexen verbrennen. - Der Erzbischof der Diözese Bamberg liess während seiner Herrschaft 1623-33 600 Hexen hinrichten, darunter seinen eigenen Kanzler plus den Bürgermeister von Bamberg - Ich könnte weiterfahren. Die Hysterie und Grausamkeit jener Tage sind schlicht unvorstellbar; sie erschrecken und stimmen nachdenklich. Hinweise stammen aus dem Oldridge Reader.