Gantry 5

Bei den epochalen Übergängen liess man sie allein

Aus den vielen und meist miteinander verknüpften Ursachen der Hungersnot am Horn von Afrika greife ich einige knapp, verkürzt und vereinfacht heraus. Die betroffenen Menschen stehen inmitten eines gnadenlosen und für uns unvorstellbaren Wandels.

 

Wandel 1: Vom Pastoralismus zur Ansiedlung mit Hackkultur

Die allermeisten Böden in den Staaten Somalia, Eritrea und Djibuti

eignen sich nicht für eine fest angesiedelte Landwirtschaft. Genauso verhält es sich in den Tiefen von Kenia und Äthiopien. Der Sudan kann weitgehend hinzugezählt werden. Hier haben wir Böden mit einer geringen Humusschicht, durchschnittlich weniger als 15 cm. Solche Böden darf man nicht mit einem Pflug bebauen, denn dieser reisst zuviel auf und kehrt Humus an die Oberfläche, wo er sofort vertrocknet und verstaubt. Dieser Staub wird sofort von Winden weggeblasen. So wachsen Wüsten.

Diese Böden sind eigentlich nur für Weiden geeignet. Und so wurde es auch in der Tradition gehandhabt. Die Bauern hielten Vieh, eine Mischung von Kühen, Ziegen und Schafen; bei den Wohlhabenden kamen ein paar Kamele hinzu. Eine richtige Mischung von Vieh und ein angepasstes Verhalten beim Weiden sind eine Kunst mit viel Erfahrung, meisterhaft betrieben, variiert und stets wieder neu ans Gelände adaptiert. Die Moderne hat nicht nur langsam dieses Wissen erodiert, sondern auch lächerlich gemacht und als veraltet taxiert. Wachstum war das neue Wort. Wachstum war das Mass aller Dinge. Zurückhaltung und Langfristigkeit zählten nicht mehr. Niemand will ein Rückständiger sein. Doch dieser Wandel wirkte sich für alle – Mensch und Natur – verheerend aus.

 

Wandel 2: Wasserverbrauch stieg, Niederschläge gingen zurück

 

Man kann Landwirtschaft nur mit Bewässerung betreiben. Doch woher soll das Wasser kommen. In diesen Steppen gab es überall verstreut Tiefbrunnen. Das reichte meist für das massvoll gehaltene Vieh. Dann aber kam die Moderne mit einem Gesundheitswesen für Mensch und Vieh. Immer mehr Menschen überlebten und immer mehr Vieh wurde von diesen Menschen gehalten. Es führte zu einer Bevölkerungs- und Viehexplosion. Schon hier ging das Wasser bedrohlich zurück.

Anscheinend gingen sogar die ohnehin kärglichen Niederschläge aufgrund eines Klimawandels zurück. Planlos waren die Menschen vorgegangen, sodass wir an einem Punkt stehen, wo fast nichts mehr geht.

Die neue Landwirtschaft verschlang sehr viel Wasser, denn man musste bewässern, wollte man Ertrag haben. Kleine und grössere Flüsse wurden für diesen Zweck gestaut. Doch nicht alle konnten das Wasser nutzen, denn dafür musste bezahlt werden.

 

Wandel 3: Übergang von der Subsistenz zur Geldwirtschaft

Die traditionelle Wirtschaft war weitgehend ein Tauschhandel, wo man feilschen musste. Nun jedoch brach überall die Geldwirtschaft mit fixen Preisen herein. Die Hirten oder Pastoralisten (das Wort Nomade ist nicht nur verpönt, sondern auch inkorrekt) gerieten mit dem Viehhandel ins Ungewisse. Also forderten sie masslose Preise, immer ans Feilschen denkend, doch dafür fehlte bei den neue Händlern die Zeit. Man zahlte wohl etwas weniger als das ursprünglich Verlangte, aber es war zu hoch. Es entstand eine folgenschwere Abwertung. Die Auswirkung folgte unmittelbar im sozialen Alltagsleben. Zahlte man früher einen Brautpreis mit entweder 3 Kamelen oder 10 Kühen, stieg der Preis heute bis zu 100 Kühen. Folge ist, dass die Pastoralisten immer mehr Vieh halten mussten, und dafür fehlten die Weiden, also kam es zu Klan-Kämpfen unter verschiedenen Hirten-Familien. Auswirkungen sehen wir ganz klar im heutigen Somalia mit all den Klan-Turbulenzen, die nach und nach alle blind machten.

