Einführung in die Problematik
Jeder Mensch, der ein Wort ausspricht, nimmt an, dass sein Gegenüber, wo immer er lebt und welche Sprache er auch spricht, dasselbe unter dem betreffenden Wort vers teht. So g ab es eine lange Zeit, wo man davon ausging, man könne wörtlich, also Wort für Wort übersetzen und treffe damit dieselbe Bedeutung wie es der Urtext verstand. Doch dem ist bei weitem nicht so. Ein Beispiel. Falls eines klar war, dann musste das Wort Gott in jeder Sprache dasselbe bedeuten. Das Wort Jahwe im Alten Testament bekam jedoch bereits im Neuen Testament eine neue und erweiterte Bedeutung. Jahwe im AT ist nicht derselbe wie im NT. Nehmen wir ein triviales Beispiel. Das deutsche Wort Liebe hat einen anderen Sinn als das englische – und noch mehr das amerikanische Love; noch einmal anders schwingt das französische amour. Dasselbe trifft zu auf das Wort Freundschaft. Viel leichter bezeichnet ein Amerikaner jemanden als friend; im Deutschen ist ein Freund etwas Tieferes als im Englischen. Afrikaner mit einer Bantusprache kennen den Freund in unserem Sinn nicht; das meiste spielt sich in grossfamiliären Bezügen ab; ausserhalb dieses Systems ist durch den Kolonialismus und die Mission bedingt ein Freund jemand, der hilft und hat daher sehr viel mit einer ausserfamiliären Nothilfestelle zu tun.
Es folgen nun einige Feststellungen.
· Die tiefste Schmach „Afrikas“ hat mit der Aberkennung des Menschseins oder der Verachtung afrikanischer Menschenwürde zu tun.
Es wird von Afrikanern immer wieder der Philosoph Imanuel Kant erwähnt, der afrikanischen Menschen ihr Menschsein aberkannte und daher ihnen weder Religion noch Kultur, weder Geschichte noch Rechte zuerkannte. Auch Thomas Jeffersons Satz wird immer wieder zitiert: „Negroes were inferior in all but memory.“ Der renommierte nigerianische Denker und Literat, Chinua Achebe, geht in mehreren Aufsätzen auf diese offenen und unterschwelligen Urteile in der Essay-Sammlung mit dem zunächst eigenartigen Titel, nämlich The Education of a British-Protected Child (Alfred A. Knopf, New York 2009) ein. Alle gesammelten Aufsätze kreisen vieldimensional um das koloniale Umfeld und die daraus sich ergebende Erziehung und Formung der Menschen in diesem kolonialen Feld. Die Briten gaben vor, dass das afrikanische Kind in der neuen Umgebung zu einem British-Protected Child wird. Zu dieser kolonialen Welt zählt Achebe auch Dr. Albert Schweitzer; er bezichtigt ihn der Blasphemie, weil er mehrere Male gesagt haben soll: „Der Afrikaner ist natürlich mein Bruder, jedoch der kleine Bruder.“ „The African is indeed my brother, but my junior brother.“ Es ist Achebe unbegreiflich, dass Schweitzer zwar die Atombombe bekämpfte, nicht aber die Apartheid Südafrikas. Es wird ihm jedoch klar, wenn er das ganze Umfeld und den Zeitgeist, dem auch Schweitzer verpflichtet war, seine Antwort fast wie anerzogen war und er voll und ganz in der kolonialen Tradition stand, deren Ideologie Achebe folgendermassen auf den Punkt bringt: „Frage: Gab es Menschen dort? Antwort: Well...not only, you know... people of sorts, perhaps, but not as you and I understand the word.“ Auf diese Antwort kann Achebe sehr gut die Ideologie des Kolonialismus zurückführen. Letztlich wirke sie bei den westlichen Menschen bis heute nach. Anders war es mit der Atombombe, die neu ins Geschichtsfeld trat und auch Schweitzer philosophisch fast wie neu ansetzen konnte. Achebe verfängt sich, von einem westlichen Literaturkritiker aus betrachtet, selbst im Gestrüpp, wenn er zu Joseph Conrad und seinem Klassiker Heart of Darkness kommt. Der Pole Conrad schrieb ein literarisches Werk, in dem er die Vorstellung jener Zeit um 1900 eindrücklich – wie manche bei uns meinen polemisch - wiedergibt. Achebe nimmt jedoch den Text als real und unterstellt Conrad, dass diese grauenhafte und menschenverachtende Landschaft Conrads Überzeugung und nicht eine literarische Vorstellung sei. Achebe klagt Conrad an, ein koloniales Menschenbild zu beschreiben, etwa mit den wiederkehrenden Worten „rudimentary souls“, „tainted souls“ oder „small souls“. Achebe meint, Conrad relativiere das belgisch-koloniale Afrika nicht, kreiere also kein anderes Afrika, sondern im Gegenteil lege er noch einen obendrauf und erfinde ein Afrika, in dem das Böse noch überhöht wird; bei dem es nichts Gutes und bloss Grausamkeit gibt. Conrad – so glaubt Achebe – hat das Afrikabild von heute wesentlich mit- geschaffen. Er habe unser heutiges Afrikabild geschaffen, in dem Afrika das Projektionsfeld für Dunkles, Chaos, Ängste, Wünsche und Geheimnisse wird. Wir können nicht sagen, dass Achebe Conrad überschätzt, aber vielleicht wird gerade hier eine andere Denk- und Vergleichsart sichtbar. Bei Achebe scheint es den pars pro toto zu geben.
