Gantry 5

Zu den afrikanischen Ursprüngen von Kuh oder Vieh (Bos spp)

 

Bis vor kurzem hätte keine/r nur zu denken gewagt, dass auch Afrika seine Kuh hat. Die Kuh gehörte einfach zu den heiligsten Tieren ins Gebiet des Fruchtbaren Halbmonds; sie gehörte wie der Weizen kurz nach seinem Verlust des Paradieses an den Ort nach dem Beginn des Menschen. Das sagte die Hl. Schrift; das glaubten abendländische Menschen; und sie waren der Massstab. So war es dem uns bereits in diesem Buch bestens bekannten H. Epstein mit seinem gigantischen Werk 1971 von weit über 1000 Seiten über den Ursprung der Haustiere in Afrika ganz selbstverständlich, dass die Kuh mit Afrika keinen Ursprungsbezug haben konnte. Wie alle bis anhin leitete auch er seine Kühe vom scheinbar inzwischen ausgestorbenen Auerochsen ab.

Seitdem wir jedoch die Bibel als Ausgangspunkt verlassen, seit wir uns vom Crescent Circle als Ursprungsort  etwas mehr in die Welt hinaus begeben haben, ja, seit wir uns von der Mittel-Ost zentrierten Diffusionstheorie mehr und mehr abzuwenden oder sie zu modifizieren beginnen und nicht mehr alles über das Zivilisationsbad Ägypten  nach Afrika einfliessen muss, hat sich auch die Geschichte der Kuh und des Viehs insgesamt verändert. Plötzlich kann gleichzeitig und unter ähnlichen Umständen an verschiedenen Gegenden der Welt Ähnliches und Gleiches nicht nur gezüchtet, sondern auch domestiziert wurde, kommt die Forschung zögernd zu einer dritten und zwar einer afrikanischen Variante eines Ursprungsorts der Kuh. 

In die Irre geführt wurde die Rinderforschung in der wissenschaftlichen Frühzeit durch den Wahn der Messung. Lange wurden die Hirnkapazitäten (cranial capacity) aller Rinder der Welt zu erfassen versucht, um damit – wie angenommen wurde – eine Verwandtschaft und somit Abstammung festzustellen. Ein weiteres Studium bildeten die Hörner, ob kurz oder lang, ob wie Harfen in die Lüfte geschwungen oder eher wie Speere, und man fragte sich, ob sich etwa daraus Kämpfe aus der Evolutionszeit ableiten liessen? Ein drittes wichtiges Merkmal war der Buckel: Buckel oder keinen, das war die herausfordernde Frage.

Die Bauern rund um den Napf und am Rand der Obwaldner- und Brienzeralpen haben drei ganz verschiedene Braunrassen, die eine für die Alp angepasst, die andere an die steile Hügelkultur, die Entlebucher mit einer Kuh mit Klauen eher ans Tal angepasst, dazu kamen die Emmentaler Flecken. Vier Kuhtypen in einem so kleinen Raum; Afrika zeigt uns dasselbe: kleinräumliche Viehkulturen, weil es stets eine neue Anpassung brauchte, um nicht nur überleben, sondern einigermassen lustvoll leben zu können.

Afrikanische Viehbauern waren jedoch mehr an Schmuck und Schönheit, etwa an Hörnern und am Geweih interessiert, besonders wenn es eine betende oder ehrfürchtige Stellung einnahm. Die Haut war bei anderen ganz wichtig: ob hell oder gefärbt, ob gezeichnet und wie Bilder einer jenseitigen Welt. Vor der Milch kam meistens der Kot, denn Kuhmist war das Beste, für ihren kargen und salzigen Boden das Geheimnis. Eine ganz wichtige Rolle spielten Kuh und Ochs als Zugtiere; man stellt dies vor allem in Westafrika fest.

Drei Sichten manifestierten sich also: die gewöhnlichen Bergbauern in Zentraleuropa, die vielen Sichten Afrikas und die der Wissenschaftler. Am Unbeholfensten traten lange die Viehwissenschafter an Ort und Stelle. Die Erforschung der Vergangenheit und des Ursprungs war ihnen versperrt; sie gaben sich zwar aufgeklärt, hielten jedoch noch lange an den falsch verstandenen Aussagen der Schriften fest.

Man hat erst in der Domestikationsforschung langsam die Grenzen gesprengt; der Mönch Mendel und Charles Darwin erst wiesen neue Wege. Schritt für Schritt, jedoch sehr mühsam, ist das Feld weiter und somit auch älter geworden. Man ist nicht mehr an das alte Datum von 8000 BC gebunden. Man begann die alten Felszeichnungen der Sahara neu zu analysieren und stellte fest, dass sie vor 12'000 BP entstanden sein müssen, also dann, als die Sahara noch fruchtbar und feucht war. Durch die ganze Wüste hindurch fielen an Felsen und in Höhlen die vielen Kuh- und Kalbmotive auf. Diese Menschen mussten doch ein Vorbild gehabt haben, folglich gab es die Kuh schon früher, als andernorts der Ursprung angenommen wurde.