Eine weitere fatale Auswirkung betraf die Nahrungsmittel. Die neuen sesshaft gewordenen Bauern wollten ihren Preis für die Produkte, aber woher hatten denn die Schichten dazwischen, zwischen Vieh und Markt, ihr Geld. Erspartes konnte es gar nicht geben; man muss den Schmuck verkaufen; man verliert an Menschenwürde, man wird zum Hunger-Pack.

 

Übergang 4: Eine neue Vorsorge muss geschaffen werden

Mit einer Kuh oder Kalb auf der Weide oder mit ein paar Ziegen und einigen Hühnern hatten die Pastoralisten „stets noch etwas“ , aber wenn nun beim Übergang zum Brot, Hirse oder sogar Fonio aus Regenmangel abstirbt, fehlt die Reserve. Es heisst, schon in der Bibel habe man gewusst, wie riskant Sesshaftigkeit ist und baute daher die Bitte „Gib uns unser tägliches Brot“ ins Vaterunser ein.

In Afrika allgemein und am Horn im Besonderen fehlen plötzlich die Grundlagen einer Vorsorge. Es braucht eine langfristig Vorratsplanung, eine, die unantastbar ist, bis tatsächlich die Notlage eintrifft.

Menschen können solche Vorsorgelager aufbauen, wenn Friede herrscht. Wenn jedoch diese Lager dauernd von Feinden oder auch nur „bösen Nachbarn“ überrannt, sogar abgebrannt und sehr oft geplündert werden, was dann? Und wenn die Regierungen die eigentlich geforderten Mais- oder Hirse- oder sogar Weizenlager für fremde Devisen spekulativ halten, um zu viel fremden Devisen zu kommen, dann kann auch das Volk kein Vertrauen mehr haben.

Westafrika ist besser dran als das Horn, denn dort gibt es Knollenfrüchte unter Boden: Yams, Kassava oder Süsskartoffeln, u.a. In Ostafrika kann höchstens auf die Banane gezählt werden. Man kann kleine Gärten anlegen, die jedoch heute eingezäunt werden müssen, denn sonst fressen Ziegen und Kühe das mühsam Angebaute weg. Mit diesem notwendigen Zaun ist die alte Tradition der Peul und Fulani tot. Diese Hirtenvölker können nicht einfach über den Kontinent ziehe und überall ihr Vieh weiden lassen.

Was heisst das praktisch? Den Pastoralisten muss, so wie bei uns in den Alpen oder im Spätherbst, Weideplatz zugeteilt werden. Dann könnten sie von solchen Plätze – genossenschaftlich organisiert – von Weideplatz zu Weideplatz ihr Vieh treiben. Das wäre unser traditionelles Tanshumanz -System. Man nennt unsere Bergbauern auch nicht Nomaden, sondern Älpler. Afrikas Pastoralisten befinden sich in einem historischen Wandel und brauchen ihre Begleiter im Übergang, so wie wir den Christophorus als Symbolfigur kennen.

 

Übergang 5: Vom Clan zur Genossenschaft und einem Landrecht

Ich glaube, in dieser neu entstehenden Lage braucht es dringend ein Land- und Wasserrecht; beides existiert nicht. Natürlich besass die Tradition ihr Recht. Aber dieses ist heute unwirksam, weil nicht mehr den Verhältnissen entsprechend.

Und diese gewaltige Lücke öffnet Demagogen, sehr oft religiös verkleideten, Tür und Tor. Im Raum vom Horn wird populistisch sofort mit dem Islam und den vielen Sufi-Sekten manipuliert. Man gibt vor, der Westen erobere sie; aber sie müssen ihren Umbruch, in dem sie stehen, so oder so, nicht als eine amerikanische oder westliche Eroberung wahrnehmen und gestalten. Verketzern hilft nichts. Selbst die Scharia löst diese neuen Rechtsprobleme nicht, d.h. wer sie beibehalten will, muss sie dem Propheten gemäss erweitern und erneuern.

Diese Gesellschaften müssen erkennen, dass der Übergang, in dem sie sich befinden, genossenschaftliche Ideen abverlangt. Weiter müssen sie wohl realistisch erkennen, dass die Zeit der rein religiösen Gesellschaft, aber auch der Grossfamilie, vorüber ist. Das bedeutet noch lange nicht Säkularisierung; Anpassung an neue Gegebenheiten bedeutet auch eine fortlaufende Menschwerdung. Von unserer Seite heisst diese Menschwerdung Anteilnahme, Ehrfurcht, aber bloss nicht Arroganz und Kulturdünkel.

 

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Al Imfeld, 6. Aug. 2011