„Africa is not fiction. Africa is people, real people“ (S. 157) betont Achebe unermüdlich in mehreren Essays – und mit Recht.
Die Wirklichkeit von Mensch und Volk – men and people. Ob Europäer oder Westler – wir können kaum begreifen, wie traumatisch solches nach mehr als 400 Jahren Sklavenjagden mit mindestens 100 Millionen Opfern von der grausamen Jagd bis zur verpferchten Verschiffung (auf beide Seiten der Ozeane) und kolonialer Missachtung aller menschlichen Rechte der Kolonisierten daherkommt. Pauken- und Trommelschläge zu einer Auferstehung von Achtung und Würde. – Seit diesen permanenten Martyrien gibt es AFRIKA. Afrika ist nun keine Fiktion mehr, sondern im vergossenen Blut und über die ganze Erde zerstreut wirklich. Don’t ask: Where is the bush; asg wa Thiong’o in seinem Werk Decolonizing the Mind zu verstehen begann: Kommt zurück zum Mensch- und Volksein.
Umtaufen allein genügt nicht; neue Namen bedeuten nicht, dass das Einstige nicht geschah, es wird bloss überdeckt.
Nach den afrikanischen Unabhängigkeiten begann man Kolonien, nun Länder, aber auch deren Hauptstädte, umzubenennen oder anderswo neu zu bauen, so Lilongwe ersetzt Zomba in Malawi, oder Dodoma wird ins Zentrum gerückt in Tanzania, genauso wie Abuja in Nigeria oder Jamousoukro in der Elfenbeinküste; aus Salisbury wird Harare, aus Lorenço Marques wird Maputo, usw. Aber selbst Länder bekommen einen neuen Namen: Ghana, Benin, Burkina Faso, Malawi, Zambia oder Zimbabwe. Die Idee dahinter war neben anderen Absichten primär die Vergangenheit hinter sich zu lassen. Viele Afrikaner glauben, dass ein neuer Name das Alte entweder auslöscht oder vergessen macht. Das war also ihre Vergangenheitsbewältigung. Doch wie Abuja vs. Lagos, Dodoma vs. Dar es Salam, oder Jamousoukro vs. Abidjan zeigen, die Bedeutung des alten Orts ging nicht verloren und die neue Stadt (wie in der Bibel oder im Koran) entstand bloss kümmerlich. – Dieser Prozess der Erneuerung durch ein anderes Wort geht weiter; die OAU wurde 2002 in Durban unbenannt in AU, also aus der Organisation afrikanischer Union wurde nun eine afrikanische Union. Als NEPAD wenig brachte, nannte man sie wie verjüngt und erneuert „Neue Partnerschaft zur Entwicklung“ (die Taufe geschah 2002 beim Weltwirtschaftsforum in Davos durch Thabo Mbeki). Also, wenn etwas nicht mehr geht, gib ihm einen anderen Namen: das ist afrikanische Erneuerung und Entwicklung. Genauso passiert Umstrukturierung; Ministerien werden halbiert und unbenannt.