Nach und nach in den letzten 30 Jahren wurde die Geschichte des Viehs viel komplexer und auch spannender. Man hat dabei auch realisiert, dass Menschen in ihrem Kontext weltweit ähnliche Gedanken, Absichten und Ziele hatten, und dass nicht einzelne Dinge plötzlich von oben offenbart wurden und sich dann über die Erde verbreiteten. Aus einem Interventionismus von oben und Kreationismus ex nihilo waren wir mit menschlicher Geschichte auch im Tier- und Pflanzenreich konfrontiert. Die menschliche, aber auch die  Geschichte von Fauna und Flora mit allem Drum und Dran wurden spannend, mehrdimensional, somit aber auch etwas konfuser. Die Eindimensionalität war begraben. 

 

Genanalysen weisen weiter – vor allem auch in die Diversität

In den letzten Jahren nun kam die Hilfe der Gen-Analyse dazu. Die Forschung hatte schon lange damit gearbeitet, doch sie drang immer tiefer in die Chromosomen. Ganze Teams forschten zusammen. Hervor gingen die bekannteste Arbeiten von D.G. Bradley zusammen mit D.E. MacHugh, P. Cunningham und R.T. Lotus. 1996 veröffentlichten sie „Mitochondrial Diversity and the Origin of African and European Cattle”. Seither tauchen ihre Namen in Forschungsberichten laufend auf. Ihr Schluss lautet 2008 klar: Es gibt einen dritten und zwar afrikanischen Ursprung des Rinds.

Gleichzeitig arbeitete D. G. Bradley (und die anderen bereits erwähnten MacHugh, Cunningham, Loftus) mit der Mitrochondrial Verschiedenheit und stellte neue Bezüge zwischen Europa und Afrika und umgekehrt, also ganz klar sogar einen Einfluss aus Nordafrika heraus auf Europa fest.

Die Mitochondrial-Forschung hat den Weg des Genlesens bereitet. Die mitochondriale DNA oder kurz mtDNA ist laut biologischem Lexikon „ein zirkuläres, doppelsträngiges DNA-Molekül im Inneren (Matrix) der Mitochondrien“ und wurde erst 1963 entdeckt. Man kann also schrittweise auf den Ausgangspunkt rückschliessen, weil (theoretisch) angenommen wird, dass Mitochondrien und Chloroplasten ursprünglich eigenständige Organismen waren und daher zu Vorläuferzellen wurden. Die Muster der mitochondrialen Verschiedenheit lassen beim Rind auf keinen Fall auf nur einen einzigen Ursprungsort innerhalb der letzten 10'000 Jahre schliessen. Afrika hat seriös einbezogen zu werden. Vorderhand könnte man gar den Schluss wagen, dass Afrika früher als Europa am Rind dran war. Eine Domestikation in der früheren Sahara schliessen Bradley et al. (1996) heute nicht mehr aus.

Ist das Gen allein schon spannend, wird es noch viel mehr, sobald man Zusammenhänge oder Abhängigkeiten feststellen will. So wird komplizierte Genforschung letztlich auch ein Teil der Erforschung der Geschichte von Menschen, Tieren und Pflanzen. Die europäische Forschung müsste stärker auf der nacheiszeitlichen Lage aufbauen, diese Eiszeiten ernst nehmen. Die Eiszeiten sind der neue Kontext einerseits, aber auch der Blick darüber hinaus nach neuen Ideen kommt hinzu. Dabei ist die Saharagegend nicht ausgeschlossen. Zeichen der Fels- und Höhlenmalerei gilt es, nicht kontinental auseinanderzureissen. 

Über die Erstellung der gesamten Genom-Struktur wurde Ende April 2009 in Science 324, 522-531 berichtet. Somit gilt das Erbgut der Kuh als entschlüsselt. Die Wissenschaftler klassifizierten rund 22'000 Gene, 80% davon mit Menschen teilend; 1000 Gene, die sie nur mit Hunden und Nagetiere gemeinsam haben. Die Genome zeigen, dass die Rinder den Menschen genetisch ähnlicher sind als Nagetiere – und dies hat einige überrascht, weil das Nagetier zeitlich dem Menschen näher steht.