Wenn zwei dasselbe sagen, ist es nicht dasselbe.
Die Polemik von Achebe gegen Conrad (die sich übrigens durch sein ganzes Werk hindurchzieht) macht es klar, dass die meisten Afrikaner (selbst Intellektuelle) westliche Literatur anders aufnehmen als wir. Sehr oft wird unser scheinbarer Realismus zu wörtlich genommen. Im allgemeinen haben „Afrikaner“ es schwer, sowohl unsere Polemik als auch unseren Humor zu verstehen. Genauso umgekehrt: Wir haben wenig Verständnis für afrikanische Mythologie; dabei meine ich nicht nur die alte und traditionelle. Vieles auf diesem Kontinent wird nicht historisch sondern mythisch wahrgenommen. Das gilt vor allem für die Staatsoberhäupter: Von Sundjata oder Chaka will ich gar nicht sprechen; aber es trifft genauso für Nkrumah, Lumumba, Nyerere oder Kaunda als positive Helden oder Mobutu, Bokassa, Idi Amin, Banda und Mugabe als Schurken zu. Gegenüber den jetzt Regierenden ist alles negativ Geäusserte ein Kampf böser Kräfte gegen ihre Macht und somit auch für das betroffene Volk selbst. Die Medien (ausser die vom Staat kontrollierten) gehören in das Reich der Unterwelt. Alles, was danebengeht, muss apokalyptisch verstanden werden: Böse Kräfte wollen, dass diese Welt schneller untergeht; die Afrikaner jedoch möchten etwas vom Leben haben. Man hat sich dauernd zu fragen: Bewegen wir uns im mythischen oder im historischen Bereich? Afrika hat zur Geschichte zu finden; das wäre der Beginn einer afrikanischen Aufklärung. Wie können wir Europäer angeklagt werden, die afrikanische Geschichte umgeschrieben zu haben, wenn es letztlich bloss Mythologie gibt?
Im politisch-wirtschaftlichen Bereich herrscht auf dem afrikanischen Kontinent ein Sündenbockdenken.
Man sieht Schuld oder Versagen nie bei sich; böse Kräfte - entweder von aussen oder von unten – sind an allem schuld. Waren es früher böse Ahnen, sind es heute die Amerikaner oder/und Europäer. Sie deuten das allermeiste als Schwarz gegen Weiss. Beliebt sind ferner die Verschwörungstheorien: Hinter allem, was daneben geht, steht entweder die CIA oder der israelische oder französische Geheimdienst. So haben Kongolesen nie versucht, die Wirren zu Beginn der Unabhängigkeit sachlich zu analysieren, weil für sie von Anfang an feststand, dass es der CIA war, der sowohl Lumumba als auch Hammarskjöld umbrachten. Wohl mögen im frankophonen Afrika hinter jedem Putsch die Franzosen mitgewirkt haben, für eine historische Erklärung genügt das kaum, denn es gibt selbst in der Geschichte keine Monokausalität.
Afrikas Denkweise ist noch dualistischer als diejenige im Westen.
Alles wird sofort im Bereich gut-böse wahrgenommen; Zwischentöne existieren nicht. Es gibt daher selten einen Mittelbereich; meist nur Anfang und Ende. Der Bereich dazwischen ist undefinierbar. Ein Kontinuum gibt es kaum. Es existierte nur ein Kolonialismus, der afrikanische; nur eine Sklaverei, die über den Atlantik. Hüte sich jemand, afrikanischen Regierungen Kolonialismus vorzuwerfen oder Förderung einer neuen Form von Sklaverei wie etwa in Mauretanien oder Mali. Afrikas Denker haben die Differenzierung zu erfinden, damit wir alle weiterkommen in einer Auseinandersetzung, sonst werden wir noch lange in einer sturen, aber fruchtlosen gegenseitigen Beschimpfung verharren.
Für die meisten Afrikaner ist eine Differenzierung sowohl eine Relativierung ihres Menschseins als letztlich auch ein Angriff aufs „Afrikanische“.