 

Zur Deutung zurück

Wir wurden auch wieder einmal an die Grenze geologischer Festlegungen geführt, etwa jener, dass selbst das Pleistozän weltweit nicht überall dasselbe Gesicht zeigte. Im Unteren Pleistozän (auch Calabrium genannt; datiert von 1,8 Mill. Jahre bis etwa 7'800 Jahre BP) gab es im Norden Eiszeiten, derweil im südlichen Teil der Halbkugel Feuchtigkeit vorherrschte und die Sahara fruchtbar war. Nach 12'000 BP hielt in der Sahara langsam die Trockenheit Einkehr. Wir sehen, auch Geologen haben in Zukunft flexibler zu sein und mehr als bloss „objektives“ Gestein, sondern auch Landschaftsbilder, einzubeziehen. 

Zurück zu den früher angenommenen zwei Grundrassen, den Bubalus und den Synverus, dem asiatischen und dem afrikanischen Büffel. Die haben wohl mitgespielt, denn die Menschen haben alles nur Mögliche ausprobiert; sie haben nie einseitig oder eingleisig gezüchtet; man probierte aus, liess fallen, nahm andere Arten mit auf, bezog ein, also ein Hin und Her. So ist es auch einsichtig, dass es weltweit derart viele Rinderrassen gibt und das Hausrind überall verbreitet ist. Die Zebu-Rassen sind den Tropen besser als jede andere Art angepasst. Wahrscheinlich – auf diesem Hintergrund – bleibt der Auerochs (Bos Primigenius) eher eine mythische Figur.

Damit stossen wir auf einen symbolischen und sakralen Aspekt der Kuh. Sie wird zum Urbild der Mutter. Sie wird in Indien zum Hl. Tier. In der alten Sahara wird sie zum Urbild des Lebenden, denn soviel wie sie vermag niemand, weil sie vier Mägen, den Pansen, den Netzmagen, den Blättermagen und den Labmagen besitzt. Eine Kuh setzt wahrlich ihr Futter um und gibt erst noch am Ende den kostbaren Kuhfladen her.

 

Etwas afrikanisches Kolorit

Studiert man die Rindergeschichte fällt auf, welche Lust und Freude Viehzüchter – männlich wie weiblich – am Kreuzen, Isolieren, besonderer Pflege, Futterproben usw. gehabt haben müssen. Von einem anderen Gesichtspunkt aus versteht man die grosse Liebe des Pastoralisten zu seinem Vieh.

Ein afrikanischer Mitursprung einer eigenen Kuh-Domestikation gilt 2009 als sicher. Man wird die Masai-Kühe in Kenya/Tanzania und die Borana Kühe in Äthiopien/Nordkenya, die Fulani- oder Peul-Hirtenzüchter neu und anders als nebensächlich in die Landwirtschaftsgeschichte einbeziehen müssen.

Eins muss man H. Epstein - sehen wir einmal von afrikanischer Haustiergeschichte ab – zuerkennen: er listet alle möglichen Kühe und Rinder des ganzen Kontinents auf und beschreibt sie konzis. Er teilt die Kühe ein in Langhorn mit Buckel und Kurzhorn ohne Buckel. Man ist erstaunt über diese Vielfalt afrikanischer Kühe, sodass man aus einiger Distanz heute beinahe spontan sagt: solche Diversität konnte nicht aus einer Quelle allein  kommen. Bei Epstein ist ein zentraler oder primärer Ausgangspunkt hamitisch und Ägypten; sekundär kommen dann in Westafrika die Portugiesen hinzu, etwa bei der buckellosen, Langhorn-Kuh N’Dama in Guinea, Gambia, Sierra Leone und Liberia. Sollen denn wirklich die tschadische Kuri mit den Riesenhörnern, die den See braucht, weil sie der Trockenheit kaum widersteht, die Namji Langhorn in Nordkamerun, die bis vor kurzem nur sakralem Zweck diente, oder die Bambara-Kreuzung in Mali, leicht gefärbt, und ausserordentlich dem Boden und Klima angepasst, von Ägypten ausgegangen sein? Steht dahinter nicht eine Missionsidee auf Kuh-Ebene?

Die afrikanischen Rinder werden hoch aktuell mit ihrem besonderen Erbgut, ihrer gezüchteten, stets ausserordentlichen Anpassungsfähigkeit an Klima, tägliche Hitze oder eine nächtliche Kühle, an Trockenheit und gemischtes Futter. Eine afrikanische Kuh ersteht sehr lebendig. Die Kuh hat zusammen mit dem Menschen seit Jahrtausenden in diesen Gegenden gelebt und beide haben sich dem Gegenüber immer wieder angepasst. Die Geschichte der afrikanischen Kuh ist eine stolze und geht weiter.

 

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Al Imfeld, 05. 2009