Afrikanische Denker befürchten, dass eine Differenzierung nichts anderes als eine versteckte Entschuldigung des europäischen Verbrechens sei. Kein Volk, aber auch kein Kontinent, kann sich derart überheblich geben und historisches Leid als einmalig hinstellen und als mit keinem anderen Leid vergleichbar. Tragisch bleibt alles Leid, aber ob nun das Völkermord war oder nicht, kann wahrlich weder ein quantitatives Zahlenspiel noch ein Auseinanderdifferenzieren von Stamm und Volk bedeuten (Der Europäer setzt gerne den Stamm hin, weil ein Stamm noch kein Volk ist.). Nun nochmals die Frage: Was ist das Afrikanische? Wir kommen zur dual existence zurück, also zur Mehrschichtigkeit und Mehrdeutigkeit; noch etwas kommt hinzu: die Mischung und das Hybride. Und was sagte Achebe? Africa is people und Menschen sind widersprüchlich. Was ist The Other within? Der ivoirische Schriftsteller Ahmadou Kourouma (vor kurzem verstorben) sagte einmal: „Du musst einen Narziss anders als andere zum Streit fordern.“ Ein Malinke Zitat, welches Kourouma uns überlieferte: „Sagen Eure Freunde Euch nicht die Wahrheit, bittet Euren Feind, bezahlt ihn, damit er sie Euch sagt.“ Einer der ganz Grossen, Wole Soyinka, der Literaturnobelpreisträger, weist immer wieder auf das Widersprüchliche im afrikanischen Verhalten hin: „Nichts ist klar, niemals nur einfach.“ - Die Folge aus all den Zitaten: Afrika ist der Differenzierung gegenüber skeptisch und fühlt sich dabei unwohl, wahrscheinlich auch aus Furcht vor der Offenlegung oder Entblössung (fear of exposure); viel lieber hat es das Rätsel.
Wenn immer etwas afrikanischen Menschen nicht passt, wird es kolonial genannt.
Kolonial ist zu einem Fluchwort geworden, hat mit der historischen Realität wenig zu tun. So kommt es vor, wenn die Regierung etwas ihnen nicht Genehmes verordnet, wird es als kolonial verflucht. Wenn etwas politisch oder wirtschaftlich daneben geht, dann ist der Kolonialismus schuld. Man denkt kaum ans historische Geschehen, nein es ist das Heute, in dem einfach alles für Afrikaner kolonial ist. Es tönt um so zynischer, wenn Omar al-Bashir (Sudan) oder Robert Mugabe (Zimbabwe) ihr Versagen dem Kolonialen zuschieben. Kolonial ist also zum Sündenbock geworden.
Für Afrikaner ist Afrika noch immer und ausschliesslich schwarz.
Was Nelson Mandela gelang (sehr eindrücklich im Film Invictus dargestellt), nämlich Schwarze und Weisse in einer Regenbogennation zu vereinen, um so zu akzeptieren, dass Südafrika nicht nur schwarz ist, ist auf dem Kontinent keineswegs selbstverständlich. Rein assoziativ verhält es sich so: Sobald das Wort ‚Afrika’ fällt, denken Afrikaner an schwarz. Es gibt sogar ein paar wenige Fanatiker, die meinen, alle Weissen müssten vom Kontinent südlich der Sahara verwiesen werden. Dass auf diesem Kontinent sowohl Schwarze wie Weisse, Araber und Inder lebten, ist noch längst keine Selbstverständlichkeit. Viele nehmen Afrika als etwas Ewiges, Festes und Unveränderliches wahr, vergessen jedoch dabei die dauernde Migration der Völker – gerade auf diesem Kontinent.. Die grosse Bantu-Wanderung (begann vor etwas mehr als 2000 Jahren) aus dem Inneren des Kongo heraus sowohl gegen Osten nach Rwanda und Uganda als auch gegen Süden durch Angola hindurch und langsam, jedoch spät, nach Simbabwe und Südafrika hinein, können oder wollen Afrikaner sich wegen Mangel historischer Denkweise oder basiert auf mythologischen Verkürzungen weder vorstellen noch rational annehmen.
Afrikas Befreier wollten keine Weissen im Bunde haben, ja, man hat gerade die für ihre Befreiung und Würde kämpfenden Weissen (Europäer) umgebracht.
Gerade aus dem beschriebenen Denken (Dualismus, entweder - oder, nur schwarz ist gut) heraus, glaubten sie sich mit dem Feind zu verbünden oder einen Spion in den Reihen zu haben, falls sie einen Weissen aufgenommen hätten. Eine Ausnahme zwar ist der südafrikanische ANC, doch auch er hatte laufend damit Probleme. Man kann es in den verschiedenen Klagen südafrikanischer Radikaler Mandela gegenüber bis heute hören. Ein Beispiel ist Mandikizela Winnie Mandela, die heute behauptet: „Mandela hat uns im Stich gelassen... Die Wirtschaft gehört noch immer den Weissen.“ Auch Themba H. (im ANC Vorstand) meint: „Der frühere Präsident hat zuviel für die Weissen getan.“ (Er musste für beide Seiten etwas tun, sollte Südafrika nicht auseinanderfallen; dabei hat es die weisse sogar nötiger gehabt, weil sie stur und blockiert war.– Natürlich waren im Grossen und Ganzen the Europeans Kolonialisten; doch es gab stets Ausnahmen. Dasselbe gilt für das gesamte südliche Afrika. Gerade weil keine Differenzierungen gemacht wurden, Verallgemeinerungen das Klischee nicht nur verstärkten, sondern dadurch ununterbrochen am Leben hielten, kam bis heute kein Näherkommen zustande. – Warum soll es eigentlich nicht möglich sein, „Afrikaner“, resp. Nigerianer oder Botswaner zu werden? Umgekehrt ist es möglich, wenn auch schwer. Warum pochen Afrikaner geradezu vehement auf ein Recht, auch Schweizer werden zu können, wenn das Gegenteil (fast) unmöglich ist? Vor kurzem musste ich ansehen, dass eine Botswanerin im Lande nicht mehr aufgenommen und zurückgewiesen wurde, weil sie Schweizerin geworden war.
Afrikanische Menschen sind genauso rassistisch wie andere Menschen auf jedem Kontinent.
Afrikaner sagen, Asiaten würden sie verachten und hassen. Umgekehrt stimmt es genauso. Zu einer langsamen Auflösung solcher fixen Vorstellungen kann es nur durch Schule, Kontakte, Reisen, Essen und Sport kommen. – Vielleicht haben sie die Tendenz rassistischer zu wirken wegen ihrer vorgegeben Sicht von weiss-schwarz ohne Differenzierungen. – Offener und versteckter Rassismus kann kaum vom Westen angesprochen werden. Nur Afrikaner dürfen uns des Rassismus bezichtigen, nicht jedoch umgekehrt; das wäre Beleidigung. Wie aber spricht man das heisse Eisen an? Das Wort „Rassismus“ ist derart ideologisch geworden, dass es längst die Realität nicht mehr trifft.
Es wundert nicht, dass die neuen afrikanischen Staaten kein Minderheiten-Recht kennen.
Weisse mögen rücksichtslos und grausam auf dem Kontinent gewirkt haben, aber sie haben – natürlich auch wegen der möglichen Ausnutzung oder Dienstleistungen – alle Kleinvölker von Ethnologen studieren lassen. Afrikas Völker waren unter verschiedenen Kolonialhüten zusammengehalten. So bestand Nigeria aus mehr denn 400 grösseren und kleineren Völkern, von denen bei der Unabhängigkeit viele vergessen gingen. Die meisten Verfassungen kennen das Minderheitenrecht nicht. So bekamen in Botswana und Südafrika die Khoisan keine Rechte im neuen Staat; ja, sie wurden nicht einmal erwähnt. In der Zone des kongolesischen Urwalds bis an die Ränder von Burundi und Rwanda, bis in den Kamerun hinein, leben die von allen verachteten Pygmäen, die rechtlos ausgerottet werden. – Man kann ruhig behaupten, mit dem Prozess der Unabhängigkeit gelang weder das Nation-building noch eine Koexistenz vieler Völker in einem Staat; eine Folge davon ist denn auch die Missachtung jeglicher Opposition, denn alle sollten gleich und eins sein.
Afrikaner pochen auf Tradition sobald sie ihnen passt; man geht so jeglicher Aufklärung oder Modernisierung aus dem Weg. Eine ehrlich Debatte kommt nicht zustande.
Tradition ist zur Willkür geworden, weil man sie aus dem Zusammenhang reisst. Ein offensichtliches Beispiel ist Südafrikas Präsident Jakob Zuma, der von mehreren Frauen etwa 20 Kinder hat; er beruft sich auf die Zulu-Tradition. Er rechtfertigt als Präsident seines Landes Polygamie. – Ähnliches geschieht in den Sahelstaaten Mali und Niger, bis hinein in den Sudan und Somalia, wo noch immer Mädchenbeschneidung oder Fibulation praktiziert wird; auch hier beruft man sich auf Tradition; noch schlimmer auf Religion oder den Islam, der diese Art der Verstümmelung nie kannte und bloss zuliess. – Genauso gibt es viele Völker, die eine Blutrache kennen, diese noch heute praktizieren, weil es ihre Tradition sei. – Es gibt viele weitere Beispiele, doch alle vergessen, dass sie in einer anderen Zeit leben, dass sie eine Nation werden wollen, in der UNO sind, die Einhaltung von Menschenrechten und die Würde der Frau hoch zu halten versprochen haben. Es gibt nicht nur gute Traditionen; Traditionen verändern sich unter anderen Umständen. Afrika ist noch immer eine sehr starke Männerbastion. Soll diese „Tradition“ etwa für immer weiterbestehen? Somit kommen wir in den Bereich des Zeitverständnisses.
Afrikaner behaupten immer, einen anderen Zeitbegriff zu haben.
Das ist eines der beliebtesten Doppelspiele. Afrikaner – genauso wie wir, doch wir handeln intuitiv auf verschiedenen Ebenen - sind sich nicht bewusst, dass alle Menschen und Kulturen dieser Welt verschiedene Zeitbegriffe haben. Wir wissen heute – und auch das war uns nicht einfach gegeben -, dass wir zur abgemachten Zeit am Arbeitsplatz erscheinen müssen; oder dass die Schule exakt um diese Zeit beginnen muss (ausser man führe wie einst die akademische Zeit wieder ein). Afrikaner würden niemals zu spät zum Chef/Häuptling kommen. Die afrikanische Bürokratie andererseits kennt nicht andere Zeiten, sondern sie lässt Macht fühlen; bei all diesem ewigen Warten geht es um Machtspiele. Wenn auf dem ganzen Kontinent Busse sich nicht an gewisse Abfahrts- und Ankunftszeiten halten, schädigen sie die Volkswirtschaft. Die Bevölkerung wird verarscht und gequält, nur um Macht zu zeigen. Der Mann oder die Frau der Strasse kopieren etwas von dieser Macht, wenn sie zu spät kommen und merken nicht, dass sie sich entweder selbst schaden oder bestrafen. Europäer dürfen das Spiel mit der Zeit nicht durchlassen; in manchen Situationen muss jedoch die Verzögerung als Protest begriffen werden. – Die Unctad hat errechnet, dass Afrika wegen all dieser Zeitspiele und Verspätungen (durch falschen Strassenbau, nicht Erneuerung der Strasse, Busse und Bahnen, Nichterscheinen zu Abmachungen) auf den ganzen Kontinent bezogen jährlich etwa 12 Milliarden Arbeitsstunden verliert. Arbeitsstunden wurden gezählt, hoch gerechnet und geschätzt, darin eingeschlossen sind auch Haushaltsarbeit, stundenlanges Warten auf Busse; bürokratische Verzögerungen, usw.
Afrikaner haben ein anderes Schuld-Verständnis als Europäer.
Ich komme zurück zum mythischen Begreifen, zur Generalisierung und zum Dualismus. Warum klagt Afrika Europa oder den Westen an, an allem Widerwärtigen, das ihm zugestossen ist, schuld zu sein? Warum werden „die Araber“ nicht wenigstens mitangeklagt, denn sie betrieben im Inneren des Kontinents bis1870 die Sklavenjagden und trieben die Eingefangenen an die Küste des Atlantik, von wo erst westliche Schiffe sie nach der Karibik, Brasilien oder Amerika brachten? Warum wird der arabische, resp. Suaheli Sklavenhandel nach Asien, etwa nach Indien und bis nach China, verschwiegen? – Warum soll ich für etwas, das vor 2000 oder 200 Jahren geschah, schuldig sein? Dieser Schuldbegriff ist westlich und geht auf Augustinus und Luther zurück, hat mit dem Begriff der Erbsünde zu tun. Doch wird dieser Begriff sinnlos im globalen Weltgeschehen, dort nämlich, wo man vor 600 Jahren noch gar nicht wusste, dass es dieses Land oder diese Völker gab. Die Christen bewegen sich natürlich in ihrem Schuldfeld des Alten und Neuen Testaments, mit den Schuldgefühlen am Tod Jesu, mit der nicht bewältigten Judenfrage und später der niemals bewältigten Kreuzfahrertragödie und der sinnlosen Auseinandersetzung mit dem Islam, indem man ihn bloss beSCHULDigte. – Kurz und gut: Solches kann einfach nicht tale quale auf Afrika übertragen werden. Niemand bezweifelt die Verbrechen und Grausamkeiten der Sklaverei und des Kolonialismus; doch müssen auch diese historisch und nicht unmittelbar moralisch (typisch christlich) betrachtet werden. Zwischen Geschichte und Moral gibt es erhebliche Unterschiede. Es sei die Aussage gewagt, dass selbst aus verbrecherischen Taten positive Seiteneffekte hervorgehen können. Man kann es vielleicht in der Betrachtung aus grösserer Distanz verstehen: Alexanders des Grossen Kriegszüge in den Osten waren grausam, aber sie haben neue, positive Dimensionen in die Geschichte der Menschheit hineingebracht. Oder nehmen wir die Eroberung der Germanen durch die Römer: Aus viel Grausamkeit erwuchs viel Neues, und was wären wir heute ohne diese Grundlage? Wollen wir etwa behaupten, unsere Existenz sei auf Verbrechen aufgebaut? Nein. So geht es einfach nicht. – Damit käme ich auch zur Wiedergutmachung und der Sühne. Das ist doch eine lächerliche moderne kapitalistische Grundhaltung, der sich clever auch manche Afrikaner anschliessen, solange es Geld gibt. Diese ganzen Kompensationsforderungen – wenn sie auch legitim sein sollen – sind nichts anderes als Erpressungen. Es gibt keine Stellvertretung bei der Sühne der Schuld eines anderen. – Wir müssen aus dem mythisch, mystisch, religiös Verbrämten heraus und zu einer historischen Aufarbeitung kommen. Es geht um Strukturen, niemals um Personen; Strukturen gehören nicht zur Kategorie der Sünde. Personen bestrafen wäre ungerecht. Menschen – wir sahen es bei Schweitzer – leben in einem Zeitgeist, der sehr oft blind machen kann. – Bedauern, Betroffenheit, Mitleid reichen niemals, um Historisches zu bearbeiten. Ich kann bedauern, aber das verändert nichts; Schuldgefühle mit mir herumtragen, mag eine gewisse vage Nächstenliebe hervorrufen, woraus dann diese Opfer-Gaben und diese Hilfe zu einem „Armen“ kommen. Man begreift, dass jede finanzielle Kompensation auch den Bezahlten erniedrigt; daher verändert sich das Verhältnis zu afrikanischen Menschen nicht; höchstens so viel, dass aus Kindern Bettler werden.
Die afrikanische Verschleierung hat sehr viel mit Zukunftsängsten zu tun.
Afrika schaut zurück und feiert die Gegenwart; die Zukunft jedoch bereitet Angst. Vielleicht liegt das mit der Bantusprache zusammen, die unser westliches Futurum nicht kennt. Vergangenheit und Gegenwart sind lebensnotwendig, nicht jedoch die Zukunft. Warum? Nichts ist linear, bloss immer dasselbe, also was soll man sich um das weit Entfernte kümmern. Enjera heisst es in Nord und Süd, bei Arabern wie Bantu. Einfach so, lass es kommen, schreck es nicht auf, lass es kommen. – Und wie erklärt man sich das heutige Chaos? Einfach. Es ist die Wiederkehr des Absurden; ein Karussell von Behauptungen, Forderungen und Spielregeln. – Die Zukunft kommt, wenn ich nicht an sie denke. Man soll diese Zukunft nicht stören, indem man dazwischendenkt. – Utopie kennt der Afrikaner im Wortschatz nicht. Idyllen gegenüber ist er - letztlich doch als Realist - skeptisch, denn er mag eigentlich Flucht nicht. Ein Paradoxon? Mag sein, aber man verstehe alles als ein Sowohl-als-auch. – Afrika lebt von Kettenreaktionen der verschiedenen Wiederkehren.
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Im März 2010, Dr. Al Imfeld